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Die Erfindung neuer Kommunikationstechniken
wie Telegraph, Telephon und Phonograph veränderte im
19. Jahrhundert die Wahrnehmung von Zeit und Raum. Neben dem
Massentransportmittel Eisenbahn setzten im 20. Jahrhundert
Automobil und Flugzeug neue Maßstäbe für die
Erfahrung von Geschwindigkeit.
Neue Meß- und Abbildungstechniken der
Naturwissenschaften ließen unsichtbare physiologische
und physikalische Vorgänge erstmals sichtbar und abbildbar
erscheinen. Die Untersuchungen von elektrischen Erscheinungen
transformierten die gegenständliche Wahrnehmung in einen
Kosmos von Wellen und Schwingungen.
In der Kunst entwickelte sich eine Bildsprache,
die auf die neuen Erfahrungsmöglichkeiten reagierte.
Die grafischen sowie fotografischen Aufzeichnungsverfahren
der naturwissenschaftlichen Untersuchungen schufen ein Bild-
und Motivrepertoire für die Künstler der Avantgarde.
Bewegung und Geschwindigkeit wurden in der Malerei durch Aufgabe
der Zentralperspektive und das Zergliedern von Gegenständen
in Farb- und Formflächen veranschaulicht.
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"Alles bewegt sich, alles vollzieht sich
mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals
unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet
unaufhörlich."
(Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi
Russolo, Giacomo Balla, Gino Severini, Die futuristische Malerei
- Technisches Manifest, 1910)
"Neben die Welt der Naturgegebenheiten
tritt in unseren Jahrhunderten in einem überwältigenden
Ausmaß ein dynamikdurchpulster Metakosmos, die technische
Welt. [...]
Die Lüfte sind von Maschinenvögeln durchpflügt,
Schnellfahrzeuge gleiten über Land und Meer, und die
menschliche Stimme kennt keine Grenze des Raumes mehr."
(Friedrich Dessauer, Philosophie der Technik,
1927)
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Giacomo
Balla (Turin 1871 - 1958 Rom)
Automobil in voller Fahrt (Automobile
in corsa), 1913
Mischtechnik auf Karton, 73 x 104
Privatsammlung
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1910
unterzeichnete Giacomo Balla zusammen mit Umberto Boccioni,
Carlo Carrà, Luigi Russolo und Gino Severini das Manifest
der futuristischen Maler und Die futuristische Malerei - Technisches
Manifest. Die Futuristen forderten die Revolutionierung der
Künste und eine alles umfassende Neukonstruktion des Menschen
und seiner Lebenswelten. Im Mittelpunkt der futuristischen Idee
stand die Bewegung und die aufgrund neuer Transport- und Kommunikationssysteme
veränderte Wahrnehmung von Geschwindigkeit.
In dem Bild Automobil in voller Fahrt untersucht Balla die malerischen
Möglichkeiten, die gegenstandslose Bewegung anhand der
Geschwindigkeitsdarstellung eines fahrenden Autos umzusetzen.
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Die motorischen Antriebsenergien werden durch
ein Raster von strahlenförmigen Diagonalen auf die Bildfläche
übertragen und durch transparent aufgetragene kreis-
und spiralförmige Farbwirbel rhythmisiert. Balla versucht
hier das Prinzip des Dynamismus - eines der wesentlichen Elemente
der futuristischen Malerei - bildlich umzusetzen. Analog zur
naturwissenschaftlichen Erforschung von Licht-, Wärme-
und Bewegungserscheinungen, besaß für die Futuristen
jeder Gegenstand ein spezifisches Energie- und Kraftpotential,
das sich aus seiner organischen Substanz - Farbe, Form, Konsistenz
und Temperatur - ergab. Bildliche Anregungen für die
Darstellung von diesen Energiefeldern bzw. Kraftlinien lassen
sich in fotografischen Aufnahmen der Luftbewegungen um ein
fliegendes Gewehrprojektil erkennen. In den dort zu erkennenden
hyper- und parabolischen Schockwellen sowie Keilformen und
Luftverquirlungen haben die Futuristen ein Äquivalent
für die Darstellung von Geschwindigkeit gesehen und diese
entsprechend als bildnerisches Mittel eingesetzt. BS
Baumgarth
1966; Schröder 1984, S. 36-59; Ausst. Kat. Mannheim u.
a. 1985; Ausst. Kat. Venedig 1986; Schmidt-Bergmann 1993;
Ausst. Kat. Hannover 2001, Nr. 22.
