Kaufleute, Konsuln,
Kapitäne:
Frühe deutsche Wirtschaftsinteressen in China
von Bernd Eberstein
Im September 1731 lief
die unter preußischer Flagge segelnde »Apollon«, »aus Ost Indien
und zwar aus China gekommen«, in Hamburg ein. Kaum hatte sie hier
Anker geworfen, versuchten der britische und der holländische Gesandte
in Hamburg, »die Sequestration oder Arrestierung des Schiffes und
dessen mitgebrachten Güthern« - Tee und Porzellan - zu erwirken,
indem sie darauf hinwiesen, »einmal daß solches Schiff unter keiner
Protection sich befinde, und zweitens daß überhaupt Schiffe aus
Ost Indien nicht unmittelbar auf die Elbe und an diese Stadt kommen,
noch allhier die Güther herbringen dürften«. Dieses Ansinnen jedoch
wurde vom Magistrat der Stadt zurückgewiesen, unter Hinweis auf
die »Freyheit des hiesigen zum Heiligen Römischen Reiche gehörigen
Hafens, und seiner Schiffahrt und Handlung, solchen Gütern und Schiffen,
sie kommen her wo sie wollen, einen freyen Zugang zu verstatten«.
Zur Vorbereitung der Auktion wurde die Fracht im Einbeckischen Hause
ausgestellt: »Zehen Tage vor der Verkaufung waren die Magazins offen,
und ein jeder der wollte, konnte auf die Laden gehen, und die Kisten
Tee, welche alle eröffnet und numeriret waren, besehen, beriechen
und Proben mitnehmen.«
Dann wurde die gesamte Ladung versteigert, wobei sie, wie ausdrücklich
betont wird, einen sehr guten Preis erzielte.1
Die »Apollon« war - soweit sich heute belegen läßt - das erste deutsche
Schiff, das sich auf die lange Reise nach China gemacht hatte. Trotz
ihres Erfolgs lassen sich in der Frühzeit des Chinahandels nur sehr
vereinzelt Schiffe nachweisen, die von deutschen Häfen nach China
fuhren. China war ein sehr fernes, fremdes Land - für die Deutschen
viel länger als für die Bürger der meisten europäischen Nachbarstaaten.
Wohl verfügte man über Berichte, sammelte Porzellan und trank Tee,
Seide war seit langer Zeit beliebt. Regelmäßige Handelsexpeditionen
ins Reich der Mitte lagen aber jenseits der Möglichkeiten der deutschen
Fürstentümer, Kleinstaaten und freien Städte. Sie waren zunächst
den Staaten vorbehalten, die mit mächtigen privilegierten Kompanien
den Welthandel begründeten, allen voran die Niederlande mit der
Vereenigte Oostindische Compagnie und England mit der East India
Company.
Mehrfach wurde zu dieser Zeit auch in Deutschland versucht, die
Schiffahrt nach Ostasien auf eine gesicherte Basis zu stellen und
durch eigene Handelskompanien zu protegieren, stets aber ohne wirklichen
Erfolg. Das änderte sich erst mit Friedrich dem Großen. Im Jahre
1750 gründete er die Königlich Preußisch-Asiatische Handlungs-Compagnie
von Emden auf China, um den Überseehandel Preußens zu fördern und
zugleich den preußischen Anspruch auf eine Führungsrolle innerhalb
Deutschlands im Bereich des Außenhandels zu betonen. Zwei Jahre
später schickte die Kompanie die Fregatte »König von Preußen« nach
China. Offenbar wurde sie in Kanton freundlich empfangen, denn in
einem Bericht über die Reise heißt es: »Die Sinesen, die vorhero
schon vieles von den Preussen gehöret, haben sich gefreuet, diese
Nation auch kennen zu lernen, auch ihr sogleich alle Freiheit zugestanden,
so ander Nationes dort geniessen.«2
Die Expedition war vielversprechend, bald folgten weitere Schiffe,
deren Erfolg gleichfalls nicht viel zu wünschen übrigließ. Doch
nachdem insgesamt etwa 14 Schiffe nach China gefahren waren, schlief
das Unternehmen der Asiatischen Handlungs-Compagnie bald wieder
ein und wurde während des Siebenjährigen Krieges schließlich liquidiert.
In den folgenden Jahren unternahm Friedrich der Große weitere Versuche,
eine starke Handelskompanie zu gründen, zuletzt 1772 die Königliche
Preußische Seehandlungs Societät. Deren Schiffe segelten jedoch
erst sehr viel später und nur vereinzelt nach Kanton. Insgesamt
also konnten diese frühen Ausfahrten nie auch nur annähernd die
große historische Bedeutung der niederländischen oder englischen
Handelskompanien erreichen. Sie erwiesen sich als nicht viel mehr
denn eine maritime Laune eines vornehmlich auf festländische Interessen
konzentrierten Staates. So besteht ihre Bedeutung vor allem darin,
daß sie zum Umfang der höfischen Porzellansammlungen und zur Beliebtheit
des Tees in den Bürgerhäusern beitrugen. Auch die Versuche schlesischer
und sächsischer Tuchhändler, in diesen Jahrzehnten auf dem Landwege
über Rußland Handelsbeziehungen nach China herzustellen, hatten
nur kurzzeitig Erfolg.
Hamburg, Altona und
das »Gelbflaggen-Land«
Weitere Impulse für die Entwicklung gingen von der jahrhundertealten
Handelskonkurrenz zwischen Hamburg und Kopenhagen aus. Hamburg sah
sich im 17. und 18. Jahrhundert in den dänischen Chinahandel einbezogen,
denn »an der Grenze zu Deutschland liegt der Hafen Altona, der in
heftigem Wettstreit mit dem Hamburger Hafen steht«.3
Im Jahre 1728 wurde unter Friedrich IV. in Altona die Gründung einer
Ostindischen Handelskompanie vorbereitet; das Unternehmen wurde
indes von Holland, England und Frankreich erfolgreich verhindert.
Erst 1732 unterzeichnete Christian IV. in Kopenhagen die Charter
für die Dänische Asiatische Kompanie (Dansk Asiatisk Compagni),
mit der der bereits seit dem 17. Jahrhundert bestehende dänische
Chinahandel einen deutlichen Aufschwung nahm; 1772 und 1792 wurde
die Charter jeweils erneuert.
