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Deutsche Vorposten im Hinterland:
Die infrastrukturelle Durchdringung der Provinz Schantung

von Klaus Mühlhahn

Mit der Besetzung der Jiaozhou-Bucht durch das Ostasiatische Kreuzergeschwader im November 1897 verfolgte das Deutsche Reich hauptsächlich das Ziel, in den Besitz einer Flotten- und Kohlestation an der chinesischen Küste zu gelangen. Als besondere Form der »Hafenkolonie«1 wurde Kiautschou später daher auch dem Reichsmarineamt (und nicht etwa der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt) unterstellt. Zweck einer solchen Stützpunktkolonie war die »kommerzielle Erschließung des Hinterlandes und/oder ein Beitrag zur Logistik maritimer Machtentfaltung«.2 Damit sind präzise die beiden Hauptziele des gesamten deutschen kolonialen Projekts in China genannt. Die erfolgreiche Realisierung dieser beiden Hauptziele - kommerzielle Erschließung des Hinterlandes und Beitrag zur Logistik der maritimen Machtentfaltung (Kohlestation, Docks usw.) - hing im wesentlichen jedoch von der Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur ab, mit der Kolonie und Hinterland verbunden werden sollten. Für die deutsche Regierung wie auch für Teile der beteiligten deutschen Wirtschaft hatten daher Bau und Betrieb von Eisenbahnen und Bergwerken in der Provinz Shandong absolute Priorität vor allen anderen kolonialen Aufgaben. Aus diesem Grund war die möglichst umfassende Förderung und politische Absicherung des Eisenbahnbaus und der Bergwerksunternehmen ein zentrales Anliegen des Gouvernements und der damit befaßten staatlichen Stellen in Berlin wie Auswärtiges Amt und Reichsmarineamt.
Die große politisch-ökonomische Bedeutung von Eisenbahn und Bergbau wurde auch von der chinesischen Regierung und der chinesischen Wirtschaft gesehen. Versuche zur Rückgewinnung der verlorenen Rechte und damit zur Wiedererlangung der politischen Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung Schantungs standen daher ab 1900 im Mittelpunkt der chinesischen Politik gegenüber Kiautschou. Es entstand eine breite regionale politische Bewegung, deren Ziel die Annulierung der deutschen Sonderrechte und die Wiederherstellung der chinesischen Souveränität waren. Die Mittel, die diese Bewegung anwandte, waren vielfältig: Den deutschen Unternehmen wurden nach Möglichkeit administrative Schwierigkeiten bereitet, die chinesischen Minen erfuhren massive staatliche Unterstützung, mit Hilfe von Aktienkäufen sollte Einfluß auf die deutschen Unternehmen gewonnen werden. Dem ökonomischen Widerstand sowie der Konkurrenz chinesischer Unternehmen sowohl bei der Eisenbahn, aber vor allem beim Bergbau gelang es, die deutsche Regierung zum Verzicht auf Bestandteile des Vertrages vom 6. März 1898 zu bewegen.
Die infrastrukturelle Durchdringung der Provinz Schantung durch das Deutsche Reich in den Jahren von 1897 bis 1914 stellte ein wesentliches Konfliktfeld zwischen dem Deutschen Reich und China dar, auf dem die chinesische Politik sich erstmals erfolgreich gegen die wirtschaftliche Expansion einer europäischen Großmacht durchsetzte.

