Ein jahrtausendealtes
System zerbricht:
Chinas Reform- und Modernisierungsbemühungen
und der Untergang des Kaiserreiches
von Xia Baige
Am 24. Januar 1861 erhielt
der chinesische Kaiserhof ein offizielles Schreiben, daß der preußische
König Wilhelm I. mit China einen Vertrag über offizielle Kontakte
schließen wolle. Der Kaiserhof mußte zuerst in Erfahrung bringen,
wo Preußen liegt und was für ein Staat Preußen ist. Für den chinesischen
Kaiser war es grundsätzlich wichtig, daß die Anfrage aus Preußen
in einem liebenswürdigen Ton geschrieben war. In 24 offiziellen
Protokollen des Kaiserhofs (Januar bis Juli 1861) wurden die Erörterungen
über die Vorgehensweise ausführlich niedergeschrieben: Dabei stand
zunächst Ablehnung aus Furcht im Vordergrund, schließlich jedoch
zögernde Zustimmung zur Kontaktaufnahme mit Preußen. Kriegshandlungen
westlicher Mächte in den beiden Opiumkriegen (1840-1842, 1858-1860)
hatten das Land in seinem Selbstverständnis als Universalstaat verunsichert.
Vom 7. März bis 8. Mai 1906 hielt sich eine chinesische Regierungsdelegation
unter der Leitung des damaligen Kulturministers Dai Hongci und des
Generalgouverneurs der Provinzen Fujian und Zhejiang, Duan Fang,
in Deutschland auf. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich mit den
staats- und verfassungsrechtlichen Verhältnissen in Deutschland
vertraut zu machen. Über diesen Besuch schrieb ein deutscher Begleiter
später: »Wenn als erste Frucht der Studienreise nur die Überzeugung
der Studienkommission und damit bei der chinesischen Zentralregierung
gezeitigt wird, daß Deutschland unter den Vorbildern für eine gesunde
Reformbewegung in China infolge seiner staatlichen und wirtschaftlichen
Einrichtungen einen der ersten Plätze einzunehmen berechtigt ist,
so darf die Mühe, die sich die deutsche Regierung die Unterweisung
und Führung der chinesischen Studienkommission hat kosten lassen,
schon als eine erfolgreiche bezeichnet werden.«1
Die zwei geschilderten Begebenheiten sind Ausdruck der Veränderung
der Beziehungen zwischen beiden Ländern und spiegeln den Wandel
der chinesischen Politik gegenüber dem Ausland wider.
Beginn des Wandels
Ein genereller Wandel der chinesischen Politik und Gesellschaft
vollzog sich vor dem Hintergrund des Eindringens der imperialen
Mächte in China. Seit 1840 war es mehrfach zu kriegerischen Auseinandersetzungen
zwischen China und dem Westen gekommen, wobei die chinesische Seite
jedesmal eine Niederlage erlitt. China mußte anschließend äußerst
nachteilige, sogenannte ungleiche Verträge mit den westlichen Großmächten
abschließen. Gleichzeitig bahnten sich westliches Denken, Werte,
Religion, Technik und Wissenschaft einen Weg nach China und setzten
die konservative Struktur der chinesischen Gesellschaft unter Druck.
Die vorausgegangene Taiping-Rebellion (1851-1864), die auf christlich-sozialistischen
Idealen beruhte, hatte beinahe die gesamte wirtschaftliche und finanzielle
Basis des Landes zerstört. China geriet somit durch Unruhen im Inneren
und Invasion von außen vollends in eine Krise. Zur Bewältigung dieser
Krise bemühten sich Reformkräfte darum, einen Ausweg zu finden,
um das staatliche Leben an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Gleichzeitig
sollte eine Strategie der Erstarkung des Landes entwickelt werden.
Dabei entstand eine breitgefächerte Reformbewegung, die in ihren
Hauptrichtungen von den Historikern »Verwestlichung« (Yangwu) oder
auch »Selbststärkung« (Ziqiang) genannt wurde.
Auf der einen Seite strebte diese Bewegung eine vorsichtige Öffnung
des Landes an, wozu die Einrichtung eines chinesischen Auswärtigen
Amtes (Zhongli Waiguo Shiwu Yamen) unter der Leitung von Prinz Gong
(1833 bis 1898) gehörte. Schon 1866 besuchte eine erste offizielle
Delegation neun Länder Europas, um den Westen kennenzulernen. 1868
bereiste die erste diplomatische Delegation zehn Länder Europas
sowie Amerika und Japan. 1872 schickte der Kaiserhof erstmals junge
Chinesen zum Studium in die USA. 1876 trat der erste chinesische
Botschafter in England seinen Dienst an. In diesem Jahr nahm auch
der erste Handelsvertreter Chinas an einer internationalen Messe
in Amerika teil.