Die Kompanie schickte jährlich etwa zwei - nach einer chinesischen
Quelle sogar neun - Schiffe aus Dänemark, dem »Gelbflaggen-Land«
(Huangqi), nach Kanton, um dort Handel zu treiben; bis 1807 waren
es 124 Schiffe.4 Altona gehörte zu den
Zentren der dänischen Schiffahrt; hinter manchem Schiff, das unter
dänischer Flagge aus Altona und anderen dänischen Städten, wie Schleswig
und Appenrade, nach China fuhr, standen Hamburger Kapital und die
internationalen Handelsbeziehungen der Hansestadt. Das zeigte sich,
als 1864 Schleswig-Holstein und Altona nach der Niederlage Dänemarks
im Krieg gegen Preußen unter deutsche Flagge kamen: Der dänische
Chinahandel ging schlagartig um über 60 Prozent zurück. Zwar hielt
die Asiatische Kompanie das Monopol auf den dänischen Chinahandel;
doch dadurch war der private Handel nicht ganz ausgeschlossen, er
wurde lediglich mit Abgaben an den Staat und die Kompanie belastet.
Leider sind wir über den privaten Ostasienhandel nur sehr lückenhaft
informiert, da kaum Zeugnisse die Zeiten überdauert haben. Die Archive
der Asiatischen Kompanie dagegen sind fast vollständig erhalten;
so entsteht der Eindruck, daß der dänische Chinahandel fast ausschließlich
auf Schiffen der Kompanie erfolgte. Sicher aber hatte der private
Handel ebenfalls einen erheblichen Umfang. Wenn sich auch die meisten
Schiffe von Kopenhagen aus auf die Reise machten, gab es doch einige,
die von Altona abfuhren. Die »Mühlenbeck« des Altonaer Kaufmanns
Diederich Willinck zum Beispiel, geführt von Kapitän M. Moederoe,
verließ Altona im November 1782, um nach Kanton oder Ostindien zu
fahren; doch das Schiff havarierte und mußte London anlaufen, wo
die Expedition beendet wurde. Es ist aber durchaus möglich, daß
schon im 18. Jahrhundert Eigner, Kapitäne und Mannschaften zumindest
einiger der unter dänischer Flagge fahrenden Schiffe aus Altona
und Hamburg kamen und daß diese auch nach Kanton gelangten.5
Auch auf andere Weise war Hamburg am dänischen Chinahandel beteiligt.
Als in den 1760er Jahren der für den Handel notwendige Bedarf der
Asiatischen Kompanie an Silber in den Sog der zerrütteten dänischen
Finanzen geriet - die Ladung der nach Ostasien fahrenden Schiffe
bestand fast ausschließlich aus Silbergeld -, waren es Hamburger
Kaufleute und Bankiers, die die Kompanie mehrmals mit hohen Krediten
versorgten. 1762 erzwang Dänemark sogar unter Androhung von Waffengewalt
eine Hamburger Anleihe von 1 Million Mark Banco. Weitere Kredite
wurden durch Heinrich Carl von Schimmelmann vermittelt, als Kommerzintendant
und Berater des Königs verantwortlich für die Sanierung der Finanzen;
teilweise traten er und seine Hamburger Firma Schimmelmann & Co.
auch direkt als Kreditgeber auf.6
»La Constance«
Ausgerechnet aus der Zeit der Französischen Revolution haben wir
weitere Nachrichten. 1792 wurden in Paris die Tuilerien gestürmt,
Ludwig XVI. wurde gefangengenommen. Der Koalitionskrieg gegen Frankreich
begann, ganz Europa wurde durch die Auswirkungen der Revolution
erschüttert. Auch in Hamburg trafen die ersten Flüchtlinge aus Frankreich
ein. Der Handel war bedroht, nur mit Mühe konnten die Schiffahrtswege
offengehalten werden. - Da ging im Hamburger Hafen ein französisches
Handelsschiff vor Anker. Es war die »La Constance« unter ihrem Kapitän
François Godefroy. Beladen mit exotischen Kostbarkeiten, wie »Nanking
und Thee«, kam sie nach einer mehrmonatigen Reise direkt aus dem
fernen Kanton. Die begehrte Ladung wurde auf einer Auktion mit gutem
Gewinn verkauft.
Auch sechs Jahre später hatten sich die Zeiten keineswegs beruhigt.
Napoleon begann mit seinen ersten Heerzügen, die Ordnung der Staaten
gründlich ins Wanken zu bringen. Nun war es ein Hamburger, der sich
trotz dieser Ereignisse zu einem Wagnis entschloß: Am 14. November
1798 musterte der Schiffer Martin Jürgen Spanjer laut Protokoll
des Wasserschouts - er war zuständig für die An- und Abmusterung
der Mannschaft eines hamburgischen Schiffes vor und nach jeder Reise
- eine Besatzung von 27 Maaten und Matrosen für das Schiff »Catharina
& Anna«, um »nach China, und von da zu allen Zeiten weiter zu segeln,
so wie die Ordres und Frachten fallen«. Als Reeder des Schiffes
trat das schon damals traditionsreiche Hamburger Handels- und Bankhaus
Luis & Jencquel auf. Sobald Spanjer seine Besatzung beisammen hatte,
verzollte er die Ladung am 17. Dezember und legte in den darauffolgenden
Tagen ab. In den Akten des Senats wird »Maccou«, also Macao, als
Ziel des Schiffes angegeben und auch seine Rüstung genau festgehalten:
»8 Kanonen und 2 Drehbassen nebst der dazugehörigen Ammunition von
260 Pfund Pulver und 150 Kugeln von verschiedenen Sorten«.7
War es das einzige Schiff, das in diesen Jahren den Hamburger Hafen
verließ, um nach China zu segeln? Schon der Wasserschout vom 10.
Mai 1797 vermerkt, daß Kapitän Hinrich Buse sein Schiff, die »Broeders«,
für eine Reise nach »Sochampore in Ostindien« vorbereitete, nach
Singapur also. Und am 1. Februar 1798 musterte Kapitän Jacob Friedrich
Engelbrecht eine Mannschaft für die 200 Lasten große »Amalia«, um
»naar einige Haven en Oostindien« auszulaufen, immer mit dem üblichen
Zusatz: »en van daar tot allen tyden te seylen op de Ordre en believen
van den Capt.«. Es ist gut möglich, daß diese Schiffe auch nach
Kanton oder Macao gelangt sind.