Die deutsche Interessensphäre im Hinterland
Zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen und militärischen Interessen im Hinterland der Kolonie, das heißt in der Provinz Schantung, bediente sich das Deutsche Reich des in China bereits insbesondere von England erprobten Instruments der Interessensphäre oder auch Einflußsphäre.3 Die rechtliche Grundlage dafür stellten die Bestimmungen des Pachtvertrages vom 6. März 1898 dar.4 In Teil II des Vertrages wurden dem Deutschen Reich von China die Konzession zum Bau und Betrieb zweier Eisenbahnlinien (Jiaozhou - Jinan - Dezhou und Jiaozhou -Yizhou - Jinan) gewährt. Entlang der beiden Strecken wurde darüber hinaus deutschen Unternehmen in einer Zone von 15 km (30 Li) beiderseits des Bahndammes der Abbau von Kohlevorkommen gestattet. Teil III des Vertrages sicherte Deutschland außerdem Prioritätsrechte in Shandong zu, das heißt, bei Aufträgen an ausländische Firmen sollten deutsche Unternehmen stets den Vorzug erhalten. Diese vertraglichen Bestimmungen stellten den groben politisch-rechtlichen Rahmen der deutschen Aktivitäten in Shandong dar, die darauf hinausliefen, deutsche Unternehmen zu privilegieren durch Ausschaltung jeglicher Konkurrenz, sowohl seitens Unternehmen anderer Mächte als auch chinesischer Unternehmen.
Nach Unterzeichnung des Vertrages wurde das Auswärtige Amt, in dessen Geschäftsbereich alle Angelegenheiten im Hinterland fielen, sofort tätig. Der deutsche Staat wollte die privaten ökonomischen Kräfte organisieren und bündeln (und keineswegs sich selbst oder den Widrigkeiten des Marktes überlassen). Man bemühte sich zunächst darum, unter Beteiligung möglichst vieler deutscher Unternehmen (Banken, Stahlindustrie, Chinahandel, Reedereien) ein gemeinsames kapitalkräftiges Syndikat zu gründen.5 Am 24. Mai 1898 bewarben sich die verschiedenen Gruppen gemeinsam beim Reichskanzler um die Konzession für Eisenbahn und Bergbau in Shandong.6 Das Syndikat wurde im wesentlichen von der Deutsch-Asiatischen Bank dominiert. Am 1. Juni 1899 übertrug der Reichskanzler dem von dem vereinigten Syndikat gebildeten Unternehmen »Schantung-Eisenbahngesellschaft« die Konzession zum Bau und Betrieb der Bahnlinie zwischen Jinan und Qingdao.7 Die Konzession zur Anlage und zum Betrieb von Bergwerken in der Zone beiderseits der Eisenbahntrasse wurde am 1. Juni 1899 der »Schantung-Bergbaugesellschaft« übertragen, die von demselben Syndikat gebildet worden war.8 Beide Unternehmen waren Aktiengesellschaften. Die Kapitalausstattung der am 14. Juni 1899 gegründeten Schantung-Eisenbahngesellschaft betrug 54 Millionen Mark. Die Schantung-Bergbaugesellschaft wurde am 10. Oktober 1899 gegründet und verfügte über ein Grundkapital von 12 Millionen Mark.9 Obwohl es sich bei beiden Unternehmen nach dem Vertrag vom 6. März 1898 eigentlich um deutsch-chinesische Gemeinschaftsunternehmen handeln sollte, wurden keine konkreten Maßnahmen unternommen, um chinesischen Interessenten Aktienkäufe zu ermöglichen.10
Die schnelle Errichtung einer Bahnlinie, die Kiautschou mit dem ökonomischen Zentrum der Provinz Shandong am Kaiserkanal um die Hauptstadt Jinan verbinden würde, war von vitalem Interesse für die deutsche Kolonie. Daher sollte zunächst vor allem die Jinan-Qingdao-Bahn errichtet werden, über den zeitlichen Rahmen der Errichtung der anderen im Pachtvertrag zugesicherten Bahnlinie von Qingdao nach Yizhou sollte später entschieden werden. Nach Gründung der beiden Gesellschaften wurde sogleich mit Vorbereitungen vor Ort (Probebohrungen, Geländeerkundungen) begonnen. Die Vermessungsarbeiten für die Linienführung der Eisenbahntrasse Qingdao-Jinan begannen im Sommer 1899. Diese Vorgehensweise bedeutete faktisch eine Realisierung der Eisenbahn- und Bergbauprojekte ohne Absprache und Kooperation mit der chinesischen Seite. Im Vertrag vom 6. März 1898 (II. Teil, Artikel III) war näm-lich festgelegt worden, daß zur Regelung von Einzelheiten bezüglich Eisenbahnbau und Bergbau (wie zum Beispiel Linienführung, Vorgehen zum Erwerb der erforderlichen Grundstücke) besondere Verträge mit dem Gouverneur von Schantung abgeschlossen werden sollten. Die deutsche Seite war jedoch an solchen Vertragsabschlüssen nicht interessiert, obgleich der Gouverneur von Schantung mit Hinweis auf den Vertrag vom 6. März 1898 immer wieder ein solches Abkommen gefordert hatte.11 Das deutsche Unternehmen befürchtete offensichtlich, daß jede weitere vertragliche Regelung den Spielraum der deutschen Unternehmen einengen würde. Schwierigkeiten sollten nach ihrer Ansicht daher eher von Fall zu Fall als durch ein generelles Abkommen gelöst werden.12

