Vorurteile und Illusionen:
Europäische Chinabilder und Fremdbilder in China
von Ursula Ballin
Von jeher machen sich
Menschen von anderen Menschen Bilder. Die Sozialpsychologie spricht
von (Hetero-) Stereotypen, wobei »Stereotyp« als vorurteilsgetrübtes,
meist negatives Bild gilt; es kann Individuen, aber auch ein ganzes
Volk, eine fremde Kultur betreffen. Übrigens gibt es positive Stereotypen.
Gemeinsam ist »guten« wie »bösen«, daß sie wenig mit der Wirklichkeit
des Objekts zu tun haben und fast immer durch Interessen des Subjekts
gelenkt sind. Der Herausbildung eines Heterostereotyps liegt ein
Autostereotyp zugrunde, das »uns« in aller Regel als »gut« und bald
auch »besser« als andere zeigt.1 Unter
dem Druck extremer gesellschaftlicher Widersprüche werden jedoch
mitunter Hoffnungen auf Ausgleich »unserer« Defizite in ein idealisiertes
Fremdbild projiziert oder gar retroprojiziert. In China wie in Europa,
das heißt in ihren Bildern voneinander und von sich selbst, finden
sich während der letzten zweitausend Jahre alle genannten Varianten.
Seit dem Altertum ist China im Okzident als Seidenproduzent bekannt.
Doch bis ins Spätmittelalter kursieren über Land und Leute abenteuerliche
Märchen. Die Jesuiten des 16. und 17. Jahrhunderts senden erste
»wissenschaftliche« Kunde von China nach Europa. Willig übernehmen
Philosophen und Physiokraten der Aufklärung das Idealbild von einem
seit Jahrtausenden stabilen Reich, wo Kaiser und Beamte weise über
ein fügsames Bauernvolk herrschen und eine säkulare Ethik (Konfuzianismus)
die Gesellschaft harmonisiert. Daß es sich um das Autostereotyp
einer schmalen chinesischen Elite handelt, mit der die Jesuiten
exklusiv verkehren, wollen die Aufklärer kaum so genau wissen: Allzu
gut eignet sich das Ideal eines Gelehrtenstaates mit »natürlicher
Religion« (Leibniz) für den Kampf gegen Absolutismus und Kirche.
Daß auch die Jesuiten angesichts innerkirchlicher Konflikte an der
Vermittlung eines retuschierten Chinabildes interessiert sind, sei
hier nur angedeutet. Die europäische Oberschicht verharmlost die
Idealisierung zur Chinoiserie des Rokoko. Im 19. Jahrhundert verliert
China seine Rolle als Vorbild. Deutsche Romantiker und Orientalisten
graben nach indogermanischen Wurzeln abendländischer Kultur und
»arisieren« das klassisch-griechische Altertum. Parallel zur Nationalstaatsideologie
vor allem Preußens entwickeln Friedrich Schlegel, Hegel und Ranke
dem Fortschrittsgedanken verpflichtete Ideen, wonach die Weltgeschichte
zwar bei den alten Kulturen des Ostens begonnen, sich aber zunehmend
freiheitlich in Europa erfüllt habe. Nach wie vor auf die jesuitischen
Quellen gestützt, wird Chinas »Stabilität« zur »Stagnation« abgewertet.
Ranke siedelt China, als zu den »Völkern des ewigen Stillstands
gehörend«, außerhalb der Weltgeschichte an.2
Noch Karl Marx und Max Weber werden diesem Stereotyp verpflichtet
sein. Die Sinologie etabliert sich in Rußland und im frühen 19.