Erst mit der »Constance« und der »Catharina & Anna« jedenfalls setzte
ein regelmäßiger und insgesamt beständig anwachsender Handel zwischen
Deutschland und China ein. Allein in den Jahren 1816 bis 1842 liefen
mindestens 51 Schiffe aus China in den Hamburger Hafen ein. Bis
1871 stieg die Anzahl der jährlich aus China kommenden Schiffe durchschnittlich
von drei auf 14 an. Seit dieser Zeit hat sich Hamburg zur Drehscheibe
des Handelsverkehrs zwischen beiden Ländern entwickelt.8
Pioniere des Handels
Die eigentliche »Öffnung Chinas« aber, auch für den Handelsverkehr
Deutschlands mit China, ließ noch auf sich warten. Sie erfolgte
erst durch den Opiumkrieg zwischen China und England und durch den
Vertrag von Nanking 1842. Mit diesem Vertrag wurden in Europa große
Erwartungen freigesetzt: »Freudige Bewegung ergriff bald den ganzen
Handelsstand der europäisch zivilisierten Welt. Auch der Deutsche,
der sonst teils aus eigener Schuld, teils von den Verhältnissen
gezwungen, allenthalben zurückbleibt, machte sich jetzt ... sehr
frühzeitig auf die Beine, um auch seinen Anteil an dem neueröffneten
Handelsparadiese zu erhalten.«9
Im Zuge dieser Aufbruchsstimmung wurden die ersten deutschen Handelsfirmen
in China gegründet. Mehrere der alten China-Handelshäuser sind nicht
in Deutschland, sondern in China gegründet worden und haben erst
sehr viel später - zumeist in Hamburg - ihren inländischen Sitz
eingerichtet. Die frühen Firmengründungen in China waren überwiegend
mit finanziell und existentiell äußerst riskanten Expeditionen verbunden,
ausgerüstet und auf den weiten Weg gebracht, um überhaupt erst die
Handelsmöglichkeiten in Ostasien zu ergründen. Auch die Pioniere
des deutschen Chinahandels, Wilhelm von Pustau, Georg Theodor Siemssen
und Richard v. Carlowitz, kamen im Verlauf solcher Expeditionen
nach China.
Das erste deutsche Handelshaus in China war die Firma Wm. Pustau
& Co., gegründet von dem Altonaer Carl Wilhelm Engelbrecht von Pustau
(1820-1879) am 1. Januar 1845 in Kanton. Als Einstieg zu seinem
Engagement in China hatte Pustau 1843 in Hamburg ein Schiff mit
Waren für Kanton ausgerüstet und auf die Reise geschickt. Finanziell
wurde er dabei von dem Hamburger Bankier Salomon Heine unterstützt,
dem Onkel Heinrich Heines.
In den frühen 1840er Jahren unternahm Georg Theodor Siemssen (1816-1886)
von Batavia, dem heutigen Djakarta, aus eine Reise nach Kanton,
um zu sehen, ob es in China einen guten Markt für deutsche Manufaktur-
und Fabrikwaren gebe. Die Erfahrungen, die er in Macao und besonders
in Kanton machte, bestätigten seine Erwartungen sehr überzeugend.
Während eines Aufenthaltes in Hamburg kündigte er am 1. Oktober
1846 die Gründung von Siemssen & Co. mit Sitz in Kanton an. Bald
stieg die Firma zu einem der größten Handelshäuser in Ostasien auf.
Siemssen & Co. ist die einzige Hamburger Firma, die neben den alten
britischen Unternehmen, wie Jardine, Matheson & Co., seit der Frühzeit
des Chinahandels bis heute bestehen und in China tätig geblieben
ist.
Der dritte Handelspionier, der 1817 in Dresden geborene Richard
v. Carlowitz, kam im Jahre 1844 im Verlauf einer Handelsexpedition
nach Asien, um die Märkte in Indien, auf den Philippinen und in
China zu erkunden. Nach einem längeren Aufenthalt in Singapur sowie
nach kurzen Besuchen in Shanghai und einigen anderen Häfen an der
südostchinesischen Küste gelangte er im September nach Kanton. Am
1. Januar 1846 zeigte Carlowitz dort die Gründung der Firma Carlowitz
& Co. an. Bald folgte die Ausdehnung der Firma durch Filialgründungen
in Hongkong, Shanghai, Tianjin und anderen Orten. Um auf dem europäischen
Markt besser agieren zu können, wurde im Jahre 1886 schließlich
eine Filiale in Hamburg gegründet, wo die Firma bis dahin nur durch
einen Agenten vertreten war.
Carlowitz war nicht nur in seinen geschäftlichen Unternehmungen
ein ungewöhnlich weitsichtiger Mann, sondern auch in seinen genauen
Beobachtungen der chinesischen Verhältnisse, die er in seinen zahlreichen
Briefen auf eine geistreiche und treffsichere Weise schilderte und
kommentierte. Mit seiner 1844 in einem Brief geäußerten Bemerkung,
daß »der Einfall der Europäer in das Reich in wenigen Jahren den
tausendjährigen Constitutionen den Todesstoß geben wird«, gehört
er gewiß zu den ersten Menschen, die die weitreichenden Folgen des
Vertrages von Nanking so klar voraussahen.10
Die Konsulate
Als sich abzeichnete, daß der Chinahandel zu einer gewissen Bedeutung
heranwachsen würde, stellte sich die Frage seiner rechtlichen Absicherung
durch eine konsularische Vertretung in den wichtigsten chinesischen
Hafenstädten.
Erstmals machte 1787 ein Engländer als «Königlich preußischer Konsul«
in Kanton von sich reden. Wie immer er zu seinem Patent kam, es
sicherte ihm Aufenthalt und Geschäft in der Stadt, denn er konnte
mit ihm das Monopol der East India Company auf den Handel mit China
umgehen. Seit 1825 war Hannover durch einen eigenen Konsul vertreten.
