Die Provinz Schantung
im 19. Jahrhundert
von Ingo Nentwig
Als geographische Bezeichnung
wurde der Name »Schantung« (shandong = »östlich der Berge«) seit
der »Frühlings- und Herbstperiode« (770-476 v. Chr.) für das Gebiet
östlich der Taihang-Berge, an der Grenze zwischen den heutigen Provinzen
Shanxi und Hebei, benutzt. Doch schon im »Shiji«, einem historischen
Werk des Chronisten Sima Qian (ca. 100 v. Chr.), bezeichnete der
Begriff im engeren Sinne auch das Gebiet der Fürstentümer Qi im
Norden und Lu im Süden, die einen großen Teil der späteren Provinz
Shandong einnahmen.1 Mit seiner über
4000 Jahre alten Longshan-Kultur (frühe landwirtschaftliche Entwicklung,
Keramik und Textilproduktion) war Shandong eine Kernregion der chinesischen
Staatsentstehung. Die ökonomische Entwicklung, gestützt auf Fischerei,
Salzproduktion und Eisenverarbeitung, vor allem für landwirtschaftliche
Geräte, und die zeitweise erfolgreiche Regulierung des Gelben Flusses
ließen Shandong im 10. nachchristlichen Jahrhundert zu einer der
am dichtesten besiedelten Regionen Chinas werden.2
Seit 1168, während der jurcenischen Jin-Dynastie (die Jurcen waren
Vorfahren der Manju), wurde der Name »Shandong« erstmals als offizielle
administrative Bezeichnung verwendet, die die folgenden Dynastien
übernahmen. Unter der manjurischen Qing-Dynastie (1644-1911) erlangte
Shandong schließlich den Provinzstatus.3
Während der letzten Jahrhunderte wurde Schantung immer wieder zum
Problemgebiet: Hungersnöte, Überschwemmungen und Dürrekatastrophen
- bisweilen durch ökologische Zerstörungen wie Entwaldungen verursacht
-, aber auch Kriege, Aufstände und Migrationswellen kennzeichneten
diese Entwicklung. So mußten zum Beispiel während der Ming-Dynastie
(1388-1644) entvölkerte Landstriche mit Bewohnern anderer Provinzen
neu besiedelt werden.4 Die Bevölkerungszahl
stieg von 5,3 Millionen im Jahre 1393 auf 7,6 Millionen im Jahre
1512. Bis 1578 fiel sie dann wieder auf 5,7 Millionen. Erst in der
Qing-Zeit stieg das Bevölkerungswachstum kontinuierlich an: Lebten
1812 annähernd 29 Millionen Menschen in Schantung, so waren es 1898
bereits knapp 38 Millionen.5 Parallel
dazu nahm auch die Zahl der Migranten zu, die vorwiegend in den
Nordostprovinzen, also in der Mandschurei, ihr Glück suchten. Die
Qing-Regierung versuchte anfangs, diese Wanderungsbewegung zu kontrollieren:
So gestattete sie erst 1866 die Zuwanderung von Frauen und Kindern.6
Für den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn durch die Mandschurei
(1897-1903) benötigte Rußland chinesische Arbeitskräfte, die vorwiegend
aus Shandong kamen. Entsprechend sank die Bevölkerungszahl Shandongs
bis 1909 wieder auf 29,5 Millionen.7
Die Shandonger Siedler hatten daher den größten Anteil an der Erschließung
des Nordostens und durchkreuzten die russische Absicht, Teile der
Mandschurei dem chinesischen Einfluß zu entziehen. Im 20. Jahrhundert
war die Bevölkerungsentwicklung Shandongs weiter großen Schwankungen
unterworfen,8 die erst nach Gründung
der Volksrepublik (1949) in gleichmäßiges Wachstum überging.9
Die Landwirtschaft Shandongs ist durch intensiven Anbau von Weizen,
Baumwolle, Erdnüssen und Tabak geprägt, der sich besonders nach
dem Bau der Tsingtau-Tsinan-Bahn und der Tientsin-Pukou-Bahn (1899
bis 1904) entwickelte. Diese von Deutschland bzw. mit deutscher
Beteiligung errichteten Verkehrslinien konnten den Transport landwirtschaftlicher
Produkte für deren Weiterverarbeitung in großen Mengen garantieren.10
Daneben ist Shandong für sein Obst bekannt, vor allem Äpfel, Birnen,
Weintrauben und Pfirsiche. Die Produktion von Traubenwein bei Yantai,
die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann, ging - anders als
beim Bier in Qingdao - nicht auf deutschen Einfluß zurück: Ein heimgekehrter
Überseechinese gründete die erste Kelterei.11
Schließlich soll die Seidenraupenzucht Erwähnung finden, wobei
heute nur noch im äußersten Osten der Halbinsel Eichenspinner, sonst
überall Maulbeerspinner gezüchtet werden.12
Überbevölkerung, Naturkatastrophen und die damit verbundenen Mißernten
sowie Seuchen (Pest) zum einen und die überwiegend als Fremdherrschaft
empfundene Qing-Dynastie zum anderen machten das agrarisch geprägte
Shandong, vor allem im 19. Jahrhundert, zu einem klassischen Aufstandsgebiet.
