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Vom »jungen Deutsch - China« zum »heiligen Boden des Verständnisses«:
Tsingtau (Qingdao) im Spiegel der deutschen Literatur

von Liu Weijian

Schon vor der Besetzung der Kiautschou-(Jiaozhou-) Bucht durch die kaiserliche Marine spiegelt sich die koloniale Machtexpansion nach China in der deutschen Literatur wider. In seiner Erzählung »Der Kiang-lu« von 1880 beschreibt Karl May, daß die »barbarischen« Europäer »mit Schwert und Pulver« nach China kommen, um seinen »Kindern das Gift des Opiums aufzuzwingen« und seine »Städte zu verheeren«.1 Gestützt auf diese Erzählung stellt Karl May 1888/89 in seinem Roman »Kong-Kheou, das Ehrenwort« die chinesische Kultur als »greisenhaft alt« und »vertrocknet« dar. Zur Erneuerung habe China erst dank dem Westen »mit der Gewalt der Waffen gezwungen« werden müssen, was »in Küstengegenden zu spüren« sei.2

Besitzergreifung als Erlösung
Mit der Annektierung der Jiaozhou-Bucht findet Tsingtau (Qingdao) direkte literarische Darstellung. Als frühestes Beispiel gilt Paul Lindenbergs Roman »Fritz Vogelsang. Abenteuer eines deutschen Schiffsjungen in Kiautschou« von 1898. Aus dem Blickwinkel des jungen Titelhelden wird ein häßliches Land gezeigt, in dem die Menschen grausam morden, sich um materielle Güter reißen, kuriosem Aberglauben erlegen sowie spiel- und opiumsüchtig sind.3 Vogelsang reiht sich in die deutsche Marine ein und kämpft heldenhaft, indem er sich beispielsweise chinesischen »Seeräubern« entgegenstellt. Schließlich wird die Besetzung des »Dorfes« Qingdao als Erlösung der Chinesen von der Unterdrückung der Mandarinherrschaft interpretiert. Von nun an herrscht ausgelassene Stimmung vor, die Chinesen verlieren mit einem Mal ihre negativen Attribute und zeigen sich als freundliche Untertanen, die die Okkupation ihrer Heimat durch die Deutschen als willkommene Befreiung begrüßen und fleißig für den Aufbau des »jungen Deutsch-China« arbeiten.4

Schaufenster der chinesischen Laster und deutschen Leistungen
Paul Lindenbergs eindeutige Rechtfertigung des kolonialen Besitzes findet bei der herrschenden Klasse in Deutschland Anerkennung, da sie aufgrund ihrer Propagandawirkung die Jugend für die Marine und die koloniale Expansion begeistert. So teilte das kaiserliche Zivilkabinett am 6. Dezember 1898 dem Autor mit, daß Wilhelm II. »das patriotische Buch« gern annehme und er sich »unter der deutschen Jugend weitere Verbreitung des Buches« wünsche.5 Prompt erlebte es im darauffolgenden Jahr eine zweite Auflage, und 1901 folgte die Fortsetzung unter dem Titel »Fritz Vogelsangs Kriegsabenteuer in China«. Im Kapitel »Nach China - In Kiautschou« schildert der Autor Vogelsangs neue Erlebnisse in Qingdao und kontrastiert das alte »Chinesendorf« mit der neuen Stadt »als stolzes Zeichen deutscher Entschlossenheit und Geschäftigkeit«, »Thatkraft und Arbeitslust«.6 Ihre »straffe Ordnung und auffallende Sauberkeit« steht im Gegensatz zu den früheren »jammervollen« Straßen«.7 Das Verdienst der Einheimischen wird dabei völlig verschwiegen.
Für Paul Lindenberg ist Qingdao außerdem ein Beispiel für die erfolgreiche »Erziehung« der Einheimischen. Wie durch ein Wunder wurden die einst lahmen Chinesen »unter deutscher Aufsicht thätig und zeigten sich anstellig«; die »Zopfträger« gaben unter deutschem Befehl sogar »brauchbare Soldaten« ab.8 Trotzdem bleiben sie im wesentlichen betrügerisch und niederträchtig. So liest man, was »die Chinesen zuweilen den Europäern zu bieten wagen und wie frech sie zu lügen verstehen«. In solchen Fällen soll ihnen zur Aufrechterhaltung des Machtverhältnisses entschieden eine »echte und rechte deutsche Maulschelle« erteilt werden.9
Ähnliches findet sich im Roman von Richard Küas »Die Wacht im fernen Osten«, der 1915 kurz nach der Eroberung Qingdaos durch Japan erschien. Aus den Perspektiven der Heldin Herta und der anderen deutschen Romanfiguren stellt Küas dar, wie moralisch überlegen die Deutschen der »gelben«, »unebenbürtige[n] Rasse«10 sind. Die Chinesen werden zumeist als Diener, Köche oder Rikscha-Kulis dargestellt, ihre Fähigkeiten scheinen nur im Dienen zu bestehen, man sei dadurch sogar »besser daran als in Deutschland«.11 Dank den Deutschen arbeiten sie darüber hinaus für den Export von Kohle, Strohborten oder Viehfutter aus China.12 Auch die Aufforstung von Wäldern verdankt man den deutschen »braven Grünröcken«. Die Chinesen zeigen dagegen »keine Liebe zur Natur« und haben die »Erde ihres schönsten Zuges, des Waldes beraubt«; erst das deutsche Vorbild veranlaßt sie zu Anpflanzungen.13