Bibliographie
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Otto
Möller (Schmiedefeld 1893 - 1964 Berlin)
Straßenlärm, 1920
Öl auf Leinwand, 62 x 75,5
Berlin, Berlinische Galerie - Landesmuseum für Moderne
Kunst, Photographie und Architektur, Inv. BG-M 4060/88 |
Während
die Arbeiten von Otto Möller aus den 1910er Jahren im Spannungsfeld
von Impressionismus und Expressionismus entstanden, zeigt sich
in den Werken zu Beginn der 20er Jahre eine stärkere Orientierung
an Bildkonzeptionen der Futuristen, Kubisten, an den Collagen
der Dadaisten wie auch an der Malerei Robert Delaunays.
In seiner chaotisch anmutenden Komposition Straßenlärm
zerlegt Möller die Szenerie der Großstadt in einzelne
zeichenhafte Bildelemente und voneinander isolierte Farbflächen.
Großformatig tauchen die Buchstaben A und Z auf, die neben
der Assoziation zum Jazz auf die Großstadt als Lebenswelt
hinweisen, in der von A bis Z alles zu haben ist. Durch Überblendung
von spitzwinkligen, teilweise durchscheinenden Farbflächen
zwischen den Häuserfassaden wird das Einstützen derselben
verhindert, gleichzeitig aber auch ihre schwankende Bewegung
noch potenziert.
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Nicht die Schilderung eines konkreten
Ortes, sondern die bildliche Umsetzung von Bewegung, Lärm,
Unordnung ist Anliegen der Darstellung. Die dynamische und
lärmende Wirkung erreicht Möller durch Aufgabe der
Zentralperspektive und Konstruktion mehrerer Bildebenen. Splitternd
und knirschend fordert die emphatische Implosion der Darstellung
die Wahrnehmung des Betrachters heraus, spricht Augen und
Ohren an. Indem Möller die Technik des Überblendens
einsetzt, entsteht eine Bildersturz ähnliche Komposition,
die an den Querschnittfilm von Weimar erinnert und sich später
auch in Walter Rutmanns Großstadtsinfonie wiederfindet.
BS
Pfefferkorn
1974; Galerie Nierendorf 1986, Abb. Nr. 99; Ausst. Kat. Berlin
1987, S. 329.
Bibliographie
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Ljubov
Sergejvna Popova (Ivanovskoje 1889 - 1924 Moskau)
Raum-Kraft-Konstruktion, 1921
Öl auf Sperrholz, 83,5 x 64,5
Moskau, Staatliche Tretjakow Galerie
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Nach
der Oktoberrevolution, die eine politisch-soziale Umwälzung
in Russland eingeleitet hatte, schien die Vision einer neuen
Kunst in einer neuen Gesellschaft greifbar nahe zu sein. Die
Bilder von Ljubov Popova stifteten eine neue Einheit von Kunst,
Wissenschaft und Technik. Sie nahm die futuristische und kubistische
Malerei als Herausforderung an, indem sie sich konsequent mit
den bildnerischen Verfahren einer reduktiven Analyse von Formen
auseinander setzte. 1919 begann sie Bilder zu malen, die - Raum-Kraft-Konstruktionen
genannt - sich kreuzende Linien in ein Spannungsverhältnis
zum Raum setzten. In dem Gemälde von 1921 setzt Popova
Künstlichkeit und Konstruktion konsequent neben die erfahrene
Materialität der Realität. Im Bild rückt die
Reflexion an sich, der bewusste Einsatz jedes Teils, in den
Vordergrund, der die Konstruktion transparent macht und die
Elemente um so plastischer hervortreten lässt, die den
Bildraum bestimmen: Formen, Farben, Perspektiven und Kraftlinien.
