9. Opfer
Die historische Forschung ist sich darin einig, dass
im Zuge der Hexenverfolgungen europaweit etwa 60.000 Menschen hingerichtet
worden sind. Die Zahl von neun Millionen Opfern, die in einer breiteren
Öffentlichkeit und auch in den Medien immer wieder auftaucht,
ist längst widerlegt. Mehr noch: Die "Neun-Millionen-Theorie"
(Behringer) ist als Konstrukt zur Untermauerung der unterschiedlichsten
politischen Interessen und weltanschaulichen Standpunkte nachgewiesen
worden. Deren Spektrum reicht von den protestantischen Theologen
des 19. Jahrhunderts über nationalsozialistische Ideologen
bis hin zu esoterisch-feministischen Bewegungen der jüngeren
Vergangenheit.
Diese quantitative Korrektur reduziert die Bedeutung
der Hexenverfolgungen indes keineswegs, im Gegenteil: Der Historiker
Wolfgang Reinhard hat kürzlich hervorgehoben, dass derartige
Präzisierungen die Schuld der Täter keineswegs schmälerten,
wohl aber dem "legitimatorischen Missbrauch" der Untaten
Einhalt zu gebieten vermöchten. Reinhard nennt - neben der
Zahl der hingerichteten Hexen - weitere Beispiele für Opferzahlen,
die die aktuelle Sicht auf die Geschichte mit bestimmen. So habe
Wilhelm von Oranien die zwölf Millionen ermordeten Indianer
des spanischen Missionars Bartolomé de las Casas "großzügig"
auf 20 Millionen aufgerundet. Diese Zahl sei noch immer ebenso gegenwärtig
wie die der angeblich 15 Millionen nach Amerika verkauften afrikanischen
Sklaven, die inzwischen immerhin auf knapp zehn Millionen reduziert
worden sei. Das "delegitimatorische Geschäft" der
kritischen Geschichtswissenschaft habe es "nicht selten mit
solchen frei erfundenen Zahlen zu tun, die aus dubiosen Quellen
stammen und von der historischen Literatur ungeprüft weitergegeben
werden". Die Genauigkeit historischer Forschung kann indes
davor bewahren, Geschichte als Legitimation für weltanschauliche
Interessen und Standpunkte zu instrumentalisieren.
Die Zahl von 60.000 Todesopfern ist und bleibt eine
erschreckende Zahl. Sie ist zugleich aber auch eine abstrakte Zahl,
hinter der sich 60.000 Einzelschicksale verbergen, über die
wir kaum etwas wissen; denn viele der stattgefundenen Hexereiverfahren
lassen sich nur mehr durch dürre Rechnungseinträge oder
summarische chronikalische Angaben nachweisen. Die eigentlichen
Prozessakten sind im Laufe der Zeit verschwunden oder auch absichtlich
vernichtet worden. Darüber hinaus sind einige Akten nur als
Fragmente überliefert. Für die meisten Gebiete können
deshalb nur grobe Schätzungen über das tatsächliche
Ausmaß der Verfolgungen gemacht werden. So starben im Herzogtum
Lothringen wohl mehr als 2.000 Menschen den Verbrennungstod.
Ähnlich hohe Hinrichtungszahlen müssen für
das Herzogtum Luxemburg angenommen werden. In Kurtrier, wo wahrscheinlich
alle Hexenprozessakten nach 1652 auf geheimen Befehl des Trierer
Kurfürsten systematisch vernichtet wurden, lassen sich für
die Jahre zwischen 1487 und 1660 nur mehr etwa 800 Prozesse sicher
nachweisen, doch auch hier muss die Opferzahl deutlich höher
gelegen haben. Im Übrigen blenden alle diese Zahlen völlig
das Schicksal jener Menschen aus, die - oft zu Krüppeln gefoltert
- ungeständig die Prozesse überstanden oder die zu lebenslanger
Verbannung verurteilt wurden.
In einigen wenigen Fällen aber sind die Aufzeichnungen
fast lückenlos, haben die Hexenjäger doch selbst geradezu
minutiös Buch über ihre Aktivitäten geführt,
wie es der Amtmann und Hexenrichter Claudius Musiel tat. Das wohl
auf seine Initiative hin erstellte Hexenregister, in dem ganz bürokratisch
die Hingerichteten und deren Komplizennennungen zur Ausweitung der
Verfahren bilanziert wurden, überliefert heute - entgegen den
zeitgenössischen Gebrauchsabsichten - wenigstens die Namen
der Menschen, die den Hexenverfolgungen zum Opfer fielen und entreißt
ihr Schicksal damit zumindest ansatzweise dem Dunkel der Geschichte.
RB/RV
Literatur: In
diesem Band: Voltmer (Abläufe), Voltmer/Irsigler; Reinhard
2001; Freytag 2000b; Behringer 1998; Voltmer/Weisenstein 1996
(Zum
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