1829 wurde der englische Kaufmann John MacVicar mit einem an den
Kaiser von China adressierten Patent zum ersten hamburgischen Konsul
in China, stationiert in Kanton, ernannt. Noch aber lag China geographisch
und wirtschaftlich sehr fern, noch war auch die wirtschaftliche
Bedeutung des Chinahandels weit mehr Hoffnung als Realität. So erschien
die Ernennung eines Konsuls dem Senat in Hamburg zunächst als Luxus,
dessen Nutzen alles andere als sicher erwiesen war. Die Ernennung
erfolgte daher »unter der Bedingung, daß weder die durch die Anerkennung
etwa nöthig werdenden oder sonst irgend welche jetzt oder künftig
aus diesem Consulat erwachsenden Kosten der Stadt Hamburg zur Last
fallen dürften«.11
MacVicar übergab in Kanton sein Patent an Howqua (Wu Haoguan), den
führenden Vertreter der für den Außenhandel allein zuständigen Cohong-Kaufleute,
der zugleich für den diplomatischen Kontakt mit den Europäern verantwortlich
war. Bei dieser Gelegenheit versicherte Howqua ihm, daß »die Flagge,
der Handel und die Bürger Hamburgs auf alle Zeit die gleichen Privilegien
genießen sollten, wie die anderen Fremdmächte«.12
Das war ein in chinesischen Augen damals selbstverständliches, für
einen Europäer indessen sehr weitgehendes und überraschendes Zugeständnis.
Welche unmittelbaren Vorteile sich aus der konsularischen Vertretung
ergaben, läßt sich aus einer kleinen Episode aus dem Jahr 1830 ersehen.
Ein unter bremischer Flagge segelndes, von der Preußischen Seehandlungs-Societät
gechartertes Schiff versuchte, die Liegeplätze bei der Bocca Tigris
(Humen) an der Mündung des Perlflusses anzulaufen, wurde aber von
den chinesischen Behörden daran gehindert. Erst als der Kapitän
um die Erlaubnis nachsuchte, unter hamburgischer Flagge Anker werfen
zu dürfen, wurde ihm eine Bewilligung erteilt. Auch später hißten
bremische Schiffe mitunter die hamburgische Flagge, wenn sie Humen
oder die Reede vor Whampoa bei Kanton anlaufen wollten.
Da MacVicar nur einen kurzen Aufenthalt in China plante, ernannte
er Alexander Matheson vom Handelshaus Jardine, Matheson & Co. zum
Vize-Konsul; praktisch wurde dieser auch sein Nachfolger. Matheson
blieb bis 1843 in Kanton, war aber durch seine Geschäftstätigkeit
und sein intensives Engagement bei der Gründung der Kronkolonie
Hongkong so oft abwesend, daß er die Hamburger Interessen kaum wirksam
vertreten konnte und keine regelmäßige Korrespondenz aufrechterhielt.
Das Konsulat geriet in Vergessenheit.
Erst nach einigen Jahren kam die Frage der konsularischen Vertretung
wieder auf die Tagesordnung. Mehrmals schrieben Hamburger Kaufleute
aus Kanton und Hongkong an den Senat und empfahlen die Wiedereinrichtung
des Konsulats. Der Senat aber wartete mit seiner Zustimmung, bis
sich eine geeignete Hamburger Persönlichkeit fand. Seine Wahl fiel
schließich auf Georg Theodor Siemssen, der mit dem Konsulats-Patent
vom 20. Februar 1852 zum hamburgischen Konsul ernannt wurde. Siemssen
zeigte seine Ernennung dem zuständigen chinesischen General-Gouverneur
in Kanton formgerecht durch ein in chinesischer Sprache verfaßtes
Schreiben an. Ab 1855 wurde er auch zum Konsul von Bremen ernannt,
1856 erfolgte außerdem seine Ernennung zum Konsul Lübecks und des
Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin.
Siemssen blieb bis 1858, als er infolge seiner Rückkehr nach Hamburg
sein Amt niederlegte. Er muß auf seine Umgebung, auch die chinesische,
einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben. Man gewöhnte sich in
Kanton jedenfalls an, jeden Deutschen in schönstem Pidgin-Englisch
einen »Janbullo man« zu nennen, einen »Mann aus Hamburg« also.
Auch in den anderen am Chinahandel interessierten deutschen Staaten
wurde die Notwendigkeit eines Konsulats wiederholt vorgebracht.
1844 reiste der preußische Ökonomierat Friedrich Wilhelm Grube im
Auftrag Preußens und der anderen Staaten des Deutschen Zollvereins
nach China, um die Möglichkeiten zur Gründung von Konsulaten zu
erkunden. Es erschien allerdings kaum sinnvoll, daß sich die deutschen
Staaten und die Hansestädte jeweils durch eigene Konsuln vertreten
ließen. Der mangelnde Schutz der Schiffahrt infolge der Zersplitterung
der Vertretung deutscher Handelsinteressen hatte zum Beispiel zur
Folge, wie in einem Aufruf Hambur- ger Reeder aus dem Jahre 1840
festgestellt wurde, daß nur 25 Prozent des deutschen Seehandels
auf deutschen Schiffen, 75 Prozent dagegen auf englischen und französischen
Schiffen erfolgte.13 Eine Verbesserung
der Situation durch eine gemeinsame konsularische Interessenvertretung
erschien deshalb äußerst wünschenswert.