Eine neue deutsche Heimat
Als weiteres Element der Qingdao-bezogenen Kolonialliteratur gilt die Thematisierung einer identitätsstiftenden neuen Heimat, die den Überseedeutschen nationalistisches Zusammengehörigkeitsgefühl verleihen soll. So beschreibt Paul Lindenberg in seinem Fortsetzungsroman von 1901 das heimatliche Milieu in Qingdao: »Auf den Wiesen sproßten Veilchen und erinnerten an die ferne Heimat, ebenso wie Meister Spatz, der hier genau soviel lärmte und sich ebenso dreist gebärdete wie auf deutschen Fluren.« Auch die militärische Präsenz trägt zur vertrauten Atmosphäre bei: »Von fern schon sah man die Kriegsfahne flattern, die stets mit lautem Hurra begrüßt wurde.« Die heimatliche Nähe wird zusätzlich durch die Anwesenheit deutscher Prominenz erhöht wie durch die »echt soldatische Erscheinung des Hohenzollernprinzen [Prinz Heinrich von Preußen, Anm. d. Verf.] […], welcher freudig dem Rufe seines kaiserlichen Bruders gefolgt war, draußen im fernen Osten das junge deutsche Reich kraftvoll zu vertreten«.14
Otto von Gottberg stellt in seinem Roman »Die Helden von Tsingtau« von 1915 Qingdao als das »kleine Deutschland über See«15 dar und versucht darin, ein Heimatgefühl zu vermitteln: »Baumbepflanzte breite Straßen, Türme und rotbedachte Giebel über hellen Häusern mit blanken Fensteraugen, die der Heimat weiße Gardine schloß, boten den Unseren das Bild des Vaterlandes.«16 Wieder ist die Rede vom »Wald«, der die Übertragung der deutschen Landschaft nach Qingdao verbildlichen soll: »Waldblumen dufteten zwischen den jungen deutschen Tannen, die erst in Mannshöhe um mich nickten.« Auch die deutsche Militärmusik wird als unentbehrliche heimische Geräuschkulisse beschrieben: »Der frische Seewind wehte den Klang von Militärmusik in meine Hügelwelt, ›Ich bin ein Preuße‹ jubelten die Instrumente«; hinzu kommen der blinkende Stahl und dröhnende Maschinen.«17
Nicht zuletzt schildert Otto von Gottberg, wie der Deutsche »in der Fremde deutsche Art und Sitte wahren kann. Da schlug die derbe Faust auf das Holz des Stammtisches, um den Männer zu Skat oder politischer Erörterung saßen. Da jagten sich die Vereinstagungen. Hin und her folgen die Einladungen zum guten deutschen Abendessen, aber nicht ›Dinner‹, wie es sonst in ›Asien‹ heißt.« Damit soll der Leser überzeugt werden, daß ein »echtes Stück der Heimat« »an die Küste der Schantung getragen« wurde, und zwar »deutsch bis zum innersten Wesenskern.«18
1916 erschien Gunther Plüschows biographischer Verkaufsschlager »Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau«. Der Autor trauert Qingdao als einem Stückchen deutscher Erde nach und betont, daß es zu »deutschem Grund und Boden […] im fernen Osten« gehöre19 und von den Deutschen in die »geliebte zweite Heimat«, ein »Paradies auf Erden«20 verwandelt wurde.