Der chinesische Widerstand gegen den Bau der Schantung-Eisenbahn
Das einseitige deutsche Vorgehen spielt eine wichtige Rolle für das Entstehen des vehementen Widerstands der chinesischen Bevölkerung und von Teilen der Administration in den Jahren 1899 und 1900 gegen den Bau der Eisenbahn. Der chinesische Protest begann mit den ersten Vermessungsarbeiten im Juni 1899 und setzte sich bis Dezember 1900 fort. Für den Widerstand, der sowohl von den chinesischen Bauern als auch von den Gelehrten und Grundbesitzern getragen wurde, gab es jeweils sehr konkrete Ursachen, die keineswegs in den Bereich irrationaler, anti-modernistischer Vorbehalte zu verweisen sind (wie etwa, daß die Eisenbahn die Ruhe der Ahnen störe).
Als zum Beispiel im Juni 1899 in den Dörfern Dalü und Tidong im Kreis Gaomi die Bevölkerung Vermessungspfähle der Schantung-Eisenbahngesellschaft zerstörte und die Eisenbahnarbeiter verjagte, hatte das seine Ursache im Vorgehen der Eisenbahngesellschaft. Zum einen wurde den Bauern für ihr Land nur ein weit unter dem Durchschnitt liegender Preis bezahlt.13 Zum anderen wollte sich die Eisenbahngesellschaft nicht der Mühe unterziehen, in jedem einzelnen Falle die oft schwierigen Besitzverhältnisse zu klären. Häufig wurden ohne abgeschlossenen Kauf des erforderlichen Grundes und Bodens die Arbeiten einfach weitergeführt.14 Zahlungen für die Grundstücke erfolgten außerdem unpünktlich und nach Abzug diverser und unbegründeter Verwaltungskosten.15 Proteste der chinesischen Bauern dagegen wurden ignoriert.
Nachdem die Eisenbahnverwaltung von dem chinesischen Widerstand Kenntnis erhalten hatte, wandte sie sich an den Gouverneur von Kiautschou, Paul Jaeschke, mit der Bitte um ein militärisches Eingreifen. Unter Führung des Hauptmanns Mauve rückten am 21. Juni 1899 80 Seesoldaten und 15 Mann Kavallerie in Richtung Gaomi vor. Am 24. Juni erreichte die Abteilung den Ort Tidong, der befestigt und bewaffnet worden war. Das Dorf wurde ca. 1 Stunde lang aus Gewehren beschossen und dann gestürmt. Auf chinesischer Seite gab es 17 Tote und eine unbekannte Anzahl von Verletzten.16 Am 25. Juni marschierte Mauve, ohne auf weiteren Widerstand zu treffen, in Gaomi ein. Am 26. Juni wurde das Dorf Liuge nördlich von Gaomi gestürmt. Hierbei wurden 8 Bewohner getötet.17 Die Bewohner von Gaomi wurden entwaffnet, die Stadt von deutschen Truppen für ca. 2 Wochen bis zum 5. Juli besetzt. Das für die Eisenbahngesellschaft wichtigste Ergebnis der Aktion war eine Vereinbarung, die mit dem Magistrat von Gaomi am 2. Juli 1899 getroffen wurde. In ihr wurde festgelegt, daß die lokalen chinesischen Beamten künftig für die Schantung-Eisenbahngesellschaft die Verhandlungen mit den Bauern über den Landkauf führen würden.18 Damit war dem chinesischen Widerstand, der zunächst aus dem Vorgehen der Schantung-Eisenbahngesellschaft beim Landkauf resultierte, in diesem Gebiet die Grundlage entzogen, und die Arbeiten an der Bahnlinie konnten weitergeführt werden.
Trotz der erzielten Übereinkunft entstanden neue Schwierigkeiten: Die ohne Rücksicht auf die chinesische Bevölkerung konzipierte Streckenführung erwies sich nun als hauptsächliche Ursache für den erneut aufflackernden Widerstand der chinesischen Landbevölkerung. Dieser fand an anderer Stelle, nämlich nördlich von Gaomi im Distrikt Haoli, statt. Hier drohte die Eisenbahntrasse die Be- und Entwässerungssysteme empfindlich zu stören. Die Bevölkerung des tiefliegenden und daher traditionell überschwemmungsgefährdeten Bezirkes forderte den Bau mehrerer größerer Brücken, um damit den Abfluß von Regenwasser aus der Ebene zu ermöglichen. Dies lehnte die Schantung-Eisenbahngesellschaft ab mit der Begründung, daß es erstens nicht notwendig und zweitens zu kostspielig sei.19 Infolgedessen kam es Ende des Jahres 1899 und im Frühjahr 1900 zu weiterem Widerstand gegen den Eisenbahnbau. 20 Unter dem Einfluß des Boxeraufstandes entwickelte der Widerstand überdies eine erhebliche Eigendynamik. Die »Boxer für Frieden und Gerechtigkeit« (Yihequan)21 , die unter der Devise kämpften »Unterstützt die Qing-Dynastie, zerstört alles Ausländische!« (fu Qing mie yang!), bekamen in Nordchina immer mehr Zulauf. Im Mai 1900 wurden in ganz Nordchina Eisenbahnen und Telegraphen von den Boxern zerstört. Im geheimen organisierte sich auch die ländliche Bevölkerung in Ost-Shandong bei Weixian und im Haoli-Distrikt. Es wurden Boxeranführer eingeladen, um die ländliche Bevölkerung in den Kampf- und Beschwörungstechniken der in den Augen der ländlichen Bevölkerung so siegreichen Boxer zu unterweisen.