Auch eine 1846 verfaßte Denkschrift mehrerer Kaufleute aus Kanton
und Hongkong über »Die deutschen Handels-Interessen in China« spricht
diesbezüglich eine deutliche Sprache. Die Initiative war von Richard
v. Carlowitz ausgegangen, der ursprünglich an eine von allen Kaufleuten
unterzeichnete Petition allein an den preußischen Hof gedacht hatte,
damit dieser die Wahrnehmung der konsularischen Vertretung in seiner
Hand konzentriere. Zu einer solchen Stärkung der außenpolitischen
Kompetenz Preußens aber wollten die Hamburger Kaufleute ihre Unterschrift
nicht geben. Also wurde die Denkschrift nicht nur nach Berlin, sondern
auch nach Hamburg geschickt. In ihr wurde zunächst der Umstand beklagt,
daß die deutschen Kaufleute wegen des Fehlens eines politischen
Vertrages schutzlos allen möglichen Gefahren für Person und Eigentum
ausgesetzt wären. Hinsichtlich der Konsulate hielten die Verfasser
es aber für wenig zweckdienlich, »wenn diese Vertretung durch Ernennung
verschiedener Konsuln für den Zollverein, die Hansestädte und noch
verschiedene andere deutsche Länder statt hätte, sondern wie erwünscht
es wäre, daß die verschiedenen deutschen Länder sich zur Anstellung
eines Konsuls vereinigten, oder wenigstens die verschiedenen Ämter
in eine Person konzentrierten, da den Chinesen die Idee eines großen
handeltreibenden Volkes, die ihnen allein imponiert, mit der durch
Ernennung verschiedener Konsuln dargetanen Zerstückelung nicht recht
vereinbar scheinen dürfte«.14
Diese Überlegungen und Wünsche gingen indes weit über das damals
politisch Mögliche hinaus. Zur Zusammenarbeit kam es allein zwischen
den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg: 1862 vereinbarten diese
anläßlich der Errichtung des Konsulats in Shantou, künftig nur noch
gemeinsame hanseatische Konsuln zu ernennen. Preußen, Sachsen, Hannover,
Oldenburg und einige weitere deutsche Staaten und Städte etablierten
in diesen Jahren ihre eigenen Konsulate in den bedeutenden chinesischen
Küstenhäfen, vor allem in Shanghai, Hongkong, Fuzhou, Xiamen (Amoy),
Taiwan, Ningbo und Tianjin.
Der erste Vertrag
Bereits kurz nach dem Vertrag von Nanking 1842 hatte es erste Überlegungen
gegeben, ob ein solcher Vertrag auch für Hamburg sinnvoll sein könnte.
Neuen Auftrieb erhielt die Debatte 1858, als England, Frankreich,
Rußland und die Vereinigten Staaten durch Waffengewalt neue Verträge
und Handelsprivilegien von China erzwangen. Die Befürchtung, daß
die deutschen Staaten, auch die Hansestädte, durch diese Verträge
ins Hintertreffen gelangen könnten, war durchaus begründet, denn
die früher gegebene Gleichstellung mit den Vertragsmächten im Chinahandel
war nun offenbar nicht mehr garantiert. Die wachsende wirtschaftliche
Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten hatte eine solche liberale
Handelspraxis binnen knapp zwanzig Jahren inopportun werden lassen.
Neben diesen wirtschaftlichen Gründen gab es gewichtige politische
und juristische Argumente, die den Abschluß eines formellen Handelsvertrages
wünschenswert erscheinen ließen.
Für den Abschluß eines solchen Vertrages indes war Hamburg auf einen
größeren Partner angewiesen. Ein selbständiges Vorgehen, auch im
Verein mit Lübeck und Bremen, erschien wenig aussichtsreich. Denn
ohne die Begleitung von Kriegsschiffen, so meinte man, wären Verhandlungen
von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Commerz-Deputation
als Vorgängerin der Handelskammer hatte zunächst, offenbar den alten
Gewohnheiten des liberalen Freihandels folgend, an England oder
auch die Niederlande als Vermittler gedacht. Doch der Senat war
skeptisch hinsichtlich der Wirksamkeit der Vertretung hanseatischer
Interessen durch diese Länder.
Es traf sich also gut, daß wiederum Preußen die Initiative ergriff
und eine Expedition unter Leitung des Grafen Friedrich zu Eulenburg
nach China, Japan und Siam plante, begleitet von einem kleinen Geschwader
der Marine. Die preußische Regierung verfolgte damit das Ziel, mit
diesen Ländern einen Handels- und Freundschaftsvertrag abzuschließen,
vor allem, um sich auf diese Weise gleichberechtigt in die Reihe
der Großmächte, besonders Englands und Frankreichs, zu stellen und
um seinen Hegemonieanspruch im Zollverein zu betonen. Diesem Unternehmen
schloß sich Hamburg zusammen mit Lübeck und Bremen an.
Nach schwierigen Verhandlungen wurde am 2. September 1861 der erste
Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen mehreren Staaten des Deutschen
Zollvereins und China abgeschlossen. Die Hansestädte hatten ihre
Teilnahme an dem Vertrag von Anfang an von dem Recht abhängig gemacht,
sich weiterhin durch eigene Konsuln vertreten zu lassen. In einem
der chinesischen Seite nur mit Mühe abgerungenen Separat-Artikel
wurde den Hansestädten dieses Recht ausdrücklich zugestanden. Den
Unterhändlern war es offenbar schwergefallen, die komplizierte Vielstaatlichkeit
und die Rechts- und Vertragsverhältnisse zwischen diesen Staaten
zu durchschauen.
Beginn der Linienschiffahrt
Nach Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 stand den Kaufleuten
und Kapitänen eine wirtschaftlich und militärisch rasch erstarkende
Macht zur Seite, die durchaus auch in der Lage und willens war,
wirksame Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen anzuwenden. Die
Schiffahrt diente nicht mehr nur dem Handel, sondern - als Werkzeug
des nationalen Machtanspruchs - weit mehr noch der Politik. Eine
starke Handelsflotte, und später auch eine starke Kriegsflotte,
wurde zunehmend als eine Angelegenheit der nationalen Ehre angesehen.
Einen deutlichen Aufschwung des Chinahandels gab es, als in den
Gründerjahren die ersten regelmäßigen Schiffahrtslinien nach Ostasien
eingerichtet wurden. Grundlage dafür waren einige Entwicklungen
im Bereich des Seeverkehrs und der Kommunikation allgemein. Entscheidend
wurde der Handelsverkehr zunächst durch die Eröffnung des Suez-Kanals
im November 1869 gefördert. Dadurch verkürzte sich der Seeweg nach
China so erheblich, daß von einer neuen Ära der Handels- und Seefahrtsgeschichte
gesprochen werden kann. 1871 wurde zudem das erste Telegraphenkabel
nach Hongkong gelegt, was China auch auf dem Gebiet der Kommunikation
um ein entscheidendes Stück näherbrachte. In den selben Jahren wurde
das Segelschiff allmählich durch das Dampfschiff abgelöst. Die »König
von Preußen« hatte 1752 für die Fahrt nach Kanton etwa sechs Monate
benötigt. Auch ein Jahrhundert später, um 1850, brauchte ein Schiff
immer noch vier bis fünf Monate für die einfache Fahrt. Selbst die
großen britischen Tee-Klipper, die die frische Ware möglichst rasch
nach Europa transportierten, waren auf ihren Tea-Races über drei
Monate unterwegs. Ende des Jahrhunderts aber dauerte die Fahrt nur
noch höchstens eineinhalb Monate.