Auf der anderen Seite konzentrierte sich die Bewegung auf die moderne
Technik des Westens und die noch unzureichende Industrialisierung
Chinas. Um mit dem Westen konkurrieren und um auch die Lage im Inneren
militärisch kontrollieren zu können, förderten der Kaiserhof und
die Militärmachthaber sowie die Reformpolitiker Li Hongzhang, Zhuo
Zhongtang und Zheng Guofan die Aneignung moderner westlicher Technik.
Die Modernisierung der Streitkräfte bewirkte auch einen Entwicklungsschub
bei der Industrialisierung und der technischen Entwicklung des Landes.
Dies betraf den Bau von Eisenbahnen, Schiffen, Bergwerken und Fernmeldeeinrichtungen
sowie weitere Bereiche der Zivilindustrie. Zur Vermittlung moderner
Technik wurden Fremdsprachen-, Militär- und Technikschulen gegründet.
Allerdings blieb die Anzahl der Auszubildenden gering. An den allgemeinbildenden
Schulen wurde westliches Wissen nicht vermittelt, vielmehr dominierten
Werke des Konfuzianismus. Argwohn gegenüber den westlichen Einflüssen
führte bisweilen zu einer Rückbesinnung auf die traditionellen chinesischen
Werte, um diese dem westlichen Wissen gegenüberzustellen. Der »Konfuzianismus
wird zur ideologischen Grundlage und das westliche Wissen zum praktischen
Nutzen« (Zhongxue wei ti, Xixue wei yong) erklärt.
Von einigen Gelehrten wurde das westliche politische System auch
positiv bewertet. So übersetzte und veröffentlichte der chinesische
Botschaftsrat in Deutschland, Xu Jianyin, 1881 ein Buch über den
Deutschen Reichstag. Gerade nach der Niederlage Chinas im Krieg
gegen Frankreich (1885) wurde offensichtlich, daß die Übernahme
westlicher Technik allein nicht ausreichte, um China zu stärken.
Die politischen Systeme der westlichen Staaten und ihre Wertvorstellungen
wurden immer intensiver studiert. Dennoch blieb vieles beim alten:
Die staatliche Wirtschaft stützte sich weiterhin auf die traditionelle
Landwirtschaft. Die überkommenen Herrschaftsstrukturen blieben erhalten:
Der Kaiserhof bestimmte autoritär, während auf der unteren Ebene
der Familienverband das gesellschaftliche Leben regelte.
Politischer Reformansatz
und Einführung eines neuen Bildungssystems
Im Chinesisch-Japanischen
Krieg (1894/95) wurde die junge Flotte Chinas vollständig vernichtet.
Diese Katastrophe verschärfte die Krise, weil mit Japan eine neue
Macht auftrat, die das Land bedrohte. Dies löste eine neue Welle
von Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen aus: Der Gelehrte
Kang Youwei (1858-1927) und 603 Prüfungskandidaten (Anwärter für
den höheren Dienst in der kaiserlichen Verwaltung) aus 18 Provinzen
versuchten, den Kaiser zu Reformen zu veranlassen. Dies schien nach
der deutschen Besetzung der Kiautschou-Bucht 1897 noch dringlicher.
1898 wurden 18 Denkschriften Kang Youweis dem Kaiser Guang Xu (1871
bis 1908) vorgelegt, darunter Schriften über die Meiji-Reformen
(1868-1890) in Japan, aber auch über die Reformen in Rußland, Frankreich,
Deutschland und England. Kang Youwei empfahl dem Kaiser, sich die
japanischen Meiji-Reformen zum Vorbild zu nehmen, weil die »Verwestlichung«
Japans dem Land in kürzester Zeit einen starken Entwicklungsschub
gebracht hatte. Kang hob hervor, daß Japan durch eine Verfassung
und ein Parlament nach westlichem Vorbild staatsrechtlich modernisiert
worden war. Für China hielt er die konstitutionelle Monarchie aber
nicht für sinnvoll, vielmehr sah er in der Stärkung der kaiserlichen
Autorität die richtige Voraussetzung, Reformen überhaupt durchzusetzen.
Von Juni bis September 1898 erließ der Kaiser 48 Edikte über den
»Neuen Kurs«, die sowohl Regierungsverordnungen, die Landwirtschaft,
Industrie und Handel, die Ausbildung, das Militär als auch die Presse
betrafen.