Am 2. Juni 1900 wurde der deutsche Gesandte Ketteler von Boxern in Peking ermordet. Zur selben Zeit wurden auch deutsche Bergwerksingenieure bei Weixian angegriffen. Die Schantung-Eisenbahngesellschaft sah daher nun eine günstige Gelegenheit dafür, das Gouvernement zu weiteren Strafaktionen in Shandong bewegen zu können, um den Widerstand gegen Eisenbahn und Bergbau zu brechen und eine schnelle Wiederaufnahme der Arbeiten zu ermöglichen.22 Bei einem Treffen zwischen dem neuen deutschen Gesandten in Peking, Mumm, dem Oberbefehlshaber des Ostasiatischen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes, Graf Waldersee, und Gouverneur Jaeschke am 6. und 7. Oktober in Tianjin wurde dann die Durchführung von Strafaktionen gegen die ländliche Bevölkerung in der deutschen Interessensphäre beschlossen.23 Am 15. Oktober marschierten unter dem Kommando von Hauptmann Conradi etwa 200 deutsche Soldaten in Gaomi ein. Von Gaomi aus wurden entsprechend dem Beschluß mehrere blutige Aktionen gegen Dörfer im Kreis Gaomi durchgeführt: Am 23. Oktober wurden die Dörfer Kelan und Lijiaying unter Artilleriefeuer genommen und erstürmt; am 1. November wurde das Dorf Shawo (Dujia) nordwestlich von Gaomi beschossen und ebenfalls gestürmt. Bei diesen beiden Aktionen wurden nach deutschen Angaben mindestens 450 Dorfbewohner getötet, darunter zahlreiche Frauen und Kinder.24 Es handelte sich um eine geplante systematische Vernichtung ganzer Dörfer der ländlichen, oft unbeteiligten Zivilbevölkerung. Zum Schutz der Eisenbahn verblieben die deutschen Marineinfanteristen für fünf Jahre in Gaomi und Jiaozhou. Es wurden dort Kasernen gebaut, die je 200 Soldaten aufnehmen konnten. Nach diesen Strafaktionen gab es keinen weiteren Widerstand mehr.
Kurze Zeit später stellte sich heraus, daß die Befürchtungen der chinesischen Bevölkerung in bezug auf den Bahnbau keineswegs unbegründet waren: Im Sommer 1902 kam es aufgrund starker Regenfälle an nur vier Tagen im Juli in der Gegend von Gaomi zu schweren Überschwemmungen. Zahllose Dörfer und Häuser wurden zerstört, die Äcker und Felder in der Gegend überflutet. Im Auftrag des Gouvernements bereiste ein Marine-Ingenieur im August 1902 die Gegend. Er stellte in seinem geheimen Bericht fest, daß diese Überschwemmungen zweifelsfrei durch den Eisenbahndamm verursacht worden seien.25
Anläßlich der fortdauernden Konflikte beim Eisenbahnbau in Gaomi drängte der Gouverneur von Shandong, Yuan Shikai, auf den Abschluß von Verträgen mit der Schantung-Eisenbahngesellschaft, um künftige Konflikte zu vermeiden.26 Die Verhandlungen darum im Frühjahr 1900 gestalteten sich schwierig. Bereits bei der ersten Verhandlungsrunde erklärte Yuan Shikai »in bestimmtester Weise, daß nur nach vertraglicher Festlegung des Verhältnisses zwischen dem Eisenbahnunternehmen und der chinesischen Regierung ein ungestörter Fortgang der Eisenbahnarbeiten und ein wirkungsvoller Schutz derselben durch die Behörden der Provinz Schantung möglich sei«.27 Nach langen Verhandlungen über einzelne Bestimmungen wurden am 27. März 1900 mit der Bergbau-Regulative und der Eisenbahn-Regulative zwei privatrechtliche Abkommen zwischen den deutschen Unternehmen und dem chinesischen Staat geschlossen.28 Die Abkommen legten den deutschen Unternehmen bestimmte Verpflichtungen auf in bezug auf Bau und Betrieb von Eisenbahn und Bergwerken, insbesondere bei Landkauf und Beilegung von Konflikten zwischen den beiden Gesellschaften und der ansässigen Bevölkerung. Als Gegenleistung erklärte sich der Gouverneur von Shandong bereit, den Schutz der deutschen Anlagen außerhalb der »neutralen Zone« zu gewährleisten. Mit den Abkommen gelang es Yuan Shikai, weitere gewalttätige Konflikte beim Eisenbahnbau und Bergbau nach 1900 zu verhindern, allerdings um den Preis, daß er chinesische Truppen gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, um rigoros jeden Protest zu unterdrücken.