Jahrhundert in Frankreich (der erste deutsche Lehrstuhl wird erst
1911 eingerichtet). Auf das volkstümliche Chinabild haben Gelehrte
keinen Einfluß; es beruht bis ins 19. Jahrhundert auf den alten
Exotismen. Im Zeitalter des europäischen Kolonialimperialismus,
das für das Deutsche Reich erst in den achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts beginnt, sinkt die westliche Chinarezeption auf ihr
bisher niedrigstes Niveau. Kaufleute, Diplomaten, Militärs und nicht
zuletzt Missionare vermitteln ein Bild von China als Hort der Rückständigkeit,
dessen Massen, unter korrupten Herrschern verelendet, in Aberglauben
und Laster dahinvegetieren. Daß daran manches zutrifft, verleiht
selbst krassen Verzerrungen scheinbare Glaubwürdigkeit. Aus solchem
Fundus speist sich die Trivialliteratur, etwa Karl Mays Kong-Kheou
(1888/89), ein Gruselkabinett der dümmsten gängigen China-Stereotypen,
von der »drolligen« Sprache und Tracht über die Unterstellung, chinesische
Höflichkeit sei nichts als ein hinterhältiger Trick, bis zu dem
in fast allen Chinabüchern der Zeit verwendeten Klischee von der
Undankbarkeit der Chinesen: »Man hat sie gezwungen, uns ihre Häfen
zu öffnen, aber [!] sie hassen uns …«3
Der Autor der ersten Darstellung des Jiaozhougebiets (ein Hafenbauingenieur,
der im Sommer 1897, Monate vor der Ermordung der Steyler-Patres,
dorthin reist, um im Auftrag von Tirpitz die Eignung der Bucht zum
deutschen Stützpunkt zu prüfen): »Man mußte an die, selbstverständlich
friedliche, Erwerbung eines unter deutschem Hoheitsrecht stehenden
Platzes denken und durfte um so mehr hoffen, hierbei von chinesischer
Seite Entgegenkommen zu finden, als ja die Eröffnung eines neuen
Hafens, die Herstellung von Eisenbahnen und die Aufschließung von
Kohlen- und Eisenlagern nicht etwa nur den Inhabern der Konzessionen,
sondern in erster Linie dem chinesischen Reiche selbst von höchstem
Nutzen sein wird.«4 Dies in einem
Werk, das im übrigen die Rentabilität des Standorts Shandong für
den deutschen Handel hervorhebt und mit zahlreichen Illustrationen
zur deutschen Kriegsmarine, mit martialischen Zeichnungen und Widmungen
Wilhelms II. ausgestattet ist (Frontispiz: »Wo … der deutsche Aar
seine Fänge in ein Land geschlagen hat, das Land ist deutsch und
wird deutsch bleiben!«). Zwei weitere 1898 erschienene Werke aus
der Feder des Geologen Richthofen und des Journalisten Hesse5
enthalten sachlichere Angaben, stellen jedoch das deutsche Vorgehen
keineswegs in Frage. So kann ein junger Theologe, der 1900 als Rotkreuzhelfer
mit Waldersees Truppen nach China geht, schreiben: »Die Besitzergreifung
von Kiaotschou war also kein Gewaltakt, sondern ein Akt der Notwehr,
um unsere deutschen Landsleute … zu schützen.«6
Der »Kürschner«, ein durch Beiträge von Fachgelehrten um Objektivität
bemühtes, prächtig ausgestattetes Album, strotzt dennoch vor Stereotypen.7
Auch der »Kleine Meyer« schwächt Chinas Gebietsverluste ab, da sie
»allerdings in Kiaotschou der Provinz Schantung Handels- und industrielle
Vorteile durch deutsche Kapitalien bringen«.8
Aus heutiger Sicht unerträglich ist schließlich das Buch eines Majors,
worin er sich unter anderem über das in jeder Hinsicht »Verkehrte«
chinesischer Sitten ausläßt.9 Als
aber China zuletzt doch Reformen einleitet; als sich gar das angeblich
so lethargische Volk gegen die Fremden erhebt, wird dies in schönem
Zirkelschluß als Beweis chinesischer Falschheit und Grausamkeit
präsentiert und das schon für Japan entwickelte Gespenst einer »Gelben
Gefahr« beschworen. Die Öffentlichkeit Europas um die Jahrhundertwende
zweifelt daher nicht an der Rechtmäßigkeit, ja der aufopfernden
Pflicht (The white man's burden), China zum Glück westlicher Kultur
notfalls zu zwingen. Nach der Ermordung des deutschen Gesandten
Ketteler in Peking steigert sich die gelenkte Sinophobie in Deutschland,
bestärkt durch Wilhelms II. denkwürdige Hunnenrede (»Pardon wird
nicht gegeben«) bei der Ausschiffung deutscher Soldaten nach China.
