Neben England entwickelte sich Belgien zur zweiten europäischen Industriemacht. Karl Marx galt das Land als das "Paradies des kontinentalen Kapitalismus". Das ungeheure Wachstum beschränkte sich auf die wallonischen Kohlegebiete im Maastal. Das Borinage und die Gegend um Charleroi wurden zu dicht besiedelten Industrieregionen. Mit der Industrialisierung ging die Proletarisierung und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten einher. Die frühen neunziger Jahre wurden durch umfangreiche Streikbewegungen geprägt.

Seit Mitte der achtziger Jahre thematisierten Schriftsteller die soziale Realität in den belgischen Industrieregionen. Auch bildende Künstler entdeckten das ‚schwarze Land' und machten die Gestalten der Arbeiter zum Thema. Sie stehen symbolisch für die Hoffnung auf Erneuerung der Zivilisation durch einfache, unverdorbene Werte.

 

"Sie [die Arbeiter ] sind mir lieb. Ich habe in ihrer Umgebung gelebt und was ich von ihnen gesehen und gehört habe, hat in meinem Herzen einen Grund für Mitgefühl, Vertrauen, und Bewunderung gelegt.
In ihnen ist all meine Hoffnung, denn schon lange bin ich müde und gelangweilt von unserer alten und lächerlichen Zivilisation".

(Constantin Meunier)

 

 

 

 

 

Robert Koehler (Hamburg 1850 - 1917 Milwaukee)
Der Streik, 1886
Öl auf Leinwand, 181,6 x 275,6
Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. 1990/2920

Obwohl die Landschaft in dem großformatigen Gemälde des Deutsch-Amerikaners Robert Koehler ausschließlich von der Industrie geprägt ist, tritt sie in den Hintergrund, denn die Belange der Arbeiter sind hier das vordringliche Thema. Die aufgebrachte Menge wird von einem Sprecher angeführt, der sich bereits vor dem Aufgang zu der Villa des Unternehmers befindet und mit einer weit ausholenden Geste seinen Protest vorbringt. Dass die Situation sehr spannungsgeladen ist und jederzeit in Aggressivität umschlagen kann, zeigt der Mann im Vordergrund, der sich gerade nach einem Stein bückt. Zur Verdeutlichung der schlechten Situation der Arbeiter steht eine Frau mit ihren beiden Kindern in der linken Bildecke vor der Villa.

Das Gemälde ist in München entstanden, wo Koehler von 1879 bis 1892 lebte. Den Anstoß zu diesem Bildthema erhielt er nach eigener Aussage aufgrund des Streiks der Eisenbahnarbeiter in Pittsburgh im Jahre 1877. Weitere Eindrücke sammelte Koehler bei Fabrikbesuchen in Belgien und Streiks in England. Die Darstellung zeigt somit keine bestimmte Begebenheit, die sich lokalisieren und datieren ließe, sondern eine allgemeingültige Charakterisierung eines Arbeiteraufstandes. Als Streik in der Gegend von Charleroi (La grève au pays de Charleroi) fand das Werk allerdings mit Bezug auf ein konkretes Ereignis in Belgien Eingang in die Reproduktionsgraphik, über die es eine außerordentlich weite Verbreitung erhielt. Auch das Bild selbst firmierte lange Zeit unter demselben Titel. 1885 war es zur Gründung der belgischen Arbeiterpartei gekommen, das Jahr 1886 wurde von blutigen Aufständen und Streikwellen erschüttert. Das Bild wurde zuerst in New York ausgestellt, wo es wegen seiner Aktualität große Aufmerksamkeit erregte. BB

The New York Times vom 4. April 1886, S. 4; Ausst. Kat. Berlin 1992, Nr. 70, S. 60; Specht 1992, S. 157f.; Slg. Kat. Berlin 1997, Bd. 2, S. 467; Türk 2000, S. 212f., Abb. 802.
Bibliographie

 

Maximilien Luce (Paris 1858 - 1941 Paris)
Stahlwerk (L'aciérie), 1895
Öl auf Leinwand, 116,0 x 89,0
Genf, Petit Palais, Musée d'Art Moderne, Inv. 8346
Luce, der enge künstlerische Beziehungen nach Belgien pflegte und in Brüssel an Ausstellungen der avantgardistischen Künstlergruppen "Libre Esthétique" und "Les Vingt" beteiligt war, reiste 1895 zusammen mit dem belgischen Maler Theo van Rysselberghe in das Industrierevier Borinage. Er wohnte bei dem Schwiegersohn Constantin Meuniers, dessen Werk er sehr bewunderte. Der belgische Dichter Emile Verhaeren hatte Luce bereits von der Gegend um Charleroi berichtet. An seinen Künstlerfreund Henri-Edmond Cross, wie er selbst der divisionistischen Farbzerlegung verpflichtet, schrieb er: "Je ne sais si vous connaissez ce pays, mais je m'en faisais pas une idée. Les environs de Paris au point de vue industriel ne sont rien, Saint-Denis n'est que de la blague; quel caractère, mon vieux. Dame, quant à la couleur, elle est à peu près absente. Je ne vois guère que l'application de la division, aussi je me laisse aller à mon instinct."Wenngleich Luce, selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, sich immer für Themen der Arbeit interessiert hatte und politisch lebenslang sozialistischen Kreisen verbunden blieb, geht es in den Werken nicht um eine Anklage der Verhältnisse.

"Ce pays m'épouvante ... C'est tellement terrible et beau que je doute de rendre ce que je vois!", berichtete er Cross. Die Erhabenheit des Themas faszinierte ihn, die Motive schienen ihm darüber hinaus auch ganz besonders für seine stilistischen Interessen geeignet.
Im Stahlwerk, wo im Hintergrund das Spektakel des Abgießens stattfindet, schauen auch die nicht beteiligten Arbeiter dem Geschehen zu. Durch den rahmenden Bogen der Fabrikarchitektur wird die Arbeit im Hintergrund gleichsam zum Bild im Bild, das die Arbeiter von außen fasziniert betrachten. SB

Cazeau 1982, S. 85-87; Baudson 1998, S. 20f.
Bibliographie

 

 

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DIE ZWEITE SCHÖPFUNG-
Bilder der industriellen Welt vom
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums


31. Juli bis 21 Oktober 2002
im Martin-Gropius-Bau

Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Tel.: 030/ 25486-0
Stadtplan-Link (www.berlin.de)


Öffnungszeiten

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

Verkehrsverbindungen
S- und U-Bahn Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof
Bus 200, 248, 348 Haltestelle Potsdamer Platz
Bus 129 Haltestelle Anhalter Bahnhof

Eintritt
6 ,- € incl. Audioführung, ermäßigt: 4,-€