Trotz der schwierigen Situation wurde die Abgabenlast nicht verringert,
im Gegenteil verschärfte sich die Situation infolge der zunehmenden
Korruption der lokalen Beamten. Große, überregionale Rebellionen
gingen entweder von Schantung aus oder zogen die Provinz stark in
Mitleidenschaft. Dies waren der Taiping-Aufstand (1850-1864), die
Nian-Rebellion (1851-1861) und die Yihetuan-Bewegung (»Boxeraufstand«,
1898-1900).
Darüber hinaus kam es zu Aufständen, die auf Schantung begrenzt
waren:
- der Aufstand der Fu-Armee (1851-1863), der zeitweise eine
Zusammenwirkung mit der Tai-ping- beziehungsweise Nian-Rebellion
suchte,
- der Aufstand der Xinhetuan (1862/63) unter Liu Depei (Zentral-Schantung),
der eine »neue« Han-Dynastie gründen wollte,
- die Rebellion der Changqianghui, der »Lanzengesellschaft«,
(1860 bis 1862) in Südwest-Schantung,
- der Aufstand der Wenxianjiao - »Lehre gebildeter Tugendhaftigkeit«
- (1860-1863), eines Seitenzweiges der »Weißen-Lotos-Sekte«, und
- der Aufstand der »Fünf Großen Bannerarmeen« (1861-1863)
in Nordwest-Schantung, wobei sich die »Schwarze Bannerarmee« unter
Song Jingshi, die als einzige aus sektenunabhängigen Bauern bestand,
besonders hervortat.
Während die Ursachen der verschiedenen Aufstände - mit Ausnahme
der antikolonialistischen Boxerbewegung - weitgehend identisch waren,
unterschieden sie sich doch in ihren Zielen und Organisationsformen:
Sie reichten von endzeitbezogenen Bewegungen wie der der Taiping
über religiös motivierte Geheimgesellschaften wie bei den Wenxianjiao
und den Fünf Großen Bannerarmeen bis hin zu Salzschmugglern, Räuberbanden
und Deserteuren in der Anfangsphase der Nian. Alle machten sich
mehr oder weniger geschickt das große Heer verzweifelter oder entwurzelter
Bauern zunutze.
Obwohl alle Aufstände von der Qing-Regierung trotz großer Schwierigkeiten
und unter vielen Verlusten militärisch niedergeschlagen wurden,
trugen sie doch erheblich zur Zerrüttung und inneren Auflösung der
Qing-Herrschaft in China bei. Die Kämpfe - oft mit unbeschreiblicher
Grausamkeit geführt - verwüsteten weite Teile der Provinz und vernichteten
unzählige Menschenleben.13
Die herkömmliche Landwirtschaft befand sich in einer Krise und war
an das Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gelangt. Dies wurde
landesweit offensichtlich. Dennoch müssen die Leistungen der chinesischen
Bauern mit ihren traditionellen Techniken und ihren tradierten Erfahrungen
hoch anerkannt werden. Die Landwirtschaft wurde im Zuge des Kolonialismus
zu einem wichtigen Studienobjekt der in China weilenden Ausländer.14
So beschreibt der Amerikaner F. H. King, der Shandong zu Beginn
des 20. Jahrhunderts bereiste, die Begegnung mit einem Bauern und
seinem hölzernen Pflug folgendermaßen: »The next morning we took
an early train to Tsangkau (im deutschen Schutzgebiet - I. N.) and
were ready to walk through the fields and to talk with the last
generations of more than forty unbroken centuries of farmers who,
with brain and brawn, have successfully and continuously sustained
large families on small areas without impoverishing their soil.
… We astonished the old farmer by asking the privilege of holding
his plow through one round in his little field, but he granted the
privilege readily. Our furrow was not as well turned as his, nor
as well as we could have done with a two-handled Oliver or John
Deere, but it was better than the old man had expected and won his
respect.