Kaum eine christliche Stimme tadelt das Morden und Plündern der
Truppen. Nur einige Sozialdemokraten erheben im Reichstag Protest
und ernten Spott. Die beliebte Kolonialliteratur preist die Tüchtigkeit
des deutschen Militärs. In Hamburg mosern schon 1898 Arbeiter beim
Bier: »So gut uns die Grenzen des Vaterlandes heilig sind, ist es
… bei den Chinesen der Fall. Mordtaten geschehen in allen zivilisierten
Ländern, und es würde keinem Lande einfallen, … deshalb eine Kriegsflotte
auszurüsten. Was haben überhaupt die Missionare in China zu schaffen?«
Oder: »Wenn … China in der kulturellen Entwicklung nicht den heutigen
Verhältnissen entspricht, so ist dies dem betreffenden Land seine
eigene Sache.« Und 1901, nach dem Einsatz deutscher Truppen gegen
die Yihetuan (»Boxer«): »Wenn man auch die verübten Grausamkeiten
verheimlichen will, so ist doch … so viel bekannt geworden, daß
man mit Recht behaupten kann, daß der ganze Sühnefeldzug jeder Zivilisation
Hohn spricht.«10
Die ersten deutschen Bewohner von Qingdao (Tsingtau) sind von China-Kenntnissen
unbelastete Mannschaften und Offiziere der Kriegsmarine. Der Staatssekretär
im Reichsmarineamt Tirpitz plädiert für friedliche Zusammenarbeit
mit ansässigen Chinesen; deutsche Gouverneure und zivile Siedler
fassen dies unterschiedlich auf. Alle sind sich darin einig, daß
Chinesen nur in von »Deutsch-Tsingtau« getrennten Wohnbezirken leben
dürfen, was man mit der Seuchengefahr begründet. Selbst Richard
Wilhelm, der 1899 als Missionar des als liberal geltenden Allgemeinen
evangelisch-protestantischen Missionsvereins in Qingdao eintrifft
und sich 1900 wegen seiner Versöhnungsbemühungen zwischen deutschem
Militär und chinesischen Dorfbewohnern chinesische Sympathien und
deutsche Feinde schafft, nimmt die Apartheid kritiklos hin. Auch
er läßt sich durch einen chinesischen »Boy« bedienen, den er Max
nennt. Die Geldspende des Gouverneurs Jaeschke für die Opfer der
(von diesem befohlenen) Metzeleien nach Sabotageakten gegen den
deutschen Eisenbahnbau findet Wilhelm »gütig«.11
Später wirkt Wilhelm unermüdlich für einen deutsch-chinesischen
Kulturaustausch. Seine Übersetzungen konfuzianischer und anderer
chinesischer Klassiker, die seit 1910 in Jena erscheinen, tragen
zu einer ins Positive umschlagenden Chinarezeption im deutschen
Sprachraum bei. Ihr hat seit der Jahrhundertwende eine neuromantisch-irrationale,
gegen den Materialismus der Gründerjahre gerichtete Tendenz (Kulturkritik)
den Boden bereitet, welche nach dem Ersten Weltkrieg weite Kreise
des Bildungsbürgertums ergreift. Man sehnt sich nach Gegenbildern
zur eigenen, als gescheitert gesehenen Zivilisation und hofft, sie
in der Weisheit und Metaphysik des alten Ostens zu finden. Am aktuellen
China orientiert sich die Retrospektion nicht. Denn ironischerweise
verwerfen um diese Zeit junge chinesische Intellektuelle ihr klassisches
Kulturerbe.
Auch in China gibt es seit dem Altertum Fremdbilder von den nicht
assimilierten Randvölkern als Barbaren, die albern sprechen, sich
grotesk kleiden und weder Sitte noch politische Ordnung (nämlich
die chinesische) kennen. Wie im Westen sind solche Bilder durch
politische Interessen gelenkt.12 Zwar
schützt sich China gegen Invasionen im Norden durch die Große Mauer,
doch ist es lange in den Grenzen seines kulturdominanten Selbstverständnisses
weltoffen, treibt Überseehandel und nimmt kulturelle Fremdeinflüsse
auf. Auch fremde Religionen (Judentum, nestorianisches Christentum,
Islam) werden toleriert. Erst seit der Ming-Zeit (1366-1644) verschließt
sich das Reich der Mitte. Abgesehen von Rußland, mit dem seit dem
17. Jahrhundert Beziehungen bestehen, ist man an Europa nicht interessiert;
1793 sendet der Qianlong-Kaiser an König George III. Mandate, worin
er Britannien als Tributstaat tituliert und erklärt, China habe
keinen Bedarf an dessen Produkten. Nähere Kenntnis des Fernen Westens
bleibt denn auch noch bis ins 19. Jahrhundert fragmentarisch. Erst
die gewaltsame Konfrontation seit den Opiumkriegen (seit 1840) zwingt
die Herrscher der Qing-Dynastie (1644-1911), die Fremden wahrzunehmen.