Bau und Betrieb der Jinan-Qingdao-Eisenbahn
Mit den ersten Erdarbeiten wurde am 23. September 1899 in Qingdao begonnen. Fast das gesamte Baumaterial für den Eisenbahnbau wurde aus Deutschland geliefert.29 Die Schantung-Eisenbahngesellschaft hatte im Sommer 1899 bereits Verträge im Wert von 25 Millionen Mark mit deutschen Firmen über die Lieferung von Materialien abgeschlossen.30 Die Arbeiten wurden zum Teil von chinesischen Subunternehmen durchgeführt (zum Beispiel Erdaufschüttungen, Transportarbeiten usw.), zum Teil von chinesischen Arbeitern unter deutscher Leitung (Konstruktionsarbeiten usw.). Zeitweise arbeiteten zwischen 20000 und 25000 chinesische Arbeiter an der Bahnlinie. Ihre Lebens- und Arbeitsumstände waren erdrückend. Die Arbeiter lebten in einfachsten, in die Erde gegrabenen Strohhütten zu je 20 und mehr Personen. Unter diesen armseligen Verhältnissen breiteten sich ansteckende Krankheiten wie Typhus und Cholera leicht aus und forderten viele Menschenleben unter den Arbeitern.31
Auch nach der Niederschlagung der Widerstandsbewegung 1899/1900 gab es immer wieder Konflikte um die Vorgehensweise der Schantung-Eisenbahngesellschaft: Das Unternehmen schloß zum Beispiel Verträge ab mit Firmen, die Arbeiter außerhalb von Shandong anwarben, zum Teil unter Lohnversprechen, die später nicht eingehalten wurden. Schließlich entstanden Streitigkeiten zwischen den aus Nordchina angeworbenen Eisenbahnarbeitern und der lokalen ländlichen Bevölkerung. Betrügereien und Vergewaltigungen seitens der Eisenbahnarbeiter kamen immer wieder vor.32 Diese wurden selten geahndet, da die Eisenbahnarbeiter sich auf den Schutz der Schantung-Eisenbahngesellschaft verlassen konnten. Die Eisenbahnarbeiter waren daher bei der Bevölkerung verhaßt, was zu häufigen Auseinandersetzungen führte. Einen weiteren Streitpunkt stellten die teilweise betrügerischen Praktiken und die verbreitete Korruption bei der Vergabe von Aufträgen an chinesische Firmen dar.33
Dank dem massiven Schutz der Eisenbahn durch deutsches Militär in der »neutralen Zone« und durch chinesische Polizei34 außerhalb der Zone schritt der Bau der Eisenbahn rasch voran. Der erste Streckenabschnitt wurde im April 1901 zwischen Qingdao und Jiaozhou in Betrieb genommen. Der reguläre Verkehr auf der gesamten, 394 km langen Strecke zwischen Jinan und Qingdao wurde am 1. Juni 1904 aufgenommen. Damit war eine Bestimmung der Konzession, nämlich die Fertigstellung der Eisenbahn innerhalb von fünf Jahren, eingehalten worden. Zur Erschließung der Kohlefelder wurde außerdem eine Zweigbahn nach Boshan errichtet. Die gesamten Baukosten beliefen sich auf ca. 52 Millionen Mark, blieben somit um 2 Millionen Mark unter dem ursprünglichen Ansatz.35 Mehr als die Hälfte der Gelder für die Baukosten ist in Form von Lieferaufträgen nach Deutschland zurückgeflossen, nur etwa 30 Prozent der Bausumme kamen nachweislich der chinesischen Wirtschaft zugute.36 Der Personenverkehr der Jinan-Qingdao-Bahn entwickelte sich von Beginn an positiv. Für die Strecke mit insgesamt 56 Haltestationen benötigte die Bahn fast 12 Stunden, während zuvor etwa 10 bis 12 Tage notwendig waren. Das Frachtgütergeschäft blieb hingegen zunächst hinter den Erwartungen zurück. Das lag zum einen daran, daß die deutschen Minen nicht so große Transportvolumina in Anspruch nahmen, wie ursprünglich gehofft worden war, zum anderen waren die Frachtsätze zu hoch. Chinesische Händler zogen daher traditionelle Transportwege vor (zum Beispiel über den Kaiserkanal nach Südchina oder über den Xiaoqing-Fluß [Xiaoqinghe] nach Nordchina). Hier zeigt sich, wie konkurrenz- und widerstandsfähig die herkömmlichen Verkehrsstrukturen aufgrund ihres Kostenvorteils lange Zeit waren. Nach 1908 verzeichnete jedoch auch das Frachtgeschäft kräftige Zuwachsraten, weil nun die gute, von der Schantung-Bergbaugesellschaft bei Boshan geförderte Kohle zu transportieren war.

