EinführungAusstellungAufsätzeInformationen    
TSINGTAU Übersichtsseite   TitelübersichtAutorenAnmerkungenLiteraturhinweise   DHM Homepage
 

Der Chor der Gefangenen:
Die Verteidiger von Tsingtau in japanischen Lagern

von Gerhard Krebs

Mit dem Fall Tsingtaus im November des Jahres 1914 befanden sich etwa 5000 Staatsangehörige des Deutschen Reiches1 und Österreich-Ungarns2 in japanischer Kriegsgefangenschaft, unter ihnen der Gouverneur, Kapitän zur See Alfred Meyer-Waldeck. Ihre Unterbringung war improvisiert und entsprechend schlecht, doch wurden sie noch im gleichen Monat nach Japan befördert und dort auf 15 Lager verteilt. Die Zahl und die Orte wechselten im Laufe des Krieges mehrmals. Innerhalb des japanischen Heeresministeriums wurde ein »Informationsbüro für Kriegsgefangenenfragen« gebildet, das unter anderem für die Verbindungsarbeit mit Schutzmächten und Rotem Kreuz zuständig war.3
Die Aufnahme durch die japanische Bevölkerung war im allgemeinen freundlich. Deutsche Zivilisten, die in Japan lebten, blieben die ganzen Kriegsjahre über in Freiheit und wurden nur in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt. Sie konnten, ebenso wie die Deutschen in China, ihren gefangenen Landsleuten über Hilfsvereine allerlei Warenlieferungen und Geldüberweisungen zukommen lassen sowie eine Spendenaktion für Bücher und Musikinstrumente organisieren. Sogar Geldtransfer aus Deutschland war möglich. Besuch durfte in der Regel einmal pro Woche für 30 Minuten empfangen werden.4
Die Unterkünfte waren zunächst provisorischer Natur: Sie bestanden entweder aus öffentlichen Gebäuden, Schulen, Tempeln, Arbeiterunterkünften, Notbehausungen für Katastrophenfälle oder schließlich auch einer geräumten Kaserne. In jedem Falle waren die Lager überfüllt und mit völlig unzureichenden Sanitäranlagen versehen. Von der Bauweise her waren die Häuser nicht für europäische Körpermaße gedacht und nach Landesart unbeheizt. Betten standen nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Außerdem verleideten oft Ungeziefer und Ratten den Gefangenen das Dasein. Das Essen gab ebenfalls häufig Anlaß zu Klagen. Es kam des öfteren zu Schlägen durch das Wachpersonal, auch gegen Offiziere. Harte Disziplinarstrafen wurden oft schon für Lappalien verhängt, wobei die Arrestbedingungen im sogenannten Affenkasten einen besonderen Horror darstellten. Post an die Gefangenen wurde manchmal mutwillig vernichtet, und Pakete wurden mitunter ausgeraubt. Auch Sprachprobleme führten zu allerlei Mißverständnissen und Komplikationen.5 Offiziere wurden in separaten Häusern untergebracht, teilweise wohl, um konspirative Pläne zu unterbinden, teilweise aber auch, um sie besserzustellen. Der sich nach dem Krieg bildende Mythos von der »gemütlichen Kriegsgefangenschaft« in Japan war daher nicht immer voll gerechtfertigt, und einige der Betroffenen haben diesem »daheim entstandenen Märchen« auch vehement widersprochen.6 Viele hatten den Eindruck, daß die Japaner es sich nicht verkneifen konnten, den gefangenen »Weißen« den bisher erlittenen Rassismus heimzuzahlen.7 Sehr viel hing von dem jeweiligen Lagerkommandanten ab, so daß die Behandlung und damit die Stimmung von Ort zu Ort variierten. Kurume erhielt dabei einen besonders schlechten Ruf und Fukuoka nach dem Ausbruch von fünf Gefangenen im Jahre 1915 ebenso, gefolgt von Matsuyama und Marugame. Demgegenüber erfreuten sich Tokushima - und das später nahe davon gegründete Bandô - wie auch Nagoya, Himeji und Asakusa (Tokyo) eines guten Rufes.8 Im allgemeinen aber lebten die Gefangenen unter erträglichen beziehungsweise sich allmählich bessernden Bedingungen. Es gab sogar mitunter Ausgang in die nähere Umgebung und gemeinsame Ausflüge.
