Chinesen unter deutschem
Recht:
Das Justizwesen im Schutzgebiet
von Bernd Leupold
Das Recht und die Organisation
der Rechtspflege im Schutzgebiet Kiautschou war wie in allen deutschen
Kolonien danach ausgerichtet, wer an einem Verfahren beteiligt war.
Für Europäer und die ihnen rechtlich gleichgestellten Amerikaner
und Japaner gab es als erste Instanz das Kaiserliche Gericht von
Kiautschou mit Sitz in Tsingtau. Als zweite und letzte Instanz wirkte
zu-nächst das deutsche Generalkonsulat in Shanghai, nach einigen
Kompetenzstreitigkeiten dann ab 1. Januar 1908 das ebenfalls in
Tsingtau angesiedelte Kaiserliche Obergericht von Kiautschou. Für
die Zuständigkeit dieser Gerichte genügte es, wenn einer der Beteiligten
bei Rechtsstreitigkeiten Europäer war.1
Die Haupttätigkeit dieser Gerichte lag für Nichtchinesen bei Zivilprozessen.
Strafprozesse fielen dagegen kaum ins Gewicht, wurden doch beispielsweise
1912 gegen Nichtchinesen nur 93 Strafsachen anhängig. Davon wurden
49 durch Strafbefehl erledigt, sie betrafen fast ausschließlich
maulkorblose und unversteuerte Hunde. Lediglich in drei Fällen wurden
Freiheitsstrafen verhängt, deren höchste drei Monate Festungshaft
betrug. Dem standen im gleichen Jahr 3580 chinesische Strafsachen
gegenüber.2 Dieses Zahlenverhältnis
entspricht in etwa dem der damaligen Bevölkerungsanteile. Die Chinesen
und die ihnen rechtlich gleichgestellten anderen Asiaten außer den
Japanern unterstanden in erster Instanz der Gerichtsbarkeit der
Bezirksämter Tsingtau und Litsun. Sie fungierten als besondere gleichgeordnete
Gerichte und waren mit deutschen Verwaltungsbeamten besetzt. Die
Zuständigkeit des Bezirksamtes Tsingtau erstreckte sich auf den
städtischen Verwaltungsbezirk, das Bezirksamt Litsun übte für seinen
Amtsbezirk gleichzeitig die Gerichtsbarkeit und die gesamte lokale
Verwaltung aus. Mit dem bei der Gerichtsbarkeit für Europäer im
Schutzgebiet genau eingehaltenen Grundsatz der Trennung von Justiz
und Verwaltung wurde hier ganz bewußt gebrochen, da dieser dem chinesischen
Recht fremd war.3
Die beiden Gerichte waren erste Instanzen in Zivilsachen, sofern
der Streitwert 250 mexikanische Dollar nicht überstieg. Für Gefängnisstrafen
bis zu drei Monaten, Geldstrafen bis 500 Dollar, Prügelstrafe und
Ausweisung aus dem Schutzgebiet waren diese ebenso zuständig, wobei
diese Strafen sowohl einzeln als auch in Verbindung miteinander
verhängt werden konnten. Zweite und Berufungsinstanz war das Kaiserliche
Obergericht. Berufungsfähig waren allerdings ausschließlich Urteile
der Bezirksämter in Zivilsachen, wenn der Streitwert 150 Dollar
überstieg, und in Strafsachen, wenn höhere Strafen als sechs Wochen
Gefängnis oder 250 Dollar ausgesprochen wurden. Chinesen nutzten
die Möglichkeit der Berufung jedoch nur vereinzelt. Für alle nicht
in die Zuständigkeit der Bezirksämter fallenden Straf- und Zivilsachen
war das Kaiserliche Gericht von Kiautschou erste Instanz. Gegen
Urteile dieses Gerichts konnte keine Berufung eingelegt werden.4
Verfahren
Die Untersuchung wurde in aller Regel vom Bezirksamtmann, im Stadtgebiet
von Tsingtau mit Unterstützung des Polizeiamtes, geführt. Dies galt
auch, wenn die Angelegenheit in die Zuständigkeit des Kaiserlichen
Gerichtes fiel. Da eine ständige Staatsanwaltschaft fehlte, mußte
der Richter beim Aufkommen eines Verdachtes einer strafbaren Handlung
die Untersuchung einleiten. Notwendig war beim Prozeß lediglich
die Anwesenheit des Richters, ein Gerichtsschreiber war nicht erforderlich,
da ein ordentliches Sitzungsprotokoll und die Protokollierung von
Zeugenaussagen nicht vorgeschrieben waren. In Angelegenheiten mit
chinesischen Beteiligten urteilte der Richter bzw. der Bezirksamtmann
als Einzelrichter, also ohne durch den Oberrichter ernannte Beisitzer
wie bei Verfahren gegen Europäer. Er entschied außerdem eigenständig
über die Zulassung von Rechtsanwälten.