So war es nicht zufällig im Jahre 1871, dem Gründungsjahr des Deutschen
Reiches, als mit der »Sedan« der erste Dampfer einer Hamburger Reederei
(J. C. Godeffroy & Sohn) nach Shanghai fuhr. Und es dauerte gerade
zwei Jahrzehnte, bis das Dampfschiff das Segelschiff fast völlig
aus der Ostasienfahrt verdrängt hatte. Allerdings vollzogen die
deutschen Reedereien den technischen Wandel von der Segel- zur Dampfschiffahrt
viel langsamer als die europäische Konkurrenz. Das hatte zur Folge,
daß der Anteil deutscher Schiffe am China-Handel seit den 1860er
Jahren nicht nur prozentual, sondern auch in absoluten Zahlen spürbar
zurückging.
Erst in den frühen 1880er Jahren kehrte sich dieser Trend um, und
die deutsche Schiffahrt konnte in China wieder an Boden gewinnen.
Um 1895 nahm sie hinsichtlich der Tonnage und der Menge der nach
China eingeführten Waren hinter der britischen - wenn auch mit großem
Abstand - wieder den zweiten Platz ein. Das ist zu einem guten Teil
den Reedereien zu verdanken, die sich zu einem regelmäßigen Liniendienst
entschlossen. 1871 richtete zunächst die Deutsche Dampfschiffs-Rhederei
zu Hamburg - bekannt vor allem unter ihrem chinesischen Namen Kingsin-Linie
- einen regelmäßigen Verkehr nach Ostasien ein. 1885 kam es zu einem
Vertrag zwischen der Reichsregierung und dem Norddeutschen Lloyd
über einen staatlich subventionierten regelmäßigen Post- und Passagierdienst
nach Ostasien. 1886 wurde diese Linie in Bremen unter großer öffentlicher
Teilnahme feierlich eröffnet, mit monatlichen, ab 1899 sogar halbmonatlichen
Abfahrten nach China und Japan. 1896 folgte als weitere Reederei
die Rickmers-Linie mit einem regelmäßigen monatlichen Dienst zwischen
Hamburg, China und Japan und machte als freie Linie der Kingsin-Linie
und sogar dem übermächtigen Norddeutschen Lloyd Konkurrenz. Und
1898 nahm schließlich die Hamburg-Amerika-Linie ihre Fahrten nach
China auf, nachdem sie zuvor die Kingsin-Linie übernommen und sich
damit zur größten Reederei der Welt entwickelt hatte.
Nankings, Cassia und
Tee gegen Anilin und Waffen
In den ersten Jahrzehnten des Handels wurden aus China vor allem
Tee, rohe und verarbeitete Seide sowie Gewürze eingeführt, gefolgt
von Porzellan, Perlmutter und Lacken. Später kamen weitere landwirtschaftliche
Rohstoffe und Halbprodukte hinzu, wie das auch damals schon in der
Möbelherstellung beliebte Bambusrohr, sowie Baumwollgewebe (Nankings
genannt), Bettfedern, Häute, Borsten und Felle. Ein wichtiger Importartikel
war auch der chinesische Zimt (Cassia lignea), gewonnen aus der
getrockneten Rinde des Cassiabaumes. Cassia wurde nicht nur zu Zimt
verarbeitet, sondern fand auch in der Medizin Verwendung.
Der Großteil des Exports nach China bestand zunächst in billigen
Gebrauchsgütern, in den chinesischen Seezoll-Statistiken Sundries
genannt. Bald gewannen Wolltuche und Baumwollgarne große Bedeutung:
1867 machten sie etwa 30 Prozent des chinesischen Imports aus. Aber
auch Zucker und andere Raffinaden, Nähnadeln sowie diverse Eisen-
und Stahlwaren spielten eine Rolle.
Einen deutlichen Aufschwung im Export nach China nahmen Erzeugnisse
der chemischen Industrie. Vor allem Anilinfarben zum Färben von
Geweben aller Art erfreuten sich in China wachsender Beliebtheit
und konnten die Naturfarben verdrängen; seit den späten 1880er Jahren
tauchen sie in den Statistiken als bedeutender Posten auf. Nach
dem Ersten Weltkrieg wuchs der Import deutscher Anilinfarben auf
62 Prozent des Gesamtimports. 1905 wurde erstmals der nach China
exportierte künstliche Indigo statistisch ausgewiesen und eroberte
sich ebenfall einen führenden Platz im Chinahandel.
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden Waffen wichtig.
In den 1860er und 1870er Jahren setzte in China eine Bewegung der
sogenannten Selbststärkung ein. Mit dieser wurde versucht, das Land
auf dem Gebiet zu modernisieren, auf dem die Überlegenheit der westlichen
Staaten am deutlichsten und schmerzlichsten hervorgetreten war -
dem Gebiet der militärischen Rüstung. Neue, moderne Armeen wurden
aufgestellt und ausgerüstet, Flotten wurden aufgebaut, in mehreren
Orten wurden Arsenale errichtet. Im Zuge dieser Entwicklungen trat
Deutschland als Lieferant von Waffen so erfolgreich auf, daß es
die Konkurrenz, besonders die Englands und Frankreichs, immer mehr
vom Markt verdrängen konnte. Zeitweilig, vor allem in den 1880er
Jahren, war das Deutsche Reich auf diesem Gebiet fast der einzige
Zulieferer. Allein im Jahrzehnt von 1870 bis 1880 wurde Rüstungsmaterial
im Werte von über 20 Millionen Reichsmark von Deutschland nach China
verkauft. Dabei kam den deutschen Verkäufern zugute, daß China sie
aus politischen Gründen favorisierte: Die Abhängigkeit von England
und Frankreich sollte abgebaut werden.
Herr Schmidt und der
Gouverneur von Shandong
Es gab durchaus Stimmen, die den Erwerb des »Schutzgebietes« Jiaozhou
(Kiautschou) mit dem Hafen Qingdao (Tsingtau) im Jahre 1898 mißbilligten.