Dennoch bleiben Reformen in China anders als in Japan in Ansätzen
stecken. Außenseiter wie der Reformer Kang Youwei warnen vor dem
Stereotyp der rein mechanisch verstandenen Stärke Europas und weisen
auf institutionelle und ethische Faktoren hin. Doch konservative
Kreise um den Drachenthron sperren sich gegen jede objektive Sicht
ihrer nahezu verlorenen Position. Das Volk organisiert sich in Geheimgesellschaften,
die den westlichen Horrorbildern von China ihrerseits Zerrbilder
des Fremdenhasses entgegensetzen. Es kommt zu Gewalt gegen Fremde
und, nicht zuletzt durch die deutsche Besitzergreifung des Jiaozhougebiets
(Kiautschou-Bucht), zum Yihetuan-Aufstand, den Hofkreise unterstützen,
ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Der Untergang der
Qing-Dynastie ist nicht mehr aufzuhalten: 1911 siegt die Revolution
gegen warnende Stimmen, darunter die Kang Youweis, des Fürsprechers
einer konstitutionellen Monarchie, welche er in England (Hongkong)
und Deutschland kennen- und schätzen lernte.13
Der Führer der Republikaner, Sun Yatsen, bewundert Bismarck und
Schrameiers Landordnung in Qingdao; es fehlt ihm jedoch realpolitische
Einsicht.14 Die Republik China sinkt
in Anarchie und Regionalismus. Ihre intellektuelle Jugend verzweifelt
an den alten konfuzianischen Werten, denen sie nun alle Schwächen
Chinas anlastet. Wie die europäische Aufklärung ein Wunsch-China,
so verherrlicht »Jung-China« einen idealisierten Westen.
Der Einfluß des »Deutschtums« in China wird in deutschen Texten
zum Teil bis heute überbewertet. Tatsächlich nimmt man in China
Preußen, synonym für Deutschland, erst seit seinem Sieg über Frankreich
1871 wahr und bewundert es für sein Militärwesen nach dem Stereotyp
»des« Deutschen, der als tapfer, gehorsam und patriotisch gilt.15
Solche Sympathien schwinden nach Besitzergreifung des Jiaozhougebiets.
Schon eine damalige Chronik beklagt etwa die Strafexpeditionen ins
Inland Shandongs: Für die ohne jeden amtlichen Befehl erfolgte Ermordung
zweier Missionare habe Deutschland sich chinesisches Territorium
angeeignet; für Hunderte erschossener Chinesen spende Gouverneur
Jaeschke, der den Einsatz offiziell befahl, lediglich eine Handvoll
Geld.16 Es erübrigt sich fast, darauf
hinzuweisen, daß bis heute chinesische Geschichtswerke die Besetzung
Qingdaos negativ bewerten.17 Der durchaus
westlich orientierte Reformer des chinesischen Bildungswesens seit
1917, Cai Yuanpei, auch er ein Freund Richard Wilhelms, befindet
noch 1927, daß zwar Sinologen sich um eine Würdigung der chinesischen
Kultur bemühten, daß das gängige europäische Chinabild jedoch auf
oberflächlichen Reiseberichten, vorurteilsgetrübten Darstellungen
von Missionaren und politisch motivierten Entstellungen durch »Journalisten
und Imperialisten« beruhe.18 Eine
Deutschland-Euphorie in den letzten Jahrzehnten der Republik China
(1911-1949), die auf der Tätigkeit zumeist nationalsozialistischer
Militärberater bei Chiang Kai-shek basiert, dürfte aus heutiger
Sicht eher als peinlich empfunden werden.
Auf beiden Seiten halten sich bis in unsere Tage Vorurteile und
Illusionen. Es ist zu hoffen, daß eine Dokumentation wie die vorliegende
Brücken schlägt und von deutscher Seite aus ihren Teil zu einem
weniger vorurteilsgetrübten Dialog beisteuert.
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