This plow had a good steel point, as a separate, blunt, V-shaped
piece, and a moldboard of cast steel with a good twist which turned
the soil well. The standard and sole were of wood and at the end
of the beam was a block for gauging the depth of furrow.«15
Zusätzlich zur Krise der Landwirtschaft kamen einige der bäuerlichen
Nebengewerbe in Bedrängnis, so die Textilproduktion infolge der
Importe aus dem Ausland. Diese Einfuhren waren durch den Vertrag
von Tianjin (1860) möglich geworden, mit dem England und Frankreich
nach dem Zweiten Opiumkrieg (1857-1860) auch die Öffnung der Hafenstadt
Yantai erzwungen hatten. Industriell produzierte Baumwollstoffe,
vor allem Kattun und Musselin, waren billiger und ersetzten daher
zunehmend die einheimische Ware, was sich in Shandong, einer der
chinesischen Provinzen mit der größten Baumwollproduktion, besonders
negativ auswirkte.16
Neben den Beeinträchtigungen, die die großen historischen und ökonomischen
Umbrüche des 19. Jahrhunderts für ganz China mit sich brachten,
verlief das Alltagsleben der Shandonger Bevölkerung noch weitgehend
in traditionellen Bahnen. Die bäuerliche Ernährung basierte auf
Hirse, Weizen, Sojabohnen, Süßkartoffeln und diversen Gemüsen. Reis
war eher selten.
Die einstöckigen Bauernhäuser waren zumeist aus Lehm, errichtet
auf einem flachen Fundament aus Ziegelsteinen. Das Dach war entweder
flach und mit Hirse-Stroh (West-Shandong) oder schräg und dann mit
Weizen-/Gersten-Stroh (Ost-Shandong) gedeckt. In den Berggebieten
überwogen Grasdächer. Wenige wohlhabende Bauern konnten sich Häuser
leisten, die ganz aus Ziegelsteinen gebaut und mit Dachziegeln gedeckt
waren. Der Fußboden bestand aus gestampftem Lehm, geschlafen wurde
auf dem als »Kang« bekannten, gemauerten Ofenbett, das mit dem Herdfeuer
der Küche beheizt wurde.
Die Kleidung war aus einfachem Baumwollstoff oder der Faser der
Kopou-Bohne (Pueraria lobata) gefertigt.
Als Transport- und Fortbewegungsmittel dienten große Wagen mit eisenbereiften
hölzernen Rädern, die hauptsächlich von Rindern gezogen wurden.17
Kleinere Lastentransporte wurden mit der einrädrigen, manchmal besegelten
Schubkarre erledigt, von der F. H. King folgendes berichtet: »For
adaptability to the worst road conditions no vehicle equals the
wheelbarrow, progressing by one wheel and two feet. No vehicle is
used more in China, if the carrying pole is excepted, and no wheelbarrow
in the world permits so high an efficiency of human power as the
Chinese, …, where nearly the whole load is balanced on the axle
of a high, massive wheel with broad tire. A shoulder band from the
handles of the barrow relieves the strain on the hands and, when
the load or the road is heavy, men or animals may aid in drawing,
or even, when the wind is favorable, it is not unusual to hoist
a sail to gain propelling power.»18
Im Shandong des 19. Jahrhunderts richtete sich das Leben noch uneingeschränkt
nach der traditionellen Zeiteinteilung, die für die bäuerliche Bevölkerung
bis heute eine große Bedeutung hat. Der luni-solare chinesische
Kalender berücksichtigt Mond- und Sonnenjahr. Für die Bauern ist
naturgemäß das Sonnenjahr, das in 24 »jieqi« und »zhongqi« (je 12)
genannte Zeitabschnitte unterteilt wird, von größerer Bedeutung,
da sie ihre Arbeit daran - von der Aussaat bis zur Ernte - ausrichten
müssen. Von »lichun« (Frühlingsanfang), beginnend am 5. Februar,
über »qingming« (»klar und hell«, 5. April), »mangzhong« (»Saat
in Ähren«, 6. Juni), »liqiu« (Herbstanfang, 7. August), »hanlu«
(»kalter Tau«, 8. Oktober), »daxue« (»großer Schnee«, 7. Dezember),
bis zu »dahan« (»große Kälte«, 21. Januar), um nur eine Auswahl
zu nennen, verläuft das Arbeitsjahr des Bauern in einem Zyklus,
der die klimatischen Verhältnisse im chinesischen Kernland, so auch
in Shandong, einigermaßen korrekt wiedergibt.19
Die traditionellen Jahresfeste richten sich hingegen nach dem Mondkalender.
Nicht nur zeitlich steht an erster Stelle das Neujahrsfest, das
heute - nach Einführung des gregorianischen Kalenders - »Frühlingsfest«
genannt wird und am 1. Tag des 1. Monats (zwischen 22. Januar und
19. Februar) gefeiert wird. Bezüglich seiner Wichtigkeit und seines
Charakters als Familienfest ist es am ehesten mit unserem Weihnachtsfest
vergleichbar. Zu den üblichen Aktivitäten gehören Opfer an den Himmelsgeist,
die Ahnen, Geister des Glücks und des Wohlstands und den Küchengott.