Dem Gericht war ein in der chinesischen und der japanischen Sprache
ausgebildeter Dolmetscher beigeordnet. Da die Bezirksamtmänner als
ehemalige Dolmetschereleven mit den Landessitten vertraut waren
und selbst gut chinesisch sprachen, wurden diese Hilfskräfte dort
nicht benötigt. Wie beim chinesischen Verfahren mußte der Angeklagte
während der Verhandlung gefesselt und mit gesenktem Kopf vor dem
Richter knien. Sogar christliche Chinesen waren zum Eid nicht zugelassen.
Nur der Tenor als entscheidender Teil des Urteils wurde schriftlich
abgefaßt. Die Begründung mußte dagegen nicht niedergeschrieben werden.
Bei Ladungen, Androhungen von Nachteilen und Zustellung des Urteilstenors
zur Zwangsvollstreckung mußte der Inhalt zusätzlich auch in chinesischen
Schriftzeichen wiedergegeben sein. In Ausnahmefällen wurden Zivilprozesse
dem »Chinesenausschuß« der chinesischen Handelskammer zur Erledigung
im Vergleichsweg übergeben.5
Polizeistrafgewalt
Auch das Polizeiamt hatte weitreichende Strafbefugnis. Der Polizeichef
verfügte über das Recht, bei Übertretungen und Zuwiderhandlungen
gegen Verordnungen des Gouverneurs eine sofort zu vollstreckende
Strafe bis zu 10 Dollar oder bis zu 25 Hieben zu verhängen, sofern
die Beweislage eindeutig war. In diesen Fällen wurde bei der Festnahme
oder Vorführung durch die Polizeibehörde ein Registerbogen angelegt,
in dem Namen, Einlieferungstag, Gegenstand der Beschuldigung, Beweismittel
und die Bestrafung eingetragen wurden. Das Strafurteil wurde nicht
schriftlich zugestellt, sondern dem Angeklagten nur mündlich eröffnet.6
Materielles Recht
Im Zivilrecht wurde für Chinesen ganz bewußt das örtliche Gewohnheitsrecht
zugrunde gelegt, insbesondere beim Familien- und Erbrecht, aber
auch beim Arbeits- und Gesinderecht.7
Das chinesische Vertrags- und das Sachenrecht - hier speziell das
Grundstücksrecht - wurden jedoch nicht angewandt, um die damit nicht
vertrauten Kolonisten nicht zu benachteiligen.
Im Strafrecht kam das deutsche Reichsrecht zur Anwendung.8
Dies betraf Verbrechen oder Vergehen gegen Gesundheit, Leben, Freiheit
und Eigentum sowie bei Übertretungen von besonderen Vorschriften
des Gouvernements. In allen anderen Fällen galt das chinesische
Strafrecht, was mit der Achtung vor der chinesischen Kultur begründet
wurde,9 jedoch mit der milderen deutschen
Strafzumessung. Verhängt wurden bis zu 100 Hiebe Prügelstrafe, Geldstrafe
bis 5000 Dollar und bei Personen über 18 Jahren Freiheitsstrafe
bis zu 15 Jahren und lebenslängliche Freiheitsstrafe. Ferner war
die Ausweisung aus dem deutschen Territorium selbst bei Eingesessenen
des Schutzgebiets möglich. Auch die Todesstrafe, die gegenüber dem
chinesischen Recht dahingehend abgemildert wurde, daß die entehrendste
Form - die Zerstückelung - nicht angewandt, sondern durch Enthauptung
ersetzt wurde, konnte verhängt werden. Bei der Prügelstrafe, die
nur gegen männliche Personen ausgesprochen werden konnte, wurde
auf den Gesundheitszustand des Verurteilten Rücksicht genommen,
und es durften bei jedem einzelnen Strafvollzug höchstens 25 Hiebe
erteilt werden.
Die Strafmündigkeit begann mit dem vollendeten zwölften Lebensjahr.
Chinesischer Rechtsauffassung entsprach außerdem, daß für die Handlungen
jugendlicher Personen deren Vater, älterer Bruder, Vormund oder
diejenige Person verurteilt werden konnte, deren Obhut der jugendliche
Straftäter anvertraut war.10 Englischer
Rechtstradition entstammte die Möglichkeit, bei Ersttätern gegen
Kaution, die in seltenen Fällen sogar erlassen wurde, die Bestrafung
auf Bewährung auszusetzen, und ferner die Chance des Verurteilten
auf Haftentlassung nach Ableistung der Hälfte der verhängten Strafzeit
wegen guter Führung.11 In den beiden
Gefängnissen, in Tsingtau und in Litsun, wurden die mit einer Fußkette
gefesselten Gefangenen zu Erdarbeiten eingesetzt. Da Haftstrafen,
zumal im Winter, von den ärmeren Chinesen kaum als ernste Strafen
empfunden wurden und Geldstrafen mangels Vermögen nicht eingetrieben
werden konnten, griff man in der Regel auf die Verhängung der in
den meisten Staaten Deutschlands auch erst Mitte des 19. Jahrhunderts
abgeschafften Prügelstrafe zurück.12
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