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Durch die grau-schwarzen Flächen, die wie
Schatten gesetzt sind, gewinnt das Bild kontinuierlich an
Tiefe, die aber zugleich in ihrer Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit
durch die planparallelen sowie die sich kreuzenden Linien
gebrochen wird.
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse in den Naturwissenschaften
eröffnete sich die Möglichkeit, sich von einer sichtbaren
Erscheinung zu lösen und zu grundsätzlicheren Fragen
nach dem Verhältnis von Individuum und Welt vorzudringen.
Mit der Auflösung des Materie-Begriffs war es auch um
die Glaubwürdigkeit und Aussagekraft äußerer
Gegenstandsformen geschehen. Der Wechsel von materiell-statischer
zu dynamisch-energetischer Perspektive lag im Verzicht auf
die Dokumentation und Bearbeitung äußerer, sekundärer
Formen. Lediglich ein sichtbar belassenes Konstruktionsskelett
als asymmetrischer Funktionalismus bleibt im Bild bestehen.
BS
Peck/Wie
1982; Ausst. Kat. New York u. a. 1991; Ausst. Kat Berlin 1997;
Ausst. Kat. Berlin u. a. 1999.
Bibliographie
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Edmond
van Dooren (Antwerpen 1896 - 1965 Antwerpen)
Maschinenmenschen (Kubofuturistische Komposition),
um 1925/26
Öl auf Leinwand, 85 x 100
Sammlung Hoh, Reg. No. 185
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Stilistisch
reicht das Spektrum der Arbeiten Edmond van Doorens von abstrakter
bis zu visionärer, figurativ-realistischer Malerei. Besonders
ausgeprägt ist die Orientierung an der holländischen
Gruppe "de Stijl", am italienischen Futurismus sowie
der Einfluss der Malerei Robert Delaunays.
Die Komposition Maschinenmenschen bewegt sich auf der Grenze
zwischen Abstraktion und Figuration. Im Zentrum steht eine verdichtete
Struktur aus Dreiecken und Pfeilformen, deren Flächen in
kristalline Konturen aufgebrochen und ineinander verschränkt
zusammengefügt sind. Im Hintergrund verlieren sich diese
Formen durch Verlust der Tiefenschärfe ins Schemenhafte,
ähnlich einer optischen Darstellung eines akustischen Nachhalls
oder einer verklingenden Schwingung. Die raumgreifende Struktur
erinnert an den agitativen Gestus der Bilder der italienischen
Futuristen. |
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Aus der kompakten Splitterkonstruktion
gehen vereinzelt statuenhafte roboter- bzw. kriegerähnliche
Köpfe als Metamorphose hervor.
Der Regisseur Fritz Lang schuf in seinem Film Metropolis,
der im Januar 1927 uraufgeführt wurde, mit der Figur
Maria/Futura eine sehr ähnliche Gestalt. Der Erfinder
Rotwang fängt Maria und kreiert in seinem Laboratorium
nach ihrem Ebenbild den künstlichen Maschinenmenschen.
Ähnlich wie bei Lang, steht die von van Dooren angedeutete
Erschaffung eines Maschinenmenschen bzw. -kriegers nach dem
Ebenbild des Menschen nicht im Zusammenhang mit maschinellen
Arbeits- und Produktionsprozessen, sondern stellt das Gegenstück
der Roboterwelt dar und rekurriert auf den tradierten Topos
vom Künstler als schöpferischem Genie. BS
Aker
1930; Ausst. Kat. Nürnberg 1998, Nr. 16.
Bibliographie
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DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
Eine
Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums
31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau
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Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link
(www.berlin.de)
Öffnungszeiten
täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr
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Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof
Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt:
4,-€
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