So hatte Hans August Siebs, ein Teilhaber von Siemssen & Co., von
dieser Erwerbung mit dem Argument abgeraten, daß die Zeit kolonialer
Eroberungen bereits vorbei sei. Die meisten Kaufleute aber begrüßten
die Machtentfaltung des Deutschen Reiches in China und suchten sie
zu nutzen.
Ein Beispiel war das Vorgehen der Firma Carlowitz & Co. beim Bau
der Eisenbahn in der Provinz Shandong, von Qingdao in die Provinzhauptstadt
Jinan. Im Vertrag zur Verpachtung von Jiaozhou (Artikel IV) war
festgelegt worden, daß in einem 30 Li - etwa 15 Kilometer - breiten
Korridor links und rechts der Bahnlinie »deutschen Unternehmern
die Ausbeutung von Kohlelagern ... gestattet« sein sollte. »Dabei
können deutsche und chinesische Kaufleute gemeinsam Kapitalien in
den Unternehmungen anlegen.« Während der Bau der Eisenbahn eindeutig
nur durch deutsch-chinesische Konsortien erfolgen sollte, waren
die Bergbaurechte also weniger klar geregelt. Das führte sehr bald
zu einer unterschiedlichen Auslegung des Vertrages. Unmittelbar
nach seiner Unterzeichnung bildete Carlowitz ein Konsortium und
arbeitete Pläne für den Bau der Bahn aus. Schon im Frühjahr 1898
erschien in Shandong ein Repräsentant der Firma, Karl Schmidt, zusammen
mit einem chinesischen Mitarbeiter, kaufte entlang der von ihm angenommenen
Trasse Land auf und legte erste Schächte für den Kohleabbau an.
Von den Chinesen wurde ihm zwar bescheinigt, daß er für das Land
einen guten Preis zahle, seine und seiner Firma Absicht aber sei
offenbar, die Eisenbahn- und Bergbaurechte, wie man betonte, vertragswidrig
selbst auszuüben, ohne Einschaltung chinesischer Partner.
Sein voreiliges Auftreten sorgte bei dem betroffenen Kreismagistrat
für erhebliche Irritationen, so daß er sich an Zhang Rumei wandte,
seit Anfang 1898 Gouverneur der Provinz Shandong. Dieser wiederum
schrieb an das Zongli Yamen, das Außenministerium in Peking, und
suchte dort um Unterstützung nach. Er selbst trat dafür ein, daß
vor allem chinesische Investoren die Bergbaumöglichkeiten in seiner
Provinz nutzen sollten, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben.
Aus Peking kam eine eindeutige Antwort: Schmidts Vorgehen bedeute
eine Vertragsverletzung; zunächst müsse die Eisenbahn gebaut werden,
und die Bergbaurechte dürften nur von einem deutsch-chinesischen
Konsortium genutzt werden. Auch bat das Zongli Yamen den deutschen
Gesandten in Peking, Edmund v. Heyking, bei der Firma Carlowitz
darauf hinzuwirken, daß sie die Arbeiten einstelle. Heyking jedoch
antwortete, daß Carlowitz lediglich Bodenproben entnehme, die später
auch chinesischen Interessenten zur Verfügung gestellt werden sollten,
damit diese den von einem Abbau zu erwartenden Gewinn einschätzen
könnten. Von einem bereits begonnenen Abbau könne keine Rede sein.
Das Zongli Yamen schwenkte daraufhin, um Auseinandersetzungen zu
vermeiden, auf eine entgegenkommende Haltung um. Nun aber war es
der Gouverneur, der in einem Brief an das Zongli Yamen drängte,
es sollte die Deutschen entsprechend dem Vertrag zu Verhandlungen
nötigen, sie in ein Abkommen zum gemeinsamen Vorgehen einbinden
und so ihr Vorgehen kontrollieren. Er schloß mit der Warnung: »Lassen
wir zu, daß sie … ungehindert Land kaufen und ohne jede Einschränkung
Bergwerke anlegen, ohne daß die Beamten, die Vornehmen, die Kaufleute
und das Volk auch nur gefragt werden, wird die Verschlagenheit,
mit der sie Gewinn und Macht an sich reißen, nicht nur Shandong
ins Unglück stürzen, sondern das ganze Land.«15
Noch im April 1899
erinnerte der Gouverneur das Zongli Yamen an dessen frühere Haltung
und plädierte erneut dafür, man solle den Aktivitäten der Firma
Carlowitz und ihres Mitarbeiters Schmidt Einhalt gebieten. Kurz
darauf wurde er seines Amtes enthoben. Als offizieller Grund für
seine Entlassung mußte eine Überschwemmung großer Teile Shandongs
durch den Gelben Fluß im Sommer 1898 herhalten. Tatsächlich stand
wohl eher die Befürchtung dahinter, daß es infolge seiner unnachgiebigen
Einstellung zu einer Belastung des Verhältnisses zu Deutschland
kommen werde.
Auf diese Weise trug Karl Schmidt dazu bei, einen chinesischen Gouverneur
zu Fall zu bringen. Die von Carlowitz & Co. so energisch angestrebte
alleinige Nutzung der Bergbaurechte ließ sich schließlich doch nicht
durchsetzen. Denn nicht nur bei nationalistischen chinesischen Beamten
stieß sie auf Widerstand, sondern auch bei konkurrierenden deutschen
Firmen, die sich ebenfalls lebhaft für die vielversprechenden Projekte
interessierten. Mit diesen wurden 1899 unter maßgeblicher Beteiligung
der großen Banken zwei Konsortien gebildet, die Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft
(Shandong tielu gongsi) und die Schantung-Bergbau-Gesellschaft (Shandong
kuangwu gongsi). 1904 war die gesamte Eisenbahnstrecke von Qingdao
über das reiche Kohle- gebiet von Weixian nach Jinan fertig. Zwar
zog die Eisenbahn einen schnellen Aufschwung des Handels über Jiaozhou
nach sich, der tatsächliche Ertrag aus dem Abbau der Kohle und des
Eisenerzes aber blieb weit hinter den hochgesteckten Erwartungen
zurück.