Die konservativen Kräfte um die Kaiserinwitwe Cixi (1835-1908),
die seit 1861 die eigentliche Herrscherin des Landes war, fürchteten
ihren Machtverlust, putschten noch im selben Jahr und lösten alle
Reformedikte wieder auf. Der Kaiser wurde unter Hausarrest gestellt,
und Kang flüchtete ins Ausland. Obwohl die Reformphase nur 103 Tage
anhielt, sollte sie der künftigen politischen Entwicklung neue Impulse
geben. Vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Boxeraufstandes
zur Jahrhundertwende wurden Reformen wieder aufgegriffen, die zuerst
die Bildungspolitik und das Rechtswesen betrafen. Ab 1902 wurde
ein neues Bildungssystem entwickelt. Grund-, Mittel-, Fach-, Hoch-
und Pädagogische Schulen wurden nach japanischem und westlichem
Vorbild im ganzen Land eingerichtet. 1905 wurde das kaiserliche
Prüfungssystem abgeschafft.
Die konstitutionelle
Bewegung
Der siegreiche Krieg Japans gegen Rußland in den Jahren 1904/05
führte in China zu der Überzeugung, daß das nach dem Vorbild des
Westens reformierte Japan mit seiner konstitutionellen Monarchie
dem autokratischen Rußland überlegen sei, was den Einfluß der chinesischen
»Konstitutionalisten« stärkte. Diese neue politische Kraft wurde
von diplomatischen Vertretern, Generalen, hohen Beamten am Hof,
der jungen Bourgeoisie, neuen Intellektuellen und im Ausland von
Kang Youwei und Liang Qichao getragen. Darüber hinaus entstand eine
revolutionäre Kraft, die im Ausland, besonders in Japan, von Sun
Yatsen (1866-1924) gelei-tet wurde. Diese proklamierte die »drei
Volksprinzipien«: Nationalismus, Volksherrschaft und Volkswohlstand.
Ziele waren der Sturz der Mandschu-Dynastie und die Ausrufung einer
Republik.
Von Dezember 1905 bis Juli 1906 besuchten zwei hochrangige chinesische
Delegationen Japan, Amerika und 13 Staaten Europas. Als Folge wurde
am 1. September 1906 ein kaiserliches Edikt erlassen, in dem es
unter anderem hieß: »Die Kaiser der regierenden Dynastie sind immer
bemüht gewesen, dem Staate das zuteil werden zu lassen, was die
Erfordernisse der Zeit verlangten. So machen es jetzt die politische
Weltlage und die gefährliche Stellung, in der sich China mit seinen
veralteten Einrichtungen den modernen Staaten gegenüber befindet,
zu einer dringenden Notwendigkeit, die politische Erkenntnis zu
erweitern und die Grundgesetze des Staates umzugestalten. Die ins
Ausland entsandten Kommissare sind in ihren Berichten einig, daß
das Reich nicht gedeiht, weil dem Volke und seinen Führern in ihren
verschiedenen Teilen das Gefühl der Zusammengehörigkeit fehlt, weil
das Beamtentum kein Interesse für das Volk, und das Volk kein Verständnis
für den Staat besitzt. Der Wohlstand und die Macht der fremden Staaten
beruhen in letzter Linie auf dem Grundsatze, die Kräfte von Fürst
und Volk gemeinsam in den Dienst der Gesamtheit zu stellen, jedem
seinen abgegrenzten Wirkungsbereich zuzuweisen und die Entwicklung
der politischen und wirtschaftlichen Kräfte wieder unter der Aufsicht
der Gesamtheit sich vollziehen zu lassen. Aufgrund dieser Erfahrung
wird es notwendig sein, auch China eine solche den modernen Verhältnissen
entsprechende Verfassung zu verleihen, nach der die höchste Gewalt
beim Throne liegt, die Regierung der Gesamtheit aber in den Beratungen
des Volkes zum Ausdruck kommt. Nun ist aber bisher weder der Rahmen
einer solchen Verfassung für China hergestellt, noch die Bildung
des Volkes vorhanden, die von der Verfassung vorausgesetzt wird.
Unter solchen Umständen würde eine überstürzte moderne Verfassung
ein totes Schriftstück bleiben. Man wird also zunächst die Grundlagen
schaffen müssen, auf denen sich die Verfassung einst aufbauen soll.