Sinnbild für das Heldentum
Zur Qingdao-bezogenen Kolonialliteratur gehört weiterhin der Aspekt, die neue Heimat durch Blut und Tod zu erkaufen. So beteiligt sich Vogelsang in Paul Lindenbergs Fortsetzungsroman an der Niederschlagung des Boxeraufstandes, indem er sich dem Kanonenboot »Iltis« zur Verfügung stellt und damit zu »Blutvergießen«21 und »Heldentod«22 bereit ist. Beim Ansturm auf Peking hält dieser Junge aus Qingdao trotz schwerer Verletzung das von ihm niedergerissene feindliche Drachenbanner fest im Griff. Nachdem er im Krankenhaus wieder zu sich kommt und vom Sieg hört, dringen ihm »aus treuem deutschen Herzen« die Worte hervor: »Es lebe der Kaiser!«23
Nach dem japanischen Überfall auf das Schutzgebiet 1914 wurde Qingdao verstärkt als Arena für deutsche Helden präsentiert. So beschreibt Richard Küas in der »Wacht im fernen Osten«, wie die deutschen Soldaten, »die ehernen Zungen der Tsingtauer Wehren«, wochenlang gegen die »Japs« kämpften: »Ein Germane gegen zehn Gelbe!« Schließlich gaben die deutschen Soldaten ihre Verteidigung auf, aber nicht weil sie Angst vor dem Tod hatten, sondern weil sie plötzlich dem »zwecklosen Morden Einhalt«24 gebieten wollten.
Otto von Gottberg bringt die »Helden von Tsingtau« mit germanischen und preußischen Mythen in Verbindung und leitet daraus den »goldenen Kern«25 des deutschen Geistes her. So vergleicht er den deutschen Soldaten in Tsingtau mit Hagen von Tronje, dem Sinnbild des treuen Gefolgsmannes, »der als letzter der bezwungenen Nibelungen gefesselt, aber ungebeugt, die drohend nach dem Hort fragende Siegerin höhnt: ›Das weiß nur Gott und ich allein und soll dir Teufelsweibe ewig verborgen sein!‹«
Auch der »Preußenstolz« Friedrichs des Großen, der selbst »am Rand des Abgrundes […] den Degen in der Faust, aufrecht und furchtlos Europa die Stirne« bietet, durchdringt nach Küas den deutschen Kampfgeist.26 Standhaft verteidigen die Soldaten Qingdao trotz der Ahnung von »gewisser Niederlage und wahrscheinlichen Todes« für »den Geist Alldeutschlands« und »Deutschlands Ehre«.27
Die Verknüpfung von Heldentum und nationalistischem Geist wird auch bei Gunther Plüschow deutlich. Ebenso wie die Marine leistet er selbst als »der einzige Flieger in Tsingtau, als ›der Vogelmeister‹«28, durch seine »Ruhe und den eisernen Willen«29, die Flugaufträge inmitten der Kreuzfeuer auszuführen, ruhmreiche Dienste. Solches Heldentum wurde stets vom Kaiser anerkannt, indem er zum Beispiel telegraphisch seinen »Stolz auf die Helden von Tsingtau« unterstrich. »Da gelobte sich wohl ein jeder in seinem Innersten nochmals so zu kämpfen und seine Pflicht bis zum letzten zu tun, daß sein Kaiser mit ihm zufrieden sein könnte.«30

