Ferdinand von Richthofen
- Neue Sicht auf ein altes Land
von Lothar Zögner
"Nicht ohne Bangigkeit
stand ich an der Pforte des ungeheuren Reiches, dessen Erforschung
durch einen Einzelnen ein verwegenes Unternehmen schien."
(Richthofen, China, 1, S. XXIX)
Als Ferdinand von Richthofen
1872 nach insgesamt zwölf Jahren ausgedehnter Forschungsreisen im
ostasiatischen Raum wieder nach Deutschland zurückkehrte, entstand
in der Folge der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse in
der westlichen Welt ein neues und differenziertes Bild von China.
Der 1833 in Carlsruhe/Schlesien geborene Richthofen hatte in Breslau
und Berlin Geologie studiert und praktische Jahre in Diensten der
Geologischen Reichsanstalt Österreichs absolviert. Anregungen zu
Forschungen in Zentralasien hatte Richthofen während seiner Studienzeit
in Berlin empfangen. Im Umkreis von Alexander von Humboldt und Carl
Ritter waren Ideen und Pläne zur Erforschung der im Westen weitgehend
noch unbekannten Gebiete Asiens entwickelt worden. Für Carl Ritter
wie für Alexander von Humboldt in seiner späteren Lebensphase bildete
Asien einen Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Das in
ihren Werken - Humboldts "L'Asie centrale", das nach seiner Asienreise
von 1829 entstand, und vor allem Carl Ritters monumentalem Asienwerk
"Allgemeine Erdkunde" - veröffentlichte geographische Material fand
intensive fachwissenschaftliche Aufnahme; in diesem Zusammenhang
wurden auch neue Kartenbilder entwickelt. Damit war "der vorhandene
Stoff verwerthet. Die Zeit der selbständigen Forschungen in China
begann", wie Richthofen im ersten Band seines Chinawerkes feststellte.
Richthofen hat auch Vorlesungen bei dem Mineralogen Gustav Rose
gehört, der Alexander von Humboldt auf seiner Asienreise 1829 begleitet
hatte. Er stand außerdem in freundschaftlicher Verbindung mit den
Brüdern Schlagintweit, den späteren Forschungsreisenden in Hochasien,
und mit Peter Semenov, dem späteren Erforscher des Tien-schan und
Begründer der russischen Asienforschung. Während diese mit offizieller
Unterstützung von Institutionen anderer Staaten zu größeren Unternehmungen
aufbrechen konnten, mußte sich Richthofen erst Wege und Mittel zur
Durchführung von Forschungsvorhaben suchen.
1860 begleitete er als junger Wissenschaftler die offizielle Preußische
Gesandtschaft unter der Leitung von Graf zu Eulenburg, deren Aufgabe
es war, nach dem Vorbild anderer Staaten Handels- und Freundschaftsverträge
mit Siam, China und Japan abzuschließen. 1862 verließ Richthofen
die Preußische Gesandtschaft und versuchte, eine eigene Forschungsreise
in zentralasiatische Gebiete zu unternehmen.
Nachdem seine Pläne, von Süden aus nach Zentralasien vorzudrin-gen,
fehlgeschlagen waren, mißlang ebenfalls sein Versuch, von Kalifornien
aus Kamtschatka und Sibirien zu erreichen. Doch brachten ihm in
Kalifornien seine wissenschaftlichen Arbeiten für den aufblühenden
Bergbau die entscheidenden Verbindungen zu Kollegen und Geldgebern,
die zu seinem Forschungsaufenthalt in China führen sollten.
Im Gedankenaustausch mit dem amerikanischen Geologen Professor P.
Whitney formulierte Richthofen nun seine Forschungsziele: "Wir kamen
überein, dass China unter allen … bekannten Ländern das am wenigsten
durchforschte, und zugleich im höchsten Grade eine Untersuchung
werth sei und Resultate von grösster Tragweite in wissenschaftlicher
wie in praktischer Beziehung verspreche. Hier bot sich eine Aufgabe
von gigantischen Dimensionen" (Richthofen, China, 1, S. XXVIII).