Der Konkurrenzkampf zwischen deutschen und chinesischen Bergwerksunternehmen
In den Jahren 1899 und 1900 ließ die Schantung-Bergbaugesellschaft Untersuchungen und Probebohrungen in Weixian und Yizhoufu anstellen. Nachdem die anfänglichen Probleme mit dem Landankauf gelöst waren, gab es seitens der chinesischen Bevölkerung keinen Widerstand mehr gegen die Minenunternehmen. Der Betrieb von Bergwerken beeinflußte ein räumlich viel kleineres Gebiet als der Eisenbahnbau. Außerdem wurde seit Jahrhunderten an denselben Stellen Bergbau betrieben, und es existierten an den meisten Orten bereits chinesische Minen. Nach Abschluß des Kiautschou-Vertrages hatte der Gouverneur von Schantung, Zhang Rumei, in einem Edikt vom Mai 1898 die chinesischen Kaufleute und Händler dazu aufgefordert, Minen und Bergwerke zu eröffnen, um zu verhindern, daß der Kohlenabbau in Shandong von den deutschen Firmen monopolisiert werde.37
Da der Bau der Bahnlinie Qingdao-Yizhoufu zunächst nicht geplant war, konzentrierte die Schantung-Bergbaugesellschaft ihre unternehmerischen Aktivitäten auf zwei Reviere an der Qingdao-Jinan-Bahn. 1902 wurden die Förderanlagen an der Fangzi-Grube bei Weixian in Betrieb genommen. 1907 begann die Kohleförderung in der Hongshan-Grube bei Boshan. Bei beiden Gruben wurde mit modernen Anlagen Steinkohle abgebaut.38 Der Untertagebetrieb wurde von chinesischen Arbeitern durchgeführt, beaufsichtigt und organisiert von chinesischen Subunternehmern. In ihrem letzten Geschäftsjahr 1912 als eigenständiges Unternehmen beschäftigte die Schantung-Bergbaugesellschaft in Weixian 2330 und in Boshan 3082 chinesische Arbeiter sowie insgesamt 73 deutsche Angestellte.39 1907 ereignete sich im Fangzi-Schacht eine Gasexplosion, bei der mehr als 100 chinesische Arbeiter getötet wurden.40 Auch hier lebten die chinesischen Arbeiter unter ärmlichsten Umständen.
Die Hongshan-Kohle war von guter Qualität und konnte an den großen chinesischen Handelsplätzen wie Shanghai, Tianjin, aber auch Qingdao abgesetzt werden. Die Kohle aus der Fangzi-Grube erwies sich jedoch als nicht verwendungsfähig bei der Eisenbahn und bei der Dampfschiffahrt. Da die Kohle auf dem nationalen chinesischen und auf dem internationalen Markt nicht absetzbar war, sollte der lokale Markt damit beliefert werden. Dem diente die Errichtung einer Kohlenwaschanlage und einer Brikettfabrik im Jahr 1906. Allerdings konnten auch die für den Hausbrand produzierten Briketts nicht mit der ungleich billigeren Kohle aus den chinesischen Minen konkurrieren.
Hier wirkte sich außerdem eine für das deutsche Unternehmen verhängnisvolle Bestimmung in der Bergbau-Regulative (Artikel 17) aus, in der den bestehenden chinesischen Unternehmen der Weiterbetrieb zugesichert wurde. In der Folge wurden die chinesischen Betriebe, insbesondere nach Fertigstellung der Eisenbahn, modernisiert und erweitert. Die Schantung-Bergbaugesellschaft protestierte wiederholt dagegen und versuchte, auch das Auswärtige Amt und die deutsche Gesandtschaft zu einer Intervention zu veranlassen. Der Gouverneur der chinesischen Provinz Shandong ebenso wie das chinesische Außenministerium wiesen jedoch den Protest unter Hinweis auf den Artikel 17 der Bergbauregulative zurück. Im Januar 1905 begannen zwar Verhandlungen zwischen dem deutschen Konsul Betz und dem Gouverneur von Shandong, bei denen sich auch herausstellte, daß der unklar formulierte Artikel 17 unterschiedlich ausgelegt wurde.41 Für die chinesische Seite aber ließ der Artikel eine Erweiterung und Modernisierung der bestehenden chinesischen Anlagen durchaus zu. Daher endeten die Verhandlungen, ohne daß eine von der Schantung-Bergbaugesellschaft gewünschte Neufassung erzielt werden konnte.
Die chinesischen Unternehmer, Kaufleute und Beamten versuchten immer enger zusammenzuarbeiten, um wirtschaftliche Schlüsselsektoren wie Bergbau und Eisenbahn unter einheimische Kontrolle zu bringen. Es entstand eine organisierte regionale Bewegung, die danach trachtete, die deutschen Sonderrechte zurückzugewinnen.42 Die chinesischen Bergbaubetriebe erneuerten weiterhin ihre Anlagen, zum Teil mit staatlicher Unterstützung, und erhöhten ihre Förderung.43 Für die Schantung-Bergbaugesellschaft bedeutete dies, daß die Aussichten auf eine solide und eigenständige Geschäftsgrundlage immer weiter zurückgingen. Bis 1912 ergab sich bereits ein Verlustsaldo von 1,23 Millionen Mark. Eine außerordentliche Generalversammlung am 29. Oktober 1912 beschloß schließlich, die Aktien der Schantung-Bergbaugesellschaft der Schantung-Eisenbahngesellschaft anzubieten. Am 1. Januar 1913 wurde die Bergbaugesellschaft von der Eisenbahngesellschaft übernommen, ohne daß die Schantung-Bergbaugesellschaft jemals eine Dividende ausbezahlt hätte.