Wunschraum für eine friedliche Menschheit
Die Kolonialisierung schürte zwar einerseits die nationalistisch-imperialistische Gesinnung, zog aber andererseits eine verstärkte Beschäftigung mit der Kultur der Einheimischen nach sich, deren Intensität wiederum die ursprünglichen Stereotypen in Frage stellt. So wendete sich Karl May, der sich nach seiner Orientreise, bei der ihm die Inhumanität und Schinderei in den Kolonien bewußt wurden, von seinen einstigen Vorurteilen ab. In dem von Joseph Kürschner 1901 herausgegebenen Sammelband »China« veröffentlichte Karl May die pazifistische Reiseerzählung »Et in terra pax«, die 1904 zum Roman »Und Friede auf Erden!« umgearbeitet wurde. Kürschner hatte eigentlich eine spannende Unterhaltung mit »der ›patriotischen‹ Verherrlichung des ›Sieges‹ über China« im Boxer-Feldzug erwartet, doch Karl May machte seine Position zu derartigem »Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat« klar: »Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun!«31
Karl May erzählt darin die Abenteuer einer kleinen deutsch-abendländischen Reisegesellschaft, die an Singapur, Macao und Shanghai vorbei nach Norden steuert, bis sie die utopische Insel Ocama erreicht. Hinter dieser liegt das chinesische Festland Ki-tsching, wo sich das Reich der »Shen« befindet: »Es ist die Menschheitsverbrüderung, der große Bund aller Derer, die sich verpflichtet haben, nie anders als stets nur human zu handeln.«32 Bemerkenswert ist die frappierende Ähnlichkeit Ocamas mit Qingdao. Wie dieses liegt es an der nordchinesischen Küste, »hat eine dem Festland zugekehrte Bucht mit klarem, tiefem und fast stets ruhigem Hafenwasser« und eine »südliche Zunge«. Auf der rechten Seite »stieg das Land zu einer bewaldeten Höhe empor«, die auf die berühmten Laoshan-Berge wie auch auf die »Waldkultur« hindeutet. In »einem weit ausgeholten Halbkreise um die südliche Zunge« gebogen, sieht man »zwischen dem Gebüsch in Blumengärten« immer mehr »nett[e] und sauber[e]« Häuser, die deutsch-europäisch aussehen und auf Wohngebiete in Qingdao hinweisen.33 Die Lage der Stadt vor den Laoshan-Bergen wird in der folgenden Beschreibung wiedergegeben: »Man denke sich einen halbmondförmigen Busen, von dessen beiden Enden an das Land sich sanft, aber höher und immer höher erhebt, um, von Gärten oder parkähnlichem Gehölz begleitet, in der Mitte einen vom Wasser zurücktretenden Berg zu bilden, an dessen Lehne die mit Pflanzengrün und Blumen geschmückten Häuser des Ortes aufwärtssteigen.« Von »der westlichen Seite der Bergeskuppe« kann man den »Meeresarm überblicken«, welcher die Insel von dem Festland trennte«. »Da der eigentliche Hafen hier bei uns an der Insel lag, gab es jenseits drüben nur einen Ladeplatz, der nicht sehr breit war, aber außerordentlich geschützt lag und so tief in das Land eindrang, daß er weit mehr Schiffe fassen und weit mehr größeren Baulichkeiten Raum geben konnte, als der Hafen selbst.«34
Auch die Privatbibliothek von Karl May zeigt, daß er sich mit geographischen, ethnologischen und sprachlichen Büchern über China und Fernost, die zur Jahrhundertwende erschienen waren, gewissenhaft beschäftigt hatte.35
Ocamas geographische Übereinstimmungen mit Qingdao sind insofern beachtenswert, als es »eine symbolische und zugleich auch eine erklärende«36 Bedeutung hat. Es versinnbildlicht das vorurteilsfreie Friedensparadies der Erde, das dem humanen Ziel der Gesellschaft »Shen« entspricht.37 Ocama wird als ein glückseliger Zwischenraum zwischen China und Deutschland, Orient und Okzident dargestellt, wo das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Herkunft möglich ist. Christen, Mosleme, Buddhisten und Konfuzianer suchen dort den Dialog miteinander, um Vorurteile aufzulösen und in friedlicher Koexistenz zu leben. Die »Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden sind«38; »die Menschenherzen aber sind alle eins und einig«.39 Damit erscheint Karl Mays Ocama (Qingdao/Tsingtau) in der Phase des Hochimperialismus als »Utopia«, als Wunschraum aller verbrüderten Menschen.