Die Bank von Kalifornien übernahm die Finanzierung seiner Expedition
in China. Ab 1869 reiste Richthofen im Auftrag der europäisch-amerikanischen
Handelskammer in Shanghai, deren Interessen er bei der Wahl seiner
Reisegebiete und seiner Untersuchungen berücksichtigen mußte. Seine
praktischen Arbeiten für die Wirtschaft ermöglichten ihm, zugleich
seine wissenschaftlichen Forschungen durchzuführen. Diese fruchtbare
Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft hat Richthofen später
als eines der wichtigsten Ereignisse in seinem Leben bezeichnet.
Die Ergebnisse seiner Forschungsreisen in China hat Richthofen in
Schriften und Karten niedergelegt. Es entstanden vor allem das fünfbändige
Werk "China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien"
(1877-1912), der großformatige "Atlas von China" (1883, 1912) und
die postum erschienenen Tagebücher der Chinareisen. Damit legte
Richthofen einen wichtigen Grundstein zur wissenschaftlichen Erschließung
Chinas und zeigte Richtungen für die Entwicklung von Wirtschaft,
Handel und Verkehr auf. Richthofens Stellung als angesehener Hochschullehrer
an den Universitäten Bonn, Leipzig und vor allem Berlin und als
einflußreicher Wissenschaftler haben seine Chinaforschungen weiten
Kreisen nahegebracht. In seinem kartographischen Werk - das einen
wichtigen Teil seiner Arbeiten bildete - faßte er seine Forschungen
zusammen; es dokumentiert Arbeitsbereiche und Ergebnisse. Damit
steht er ganz in der Nachfolge Alexander von Humboldts und Carl
Ritters, den beiden bedeutenden Geographen des 19. Jahrhunderts,
die die Geographie als Wissenschaft entscheidend geprägt haben.
Zwischen 1868 und 1872 bereiste Richthofen auf sieben Reisen 13
der damals 18 Provinzen Chinas. Er durchwanderte Gebiete, die bis
dahin kaum ein Europäer betreten, geschweige denn wissenschaftlich
erforscht hatte. Wegen der politischen Unruhen im Lande mußte Richthofen
verschiedene Gebiete meiden und sich außerdem eine Zeitlang nach
Japan zurückziehen. 1871 erschien in der führenden geographischen
Zeitschrift jener Jahre, den von August Petermann herausgegebenen
"Geographischen Mitteilungen aus Justus Perthes Geographischer Anstalt",
eine Karte von Ostasien mit Richthofens Reiserouten in China. Erstmals
wird so eine breite Öffentlichkeit über die Reisewege Richthofens
informiert, wird seine Leistung in die großen Unternehmungen, die
in der zweiten Phase der Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts
durchgeführt werden, eingereiht. Diese kleinmaßstäbige Übersichtskarte
enthält als weitere bedeutende Information die von Richthofen beschriebenen
Kohlevorkommen. August Petermann, der für die Karte verantwortlich
zeichnete, hatte deren weitreichende Bedeutung erkannt und damit
auf eines der wichtigen Ergebnisse von Richthofens Reisen hingewiesen.
Er benutzte als Quelle die Berichte, die Richthofen an die Handelskammer
in Shanghai gesandt hatte. "Baron Richthofen's Letters" waren zwar
vervielfältigt worden, doch gelangten nur wenige Exemplare nach
Europa, was sicherlich auch im Interesse der Handelskammer lag.
Petermann und der Verlag Perthes hatten von Richthofen die Unterlagen
erhalten und konnten so die kartographische Information zusammen
mit einem Teil des Berichtes veröffentlichen.
1873 stellte Richthofen in einer Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde
zu Berlin eine "Höhenschichtenkarte" von China vor. Damit verband
er seine grundsätzlichen Überlegungen zur Darstellung der Oberflächenformen
in China.