Nach und nach wurden ihnen in vielen Lagern auch Möglichkeiten eingeräumt, ihr Schicksal teilweise in eigene Hände zu nehmen. Handwerklich begabte und geschulte Gefangene leiteten Arbeiten an den Unterkünften und Einrichtungen. Von den Insassen angelegte Gemüsegärten, die von ihnen betriebene Tierhaltung und die Schlachterei besserten den für europäische Gaumen ungewohnten Speiseplan auf. Die Japaner unterhielten eine Kantine, in der die Gefangenen einkaufen konnten, soweit sie über finanzielle Mittel verfügten. Außer den Spenden von deutscher Seite erhielten die Gefangenen den gleichen Sold wie japanische Soldaten.9 Ihre Finanzen konnten die Gefangenen mitunter durch Arbeit in den umliegenden Orten oder durch den Verkauf eigener Produkte aufbessern. Es entstanden zahlreiche Theater-, Puppenspiel- und Gesangsgruppen sowie Lagerorchester und Sportvereine.10 Entsprechend gebildete Gefangene organisierten eine Reihe von Unterrichts- und Vortragsveranstaltungen. Dazu gehörten Kurse in ostasiatischer Kultur sowie in japanischer oder chinesischer Sprache. In einigen »Lagerdruckereien« entstanden Zeitungen.11 Auch Bücher wurden gedruckt, vor allem in dem 1917 eingerichteten Bandô.12
Im Laufe des Jahres 1915 wurden die Regeln für die Kriegsgefangenenlager verschärft, nachdem einige Insassen Fluchtversuche unternommen hatten. Aus Fukuoka gelang es vier und aus Shizuoka einem Gefangenen, sich nach China durchzuschlagen. Einer erreichte sogar Deutschland. Der Ausgang wurde nun entweder ganz untersagt oder nur unter strengen Auflagen erlaubt. Japan bestrafte unter Mißachtung geltenden Kriegsrechts Ausbruchsversuche nicht nur disziplinarisch, sondern verfolgte diese auch strafrechtlich. Schon bloße Mitwisserschaft wurde geahndet. So wurden in Fukuoka der Dolmetscher, Dr. Friedrich Wilhelm Hack, und andere Gefangene verurteilt, weil sie Ausbrüche gedeckt hatten. Immerhin aber wurden einige der Haftstrafen reduziert, möglicherweise aus dem Grunde, daß die Schutzmacht USA sich in Tokyo für die Deutschen verwendet hatte.13 Im März 1916 unternahm ein Diplomat an der amerikanischen Botschaft in Tokyo, Sumner Welles, eine Inspektionstour durch die Lager und fand die Situation von Lager zu Lager sehr unterschiedlich. Ausgesprochen schlecht waren die Zustände in Kurume und besonders gut in Oita sowie Tokushima. Bis zu einer zweiten Tour im Dezember 1916 hatten sich die Verhältnisse in fast allen Lagern gebessert.14 Ab Februar 1917, nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland durch die USA, übernahm die Schweiz die Funktion als Schutzmacht, für Österreich-Ungarn tat dies Spanien.
Im April 1917 wurde nahe dem kleinen Ort Bandô auf der Insel Shikoku ein neues Lager für fast 1000 Kriegsgefangene errichtet, andere Camps wurden dafür aufgelöst. Es entwickelte sich unter dem human eingestellten Kommandanten Major Matsue zu einem Musterlager, in dem die Eigeninitiative der Soldaten gefördert wurde. Bandô ist bis auf den heutigen Tag das am besten bekannte Lager in Japan und hat dazu beigetragen, daß die Kriegsgefangenschaft der Deutschen in Japan in verklärtem Licht erscheint. Ein 1972 fertiggestelltes Museum, »Deutsches Haus«, erinnert noch heute an diese Zeit.15