Nährboden des Daoismus (Taoismus)
In Alfred Döblins »chinesischem« Roman »Die drei Sprünge des Wang-Lun« aus dem Jahre 1915 läßt sich Qingdao ebenfalls als geistiger Bedeutungsträger aufspüren. Der Titelheld stammt aus einem »Fischerdorf«, das in Shangdong am Meer liegt. Als Anführer der Geheimgesellschaft der »Wahrhaft Schwachen« bekennt er sich letztlich zum gemeinhin als »Nicht-Widerstreben« übersetzten daoistischen Wuwei, der gewaltfreien Praxis zur Kraftgewinnung durch das dem Lauf der Natur an- gepaßte geschickte Verhalten. Später zieht Wang nach »Tsi-nan-fu«: Vom östlichen Küstendorf aus geht er über das »grüne Tal des Wei-ho« und steigt »in die wilden Berge« auf, bis er die »letzten westlichen Ausläufer des Tai-ngan-schans« erreicht und danach in »Tsi-nan-fu« ankommt.40 Dieser Weg weist auf eine entsprechende Route von Qingdao nach Jinan, der Hauptstadt von Schantung, die auch als »Tsi-nan-fu« transkribiert wurde. Eine solche Verortung der Heimat Wangs ist nicht zufällig, sondern suggeriert vielmehr einen geistigen Nährboden für den Helden. Bereits Wangs Vater hat »wahrhaft das Zeug zu einem taoistischen Doctor«, weiß »vom Yin und Yang, dem lichtvollen Männlichen und dem finsteren, brütenden Weiblichen«41 und arbeitet als Dämonzwinger. Unter seinem Einfluß interessiert sich Wang auch für die zauberhafte Bambustafel mit sonderbaren Zeichen. Dieses daoistische Milieu überrascht nicht, wenn man an Qingdaos Umfeld denkt, wo sich die berühmten alten daoistischen Tempel Taiqing Gong und Hualong Gong befinden und sich geistig nachhaltig auf die Gegend auswirken. Auch die Lage Qingdaos am Meer veranschaulicht durch das Wasser zum einen und die Laoshan-Berge zum anderen die daoistische Dialektik von Schwach und Stark: »Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich.«42
Wangs daoistischer Ansatz impliziert für Döblin einen relevanten gesellschaftskritischen Aspekt. Scharf verspottete er das deutsche Militär in Qingdao, das sich maßgeblich am europäischen Boxer-Feldzug beteiligte: »Bei der Niederwerfung des Boxeraufstandes marschierten die europäischen Truppen durch Tsingtau. Die chinesische Bevölkerung ließ sich die einzelnen Formationen und Rangstufen demonstrieren: es gab Grinsen und Achselzucken beim Anblick der Uniformen, der Soldaten und der hohen Offiziere auf den schönen Pferden.«43 Dem durch die Romanfigur des Kaisers Khien-lung personifizierten »militärischen Hochmut« und »Grössenwahn« des wilhelminischen Machthabers stellte Döblin eine »immer deutlichere Zuwendung zu der religiösen Haltung«44 entgegen, die sich im gewaltfreien Wuwei äußerte. Sie prägte das Handeln von Wangs »schwachen Brüdern« und anderen Geheimbünden, überdauerte den Wechsel aller Dynastien und führte schließlich zur Erosion der zweitausendjährigen feudalen Herrschaft. »Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr.«45 Das wilhelminische »Erobern« schien Döblin Khien-lungs Gewaltanwendung analog zu sein, die zum Verlust des Vertrauens der »Schwachen« und damit zum Niedergang des Herrschers führte. In der Hoffnung, das Wuwei als gesellschaftliches Regulativ weiterhin auf die Verhältnisse von den »Ohnmächtigen« und Mächtigen im In- und Ausland zu übertragen und somit eine bessere Perspektive für die Unterdrückten zu erschließen, wird Qingdao von Döblin als daoistischer Nährboden aktualisiert.

Anti-Heldentum
Nach der deutschen Niederlage gegen Japan 1914 schrieb auch Bertolt Brecht im Jahre 1915 ein Gedicht über den »Tsingtau-Soldaten«. Er stellt der zeitgenössischen Glorifizierung einen Wachtposten als deutschen Anti-Helden entgegen, der den Tod wie einen »gespenstigen Hund« halluziniert und sich von ihm wie »zerfetzt und verstampft« fühlt. Zugleich weist Bertolt Brecht auf den »gierigen« Kolonialismus hin, der die christliche Kultur hilflos erscheinen läßt und den Soldaten in einen hoffnungslosen Abgrund stürzt: »Eine Stimme tief unten lacht: / Und wenn du vor Gier nach den Sternen langst / Dir hilft kein Mensch und kein Gott.« Durch solche physische wie geistige Todesvision bricht Brecht den Mythos des »Tsingtau-Helden«: »Schreit, daß es gellt in Verzweiflung … Aufschluchzen … Gruß… / Hin in Grund und Brand: / Mein Deutschland!«46