Und zwar wird man hierzu das Gefüge des Beamtentums neu regeln und
einteilen müssen, man wird ferner das gesamte geschriebene Recht
sorgsam neu anzuordnen haben, man wird die Volksbildung ausdehnen,
die Finanzverwaltung umformen, das Heerwesen neu bilden und eine
Landespolizei schaffen müssen. Wenn man diese Arbeit geleistet hat,
wird man nach einigen Jahren imstande sein, den Zeitpunkt für die
Einführung einer wirklichen Verfassung zu bestimmen und dem Reiche
feierlich zu verkünden. Inzwischen sollen die Gouverneure der Provinzen
mit Ernst und Eifer an der Vorbereitung des Volkes für die Verfassung
arbeiten. Sie sollen für Bildung und Aufklärung der Massen sorgen,
überall Treue gegen den Fürsten und Liebe zum Vaterlande wecken
und Frieden und Eintracht unter der Bevölkerung schützen.«2
Weitere Schritte zur Vorbereitung einer Verfassung für China waren
die Bildung einer Konsultativversammlung und einer Provisorischen
Provinzversammlung. 1908 reisten Delegationen nach Deutschland,
England und Japan, um die dortige Verfassungslage zu studieren.
Am 27. August 1908 wurden erstmals Verfassungsprinzipien erklärt
und ein Neunjahresplan mit jährlichen Planzielen verkündet. Der
Plan umfaßte insbesondere den Aufbau der kommunalen beziehungsweise
provinzialen Selbstverwaltungsorgane, die statistische Erfassung
der Bevölkerung und die Anhebung der allgemeinen Volksbildung. Das
Inkrafttreten einer Verfassung wurde für das Jahr 1916 in Aussicht
gestellt, das Parlament sollte demnach 1917 einberufen werden. Die
konstitutionelle Bewegung führte zu einer bis dahin in China nicht
gekannten Diskussion über Demokratie, Freiheit und Menschenrechte,
die im Verfassungskonzept festgeschrieben worden waren. Diese vorsichtige
Liberalisierungspolitik belebte die Teilnahme der Bürger am staatlichen
öffentlichen Leben. Zur Hebung der Leistungsfähigkeit der Bevölkerung
sollten Bibliotheken, Museen und Tierparks gebaut werden. Opiumgenuß,
Sklaverei, Menschenhandel und unmenschliche Gebräuche, wie Einschnürung
der weiblichen Füße, wurden dagegen bekämpft.
Seit 1906 organisierten sich die Konstitutionalisten in Verbänden
mit ausschließlich politischen Zielsetzungen. Die Diskrepanz zwischen
der angekündigten konstitutionellen Monarchie des Kaiserhofs und
dem gleichzeitigen Festhalten an der Macht führte zur allgemeinen
Unzufriedenheit der meisten Konstitutionalisten und zur Radikalisierung
der Bewegung. In dieser Phase starben der Kaiser und die Kaiserinwitwe
Cixi (November 1908). Ein kleines Kind, Pu Yi (1906-1967), bestieg
den Thron, und Prinz Chun führte die Regierungsgeschäfte. Die politischen
und gesellschaftlichen Widersprüche zwischen den alten politischen
Kräften und den Reformern, zwischen Mandschu- und Han-Nationalität,
Zentrale und Regionen traten nun voll zutage. 1910 petitionierten
die Vertreter der Provisorischen Provinzversammlung viermal an den
Kaiserhof und legten eine Forderung mit Unterschriften der Führungen
von 19 Provinzen mit dem Ziel vor, ein Kabinett sofort einzurichten
und spätestens 1911 ein Parlament einzuberufen. Der Kaiserhof war
daraufhin zu einem Kompromiß bereit. Er verkürzte zum einen den
Zeitplan für die Einrichtung der konstitutionellen Monarchie von
1916 auf 1913 und bildete zum anderen bereits am 8. Mai 1910 ein
13köpfiges Kabinett. Zu Beginn des Jahres 1911, als Peking ausländische
Darlehen aufnahm, um die Eisenbahnen, die von westlichen Ländern
in China gebaut wurden, in Staatseigentum zu überführen, begannen
in Südchina neue Unruhen. Am 10. Oktober 1911 kam es dann unter
dem militärischen Leiter Li Yuanhong in der Provinz Hubei zum Wuchang-Aufstand,
der gegen das Kaiserhaus gerichtet war. Nachdem sich 14 Provinzen
für unabhängig erklärt hatten, kündigte der Kaiserhof im November
1911 eine Verfassung an.
Yuan Shikai wurde am 1. November 1911 vom Kaiserhof zum Ministerpräsidenten
ernannt. Sun Yatsen wurde am 29. Dezember 1911 von den Vertretern
der 18 inzwischen unabhängigen Provinzen in Nanking zum Provisorischen
Präsidenten Chinas gewählt. Am 1. Januar 1912 rief er in Peking
die Republik aus. Im Februar 1912 verzichtete der Kaiser auf den
Thron. Yuan Shikai wurde im März 1912 Präsident der Republik China.
Im gleichen Monat trat eine Verfassung in Kraft. Damit waren alle
Pläne, eine konstitutionelle Monarchie zu errichten, hinfällig geworden.
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