Manchmal wird auch an Lokalgottheiten geopfert, so in Shandong an
Bixia Yuanjun als Hauptgottheit des heiligen Berges Tai Shan, die
vor allem für den Kindersegen »zuständig« ist. Die drei bis fünf
ruhigen Festtage werden bei viel gutem Essen in der Familie verbracht.
Am zweiten oder dritten Tag werden Nachbarn oder in der Nähe wohnende
Verwandte besucht. Weitere wichtige Festtage sind:
- Das geschäftige Laternenfest (15. Tag des 1. Monats), auch
»kleines Neujahr« genannt, an dem große Märkte stattfinden und die
Nacht mit bunten Laternen, vor allem den Drachenlampions, erleuchtet
wird.
- Das Duanwu-Fest (5. Tag des 5. Monats, in Südchina als
Drachenbootfest bekannt), an dem mit Blättern umwickelte Reis- oder
Hirseklößchen (»zhongzi«) gegessen werden.
- Das Mittherbstfest (15. Tag des 8. Monats), das den Charakter
eines Erntefestes hat und an dem hauptsächlich der Mond verehrt
wird; es werden »Mondkuchen« gegessen und rundförmige Opfergaben
(Mondkuchen, Melonen, Trauben, Pfirsiche, Äpfel, Birnen) dargebracht.
- Innerhalb der Familie ist noch die »Verabschiedung« des
Küchengottes (zaowang) am 23. Tag des 12. Monats wichtig. Dem Glauben
zufolge muß dieser dem Jadekaiser als höchster daoistischer Gottheit
Bericht erstatten. Das Bildnis des Küchengottes wird zu diesem Zweck
mit Hirse-Stroh (seinem »Pferd«) verbrannt. Mancherorts wird vor
der Verbrennung sein Mund mit Honig oder Suppe beschmiert, damit
er nur Gutes berichtet. Dabei sagt man: »Zaowang, Zaowang, wenn
du in die Himmelsräume kommst und den Jadekaiser siehst, sprich
viel Gutes, sprich nicht viel von Einzelheiten und, wenn du wiederkommst,
bringe zwei dicke Kinder mit.«
- Am letzten Tag des letzten Monats werden die Vorbereitungen
für das Neujahrsfest getroffen. Dazu werden die Bilder der Türgeister
und die »duilian« (rote Papierstreifen mit Sinnsprüchen) erneuert.
Überall wird das Schriftzeichen »fu« für »Glück«, auf rotem Papier
geschrieben, angebracht.20
Daneben gab es im Shandong der Qing-Dynastie noch einige regionale
oder lokale Festtage, von denen hier drei erwähnt werden sollen:
- Am 10. Tag des 1. Monats beging man den Geburtstag des
Steingeistes. Mühl- und Mahlsteine durften an diesem Tag nicht umgelegt
oder fortbewegt werden. In Weifang und einigen anderen Gebieten
wurde dem Steingeist auch mit Räucherwerk geopfert.
- Am Tag nach dem Laternenfest floh man vor den »hundert
Krankheiten«: Vor allem die Frauen und Mädchen gingen festlich gekleidet
außer Haus, oft sogar außerhalb der Stadtmauern, um sich bis in
die Abendstunden bei Spaziergängen oder Ballspielen zu vergnügen
und den Krankheiten »davonzulaufen«.
- Am 13. Tag des 5. Monats schleift der Kriegsgott Guan Gong
sein Schwert. Wenn es nicht regnete, bat man ihn vielerorts in großen
Massenzeremonien um Regen, der an diesem Tag als Garant für eine
gute Ernte angesehen wurde.21
Der Lebenszyklus der Menschen, von Geburt über Heirat bis zum Tode,
wurde im Shandong des 19. Jahrhunderts von Übergangsriten begleitet,
die konfuzianische Ethik und Volkstraditionen verbanden. Ehen wurden
zum Beispiel grundsätzlich von den Eltern festgelegt und mit Hilfe
einer Heiratsvermittlerin verabredet. Diese Praxis ist gegenwärtig
leicht abgeschwächt in ländlichen Gebieten noch zu beobachten. Auch
heute dürfen Frauen nach der Geburt einen Monat lang ihr Haus nicht
verlassen. Bei der Begräbniszeremonie wurden »Papiergeld«, eine
aus Papier hergestellte Sänfte für die Seelenreise und andere Gegenstände
aus Papier verbrannt, die dem Toten im Jenseits zur Verfügung stehen
sollten. Auch diese Sitte ist wieder aufgelebt und hat sich mit
der Verbrennung von Autos, Villen und Handys aus Papier der neuen
Zeit angepaßt.22
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