Realer Ort für den Dialog von Ost und West
Während Schriftsteller wie Karl May, Alfred Döblin und Bertolt Brecht ihr fiktives Qingdao gestalten, gelingt es Alfons Paquet als Reiseschriftsteller, seine Kenntnisse vor Ort zu sammeln. Nach seinen zwei China-Reisen schrieb er 1911 die Reiseerzählung »Li oder Im neuen Osten« und problematisierte die Berechtigung der Beibehaltung Qingdaos als Kolonie: Über das wiederholte Argument »Flottenstützpunkt« als »Leiter nach dem Fernen Osten« sei schon »jede Erörterung müßig«; auch die Ausfuhr chinesischer Erzeugnisse über Qingdao werde sich, verglichen mit anderen Häfen, »nicht ins Unbegrenzte steigern lassen«.47 Ferner bringe die koloniale Machtdemonstration einen immer stärkeren chinesischen Nationalismus hervor, »der die Fremdlinge vertreibt und die materiellen Kräfte eines Volkes steigert, zuweilen auf Kosten der geistigen«.48 Um so mehr machte Alfons Paquet auf Qingdao als Kulturträger aufmerksam und wies dabei nicht nur auf Laozis Wuwei hin, »die goldene Praxis, die Dinge sich selber zu überlassen, die sich heutzutage für ganz China in einer vom raschen Schritt der westlichen Gewalten aufgezwungenen und in Zukunft vielleicht noch für Millionen Menschenleben verhängnisvollen Krise befindet«.49 Vielmehr hob er Konfuzius' Begriff »Li« als »Ehrerbietung des Menschen vor dem Menschen, des Nächsten vor dem Fernsten, das Gefühl einer letzten Unantastbarkeit und des Maßhaltens zwischen den Völkern«50 hervor. Von vielen gebildeten chinesischen »Alten von Tsingtau«51, die während der Xinhai-Revolution 1911 wegen ihrer Verbindung zur kaiserlichen Monarchie in das deutsche »Schutzgebiet« geflüchtet waren und vom dort lebenden China-Kenner Richard Wilhelm aufgenommen wurden, hoffte Alfons Paquet mehr Kenntnisse über das konfuzianistisch geprägte Land zu gewinnen. Andererseits sah er in Europäern wie Richard Wilhelm und E. J. Voskamp die vorbildlichen »Mittler jener tiefen Gedanken und Stimmungen«52 Chinas. Im Sinne von »Li«, der zwischenmenschlichen Zuwendung, Verständigung und Liebe, soll Qingdao eines Tages ein »gemeinsame[s] Stück deutscher und chinesischer Erde«, »ein heiliger Boden des Verständnisses«53 werden.
Auch der Schriftsteller Hermann von Keyserling, der 1912 nach Qingdao reiste, reflektierte darüber in seinem erfolgreichen »Reisetagebuch eines Philosophen« aus dem Jahre 1919. Als Gast von Richard Wilhelm lernte er persönlich die »Alten von Tsingtau« kennen und gewann einen Einblick »in die höchsten Möglichkeiten chinesischen Menschentums«.54 Ihre überindividuelle Gelassenheit gegenüber dem schweren Schicksal und ihre »innere Freiheit« sowie Vitalität übertrafen Hermann von Keyserlings Erwartung und brachten ihn zu der Erkenntnis, daß der Konfuzianismus keine bloße rationalistische Morallehre, »sondern das abstrahierte Schema einer gelebten oder zu lebenden Wirklichkeit«55 sei. Er war davon überzeugt, »daß der Höchstgebildete künftiger Zeiten dem traditionellen Konfuzianer«, der sich als Teil der ganzheitlichen Lebenswelt begreife, »näher stehen« werde als dem modernen westlichen Individualisten.56 Es war, so bemerkte Richard Wilhelm als Augenzeuge, Keyserlings »aufrichtige Absicht einer gegenseitigen Verständigung«, die das Mißtrauen der Chinesen zerstreute und ermöglichte, »das Tiefere aus dem Sein und der Persönlichkeit« zu entnehmen und »sich in den tiefsten Prinzipien zu verstehen«.57 Eben dadurch wird die Kolonie Qingdao in einen Ort zum lebendigen Kulturaustausch umfunktioniert.
Die verschiedenen Verarbeitungen des Qingdao-Themas zeigen einen dynamischen Prozeß, der durch die Zeitbedürfnisse bestimmt wird. So wird kurz nach der deutschen Besitzergreifung Qingdao als ein aus der regressiven Mandarinherrschaft befreites Land dargestellt. Anschließend wird es als Schaukasten für die kolonialdeutschen Leistungen ausgeschmückt und als zweite deutsche Heimat präsentiert. Nach der militärischen Niederlage wird Qingdao als Symbol für deutsches Heldentum herausgehoben. Zugleich wird dem kolonialistischen Sinngehalt widersprochen, sei es durch die Friedensutopie der Menschheit, sei es durch die Metapher für den daoistischen Ansatz oder durch das Anti-Heldentum. Nicht zuletzt entwickelt sich Qingdao zu einem konkreten Forum des interkulturellen Dialogs, eine Perspektive, die über die Gegenwart bis in die Zukunft hineinwirkt?



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