Das Lager Bandô bot viel Platz, erlaubte die Einrichtung vieler Sportanlagen, den Aufbau einer Landwirtschaft auf Pachtland inklusive einer Molkerei und den Aufbau von Werkstätten unterschiedlichster Art. Sogar eine Whisky-Destillerie war vorhanden. Die Gefangenen verkauften ihre Produkte an die Bevölkerung der umliegenden Dörfer bzw. boten ihre Dienstleistungen an. Sie errichteten kleine Gaststätten, die auch von den Japanern frequentiert werden durften und mitunter zu geselligen, binationalen Treffpunkten wurden.16
Auch die Kultur erlebte einen großen Aufschwung. Das Lagerorchester errang geradezu Berühmtheit. Hier erlebte Beethovens 9. Symphonie am 1. Juni 1918 ihre japanische Premiere und begründete eine Tradition, die bis auf den heutigen Tag fortwirkt - sie erklingt regelmäßig gegen Jahreswechsel zu den Feierlichkeiten. Die »Ode an die Freude« ist dadurch fast schon zu nationalem Kulturgut geworden und hält bis auf den heutigen Tag die Erinnerung an den Gefangenenchor von Bandô wach.
Das Kriegsende in Europa im November 1918 führte nur mit großer Verzögerung zu der ersehnten Freiheit. Mitte 1919 wurden aus den Reihen der deutschen Gefangenen die Elsaß-Lothringer in die Freiheit entlassen. Ebenso erging es den Italienern, Polen, Tschechoslowaken und Jugoslawen aus den österreichisch-ungarischen Streitkräften. Erst im Dezember 1919 und im Januar 1920 fand der Heimtransport der deutschen Soldaten auf japanischen Schiffen statt. 171 entlassene Gefangene aber zogen es vor, in Japan zu bleiben. So mancher konnte die in Landwirtschaft, Schlachterei, Molkerei, Bäckerei, Küche und Gaststätten der Lager erworbenen Fertigkeiten nutzen, um sich eine Existenz aufzubauen. Renommierte Back- und Fleischfachbetriebe sowie Restaurants erinnern mit ihren Namen noch heute in Japan an die Gefangenenlager: Freundlieb, Juchheim, Ketel, Lohmeyer.
Auch in der Wissenschaft wirkte sich die Lagervergangenheit vorteilhaft aus. Die entstandenen Lehrbücher der japanischen und der chinesischen Sprache wurden erweitert, neu gedruckt und als Unterrichtsmaterial in Deutschland verwendet. Übersetzungen aus dem Japanischen fanden weitere Verbreitung. Einige Gefangene hatten sich schon vor dem Krieg als Japanologen oder Sinologen profiliert, andere hatten während der Lagerzeit ihr Interesse an der fernöstlichen Kultur gefunden oder vertieft: Carl von Weegmann, Hermann Bohner, Johannes Überschaar und Kurt Meißner. Der Jurist Karl Vogt wurde ein wichtiger Vermittler des japanischen Rechts in Deutschland,17 ähnliches leistete der Maler Fritz Rumpf für die japanische Kunst.18 Auch viele dieser Wissenschaftler blieben in Japan, ebenso wie zahlreiche Kaufleute. Von den Entlassenen kehrten 149 nach Tsingtau und in andere Städte Chinas zurück, 230 gingen nach Niederländisch-Indien, wo die Regierung ihnen Arbeit angeboten hatte.
Untersucht man die moderne japanische Geschichte über einen größeren Zeitraum, so kommt man zu dem Schluß, daß die Gefangenschaft der Deutschen - und das gleiche galt für das Schicksal der Russen 1904/05 - weitgehend von Fairneß und Treue zu internationalem Kriegsrecht geprägt war und damit in krassem Gegensatz zu dem japanischen Verhalten im China-Konflikt und Pazifischem Krieg von 1937 bis 1945 steht. Japan war bis zum Ersten Weltkrieg bemüht, sich als zivilisierte Nation in abendländischem Sinne zu präsentieren und dadurch die Anerkennung als gleichberechtigte Nation zu erlangen.19



zu den Anmerkungen zu den Anmerkungen
zurück zur Übersicht zurück zur Übersicht
zurück zum letzten Aufsatz nach oben vor zum  nächsten Aufsatz

 

 


Kriegszerstörung

 

Japanischer Soldat

 

Sperrung der Hafeneinfahrt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Küche des Kriegsgefangenenlagers

 

Theatergruppe der Kriegsgefangenen

 

Rast während eines Ausflugs