Erste Gegenbesuche
Die Entwicklung der Beziehungen brachte es mit sich, daß China seinerseits
den diplomatischen Verkehr mit Europa suchte, Botschafter in die
Hauptstädte entsandte und Delegationen auf Erkundungsreisen schickte.
Gleich die erste Delegation, die von der chinesischen Regierung
nach Europa geschickt wurde, kam Anfang Juli 1866 auf dem Weg von
Holland nach Kopenhagen für zwei Tage auch nach Hamburg. Der Leiter
der Delegation, ein Beamter nachgeordneten Ranges namens Binchun,
wurde in der Hamburger Presse kurzerhand zum Prinzen und Bruder
des chinesischen Kaisers befördert. Überhaupt sorgte die exotisch
und prächtig gekleidete Gruppe für einiges Aufsehen:
»Einige Chinesen, welche gestern hier eintrafen, erregten, als sie
sich auf den Straßen zeigten, große Sensation. Ein Laden in der
Hermannstraße, den sie besuchten, war von hunderten von Menschen
umlagert. Sie trugen weiße und blaue Gewänder und nickten der sie
anstaunenden Menge freundlich zu.«16
Nicht weniger Grund zum Staunen gab es für die Mitglieder der Delegation
selbst. Hatten sie schon in England überrascht sehen müssen, daß
der König nur mit Billigung des Parlaments regieren konnte, kannte
ihr Befremden in Hamburg keine Grenzen mehr, als sie feststellten,
daß es hier überhaupt keinen Herrscher gab. Auch im Hafen gab es
Grund für staunende Bemerkungen: »Im Hafen ankert ein Schiff neben
dem anderen, und die Häuser stehen dichtgedrängt wie Fischschuppen«
- so berichteten sie nach Peking. Besonders aber der Blick auf die
von großen Villen eingerahmte Alster machte auf sie einen tiefen
Eindruck. Mit ihren zahlreichen grün lackierten Tretbooten, »schön
wie Lotosblumen«, rief die Alster bei ihnen sogar sentimentale Erinnerungen
an den Westsee bei Hangzhou wach, eine der kulturhistorisch beziehungsreichsten
und in Gedichten immer wieder besungenen Seelandschaften in China.
Im übrigen äußerten sie sich in ihren Tagebüchern besonders ausführlich
über einen abendlichen Zirkusbesuch, wo vor allem die Reitkünste
einiger junger Frauen ihr Gefallen erregten. Sodann fand in ihren
Aufzeichnungen ein Besuch in der Börse, deren Treiben sie von der
Galerie beobachteten, seinen Niederschlag. Schließlich besuchten
sie noch Franz Wilzer, einen Hamburger, der in den Jahren von 1855
bis 1863 in China gelebt und es dort bis zum Seezolldirektor in
Tianjin gebracht hatte. In seinem Haus wurden sie durch musikalische
Darbietungen seiner Frau und seiner Schwestern unterhalten, was
offenbar ebenfalls nicht wenig dazu beitrug, daß sie Hamburg in
einer geradezu enthusiastischen Stimmung wieder verließen.17
Späteren Gesandten gelang es nur noch selten, sich derart sorglos
umzuschauen. Sie waren weniger an den Tretbooten auf der Alster
als an Kriegsschiffen interessiert; nicht die wehmütige Erinnerung
an den Westsee bewegte sie, sondern die schmerzlich empfundene Erniedrigung
ihres Landes durch den militärisch überlegenen Westen. Xu Jianyin,
der Ingenieur auf offizieller Erkundungsreise durch Europa, interessierte
sich daher, als er 1880 nach Hamburg kam, vor allem für technische
Errungenschaften und Fabriken. So besuchte er unter anderem eine
Fabrik für Schießbaumwolle und verschiedene Wasserbauanlagen. Schilderungen
von Ansichten der Stadt suchen wir in seinem Bericht vergebens.
Zerstreuungen schienen ihn, dem das Kennenlernen von Vorbildern
für die Modernisierung Chinas am Herzen lag, nicht zu interessieren.
Immerhin ließ er sich ebenfalls durch eine abendliche Akrobatenvorstellung
beeindrucken, wo es ihm eine Seiltänzerin und ein Kunstreiterpaar
besonders angetan haben.18 Sein Ende
geriet zu einem tragischen Symbol der chinesischen Modernisierungsbemühungen:
Mit einer von ihm errichteten Anlage zur Herstellung von Schießbaumwolle
flog er in die Luft.
Ein Ende, ein Anfang
Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatte der deutsche Handel mit
China einen noch wenige Jahre zuvor kaum geahnten Höhepunkt erreicht.
1913 wurden etwa 9 Prozent des chinesischen Außenhandels mit Deutschland
getätigt, während es zwei Jahrzehnte zuvor nur 4 Prozent gewesen
waren. Infolge der starken Stellung deutscher Reedereien im chinesischen
Außenhandel insgesamt lagen darüber hinaus etwa 25 Prozent des chinesischen
Exports und 19 Prozent des Imports in deutschen Händen. Um so tiefer
war der Fall, den die Handelsbeziehungen im Ersten Weltkrieg erlitten:
Als China 1917 auf der Seite der Alliierten in den Krieg eintrat,
wurde der deutsche Handel verboten, deutscher Firmenbesitz sowie
ein großer Teil der in den Häfen liegenden Schiffe wurden konfisziert.
Gegen Ende des Krieges wurden die meisten Deutschen aus China ausgewiesen.
So bereitete der Erste Weltkrieg der wirtschaftlichen Stellung und
den politischen Interessen Deutschlands in China nur wenige Jahre
nach Erwerb des Pachtgebietes in Jiaozhou ein rasches Ende. Das
wurde allgemein als besonders schmerzlicher Rückschlag empfunden.
Nur wenige waren weitsichtig genug, die Möglichkeiten zu erkennen,
die gerade in der kurzen Dauer der kolonialen Präsenz in China lagen.
Mit dem Verlust Jiaozhous nämlich war der größte Stein des Anstoßes
zwischen beiden Ländern fortgeräumt, während die anderen Kolonialmächte
bis in den Zweiten Weltkrieg hinein an ihren Privilegien festhielten.
So konnten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und China nach
dem Krieg ohne politische Konflikte neu entwickeln.
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