Die Liquidierung der deutschen Sonderrechte in Shandong
Der Bewegung zur Rückgewinnung der verlorenen Rechte, an der Beamte, Unternehmer und Gelehrte teilhatten, gelang es schließlich, eine weitgehende Annullierung der deutschen Sonderrechte in Shandong zu erreichen. Aufgrund der starken Konkurrenz chinesischer Minen erklärte sich die Schantung-Bergbaugesellschaft 1911 bereit, gegen eine Entschädigungszahlung auf die ihr noch zustehenden, aber bisher nicht genutzten Rechte zur Eröffnung von Minen in der 30-Li-Zone entlang aller im Vertrag von 1898 genannten Eisenbahnstrecken vollständig zu verzichten. Auch im Hinblick auf die Eisenbahnrechte war China erfolgreich. Von den im Vertrag von 1898 erwähnten drei Konzessionen für Eisenbahnlinien konnte durch die Schantung-Eisenbahngesellschaft nur eine genutzt werden. Die Abschnitte Yizhou-Jinan und Jinan-Dezhou sollten als Teilstücke der Tianjin-Pukou-Bahn von einem deutsch-englischen Konsortium errichtet werden. Hier setzte China in den Verhandlungen zum Vertragsabschluß im Juni 1908 durch, daß diese Teilstücke ebenso wie die gesamte Strecke als chinesische Staatsbahn gebaut werden sollten, das heißt, daß die Rechte in bezug auf Eigentum, Verwaltung und Betrieb bei China lagen, nur Finanzierung und Bau hingegen durch das deutsch-englische Konsortium erfolgten. Bezüglich der Eisenbahn Gaomi - Yizhou und einer westlichen Verlängerung von Jining nach Kaifeng setzte China 1909 durch, daß die Bahnen als chinesische Staatsbahnen gebaut werden sollten, allerdings unter Hinzuziehung deutscher Ingenieure und Technik. Außer zu einer Absichtserklärung, diese Bahnen bauen zu wollen, hatte sich jedoch die chinesische Regierung zu nichts verpflichtet. Im Juni 1909 regte der deutsche Gesandte in Peking, Rex, sogar die Rückgabe der gesamten Jinan-Qingdao-Bahn an China an. Er führte als Begründung ins Feld: »Die Stimmung der Bevölkerung von Shandong ist immer noch eine bald latente, bald offen hervortretende Feindseligkeit gegen die Deutschen. Es läge im Interesse unserer allgemeinen chinesischen Politik diese gefährliche Reibungsfläche in Shandong möglichst zu entfernen. Das auf chinesischer Seite gegen Qingdao bestehende Odium würde wesentlich schwinden, wenn die Chinesen am Ertrag der Bahn und somit am Aufblühen des Hafens mit interessiert wären. Qingdaos ganze Zukunft hängt aber davon ab, daß die Chinesen an dem Hafen und der Kolonie ein eigenes Interesse gewinnen.«44 Der Vorschlag von Rex fand jedoch in Berlin kein Gehör, seine Realisierung hätte das Eingeständnis bedeutet, daß die Politik der erzwungenen Sonderrechte wirtschaftlich gescheitert war.
Die 1898 dem Deutschen Reich eingeräumten Prioritätsrechte waren 1914 somit bis auf die Qingdao-Jinan-Eisenbahn und zwei Minen bei Fangzi und Hongshan sowie einige Optionen (auf Aufträge beim Bau der Eisenbahnlinie Gaomi-Yizhou sowie Beteiligung bei einem Stahlwerk in Jinling) vollständig annulliert worden. Diese Entwicklung spiegelt das wachsende politische und wirtschaftliche Potential Chinas wider.

Das Deutsche Reich in Shandong:
Modernisierung oder Ausbeutung?

Die grundsätzliche Frage, unter der die Aktivitäten des Deutschen Reiches im Hinterland historisch zumeist beurteilt werden, gilt der Wirkung dieser Maßnahmen auf die sozioökonomische Entwicklung in Shandong. Stellt der Bau einer Eisenbahn nicht im Grunde eine frühe Form der »Entwicklungshilfe« dar, wie viele Beobachter damals und heute in Deutschland meinen?45 Oder müssen, wie chinesische Historiker seit den zwanziger Jahren betonen, die deutschen Vorposten im Hinterland als Agenten eines ausbeuterischen Feldzuges des Imperialismus betrachtet werden?
Es steht außer Frage, daß infolge des Eisenbahnbaus ab ca. 1905 eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Shandong einsetzte. Daran beteiligt waren aber auch die von chinesischer Seite seit 1900 entwickelten Pläne und Maßnahmen, als Gegenstrategie zur deutschen Expansion eine autarke einheimische Modernisierung in Gang zu setzen.46 Die ganze Auseinandersetzung zwischen China und dem Deutschen Reich läßt sich nicht auf die Alternative »Modernisierung versus Rückständigkeit« reduzieren, vielmehr ging es im Kern um die politische Frage, wer diesen Prozeß kontrollieren sollte. Und hier war China nicht gewillt, Deutschland einen entscheidenden Einfluß auf Dauer zu überlassen.
Zur Beurteilung der Ausbeutungsthese muß wiederum berücksichtigt werden, daß die meisten deutschen Unternehmen unrentabel wirtschafteten, keine nennenswerten Gewinne erzielten und daher von Aufträgen (sprich: Subventionen) der deutschen Regierung abhängig waren. Wirtschaftlich war das deutsche koloniale Vorhaben total gescheitert.47 Qingdao selbst entwickelte sich zwar bis 1914 zu einem Handelszentrum, aber nur in dem Sinne, daß 95 Prozent des Handels in Qingdao zwischen chinesischen Händlern und mit chinesischen Produkten verliefen. Der deutsch-chinesische Handel blieb hingegen in Qingdao ein Randphänomen.
Zur Analyse der konkreten Wirkung der deutschen wirtschaftlichen Aktivitäten muß der Blick weg von den an das deutsche Pachtgebiet und die Eisenbahn unmittelbar angrenzenden Gebieten hin auf den gesamten Wirtschaftsraum Shandong erweitert werden. Dabei wird deutlich, daß die Regionen an der Eisenbahn unzweifelhaft von den verbesserten infrastrukturellen Bedingungen profitierten. Demgegenüber aber verloren die Gebiete an den traditionellen Verkehrswegen, insbesondere zum Beispiel am Kaiserkanal und an anderen Wasserwegen. Der chinesische Staat zog sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus der Wasserkontrolle und -regulierung im Westen Shandongs zurück, um seine Haushaltsmittel an der Küste zu verwenden mit dem Ziel, der wirtschaftlichen Expansion der Großmächte entgegenzuwirken. Sich selbst überlassen, verarmten die Regionen am Gelben Fluß, was bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt.48 Die räumlichen Disparitäten Shandongs bewirkten darüber hinaus eine langfristige politische Destabilisierung. Die fremdbestimmte Modernisierung Shandongs erwies sich daher als ambivalent.



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Plan der Eisenbahnen und der Kohlegebiete

 

 

 

 

 

 

Grenzstein des deutschen Pachtgebietes

 

 

 

 

 

 

Deutsche Soldaten auf der Stadtmauer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kartenskizze zu militärischen Vorgängen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Skizze der Kohlefelder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Absperrung anläßlich der Lungenpest

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kohlebergwerk

 

 

 

 

Drache auf Steinkohlestück

 

 

 

 

Chinesische Bergleute

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gouverneurstreffen