"China ist in Beziehung auf seine Orographie ein fast unbekanntes
Land. Die konventionelle Gebirgszeichnung, welche sich auf allen
Karten wiederholt, beruht nicht auf Beobachtung, sondern ist lediglich
eine als Nothbehelf dienende theoretische Construction" (Richthofen,
1886). Während seiner Forschungen hatte Richthofen vor allem zwei
Karten benutzt, die man als Endfassung der bisherigen Kenntnisse
über China und seine Oberflächengestalt - einmal aus europäischer
und einmal aus chinesischer Sicht - ansehen muß:
- Heinrich Berghaus, Kartograph aus Potsdam und kartographischer
Mitarbeiter Alexander von Humboldts, hatte 1843 eine Karte von China
herausgebracht, in der er das bis dahin in Europa bekannte Quellenmaterial
des 18. Jahrhunderts (Jesuitenkarten), Carl Ritters Asienkarten
sowie aktuelle Aufnahmen des Sinologen Julius Klaproth über Zentralasien,
die ihm Humboldt zugänglich gemacht hatte, zusammenfaßte. Richthofen
nutzte diese Karte während seiner Reisen; sie war ihm eine wertvolle
Hilfe, aber sie konnte "natürlich nur zum allgemeinen Anhalt dienen"
(Richthofen, 1886).
- Richthofen stand auch die sogenannte Wuchang-Karte zur
Verfügung. Es handelt sich um eine Generalkarte von China im Maßstab
1:1000000. Sie war 1863 auf Anordnung des Generalgouverneurs der
Provinz Hunan herausgegeben worden. Sie wies weit mehr Ortsbenennungen
und Namen auf als ältere Karten. Doch sind auch in diesem Kartenwerk
keine Höhen angegeben. Wie Richthofen darstellte und zahlreiche
Beispiele zeigen, waren in den älteren chinesischen Karten Gebirge
lediglich durch schematische Aufrißsymbole wiedergegeben. Dieses
Verfahren wurde bis in das 20. Jahrhundert beibehalten. Richthofen
konnte auch nachweisen, daß die in den Jesuitenkarten des 18. Jahrhunderts
eingetragenen Gebirgsketten meist gar nicht existierten. Aufgrund
seiner eigenen umfangreichen Höhenbestimmungen und sonstiger ihm
zugänglicher Daten entwarf Richthofen erstmals Karten, die auch
Informationen über die Reliefgestalt und die Oberflächenformen Chinas
enthielten.
In seinem "Atlas von China" hat Richthofen diese Zielsetzungen dann
umfassend verwirklicht: Das Kartenwerk besteht aus 54 Karten im
Maßstab 1:750000. Den 27 orographischen Karten sind die 27 geologischen
Karten des jeweils gleichen Gebietes gegenübergestellt. Es handelt
sich in der Ausführung nicht mehr um Routenaufnahmen. Richthofen
legte damit erstmals eine wissenschaftlich fundierte Karte Chinas
und seiner Oberflächengestalt und die erste umfassende geologische
Karte von China vor. Die westliche Welt erhielt dadurch ein neues,
den aktuellen Forschungskenntnissen entsprechendes Kartenbild von
China. Richthofens Kartenwerk hat bis in unsere Zeit in seinen Grundzügen
seine Gültigkeit behalten.
Noch bevor der "Atlas von China" (1885) erschien, waren Übersichtskarten,
geologische Profile und Landschaftspanoramen in den ersten beiden
der fünf Textbände seiner Chinastudien veröffentlicht. Diese Arbeiten
lassen ein Bild von chinesischen Landschaften, kulturräumlichen
Entwicklungen und ihren Beziehungen zu den innerasiatischen Räumen
entstehen, welches auf eigener Anschauung und nicht nur auf Quellenstudien
beruhte. So hat Richthofen erstmals die chinesische Lößlandschaft
in ihrer Bedeutung für die Physiognomie des chinesischen Landschaftsbildes
bewußtgemacht und zugleich ihre Entstehung genial gedeutet.
Richthofens Karten der Provinz Schantung entstanden in Zusammenhang
mit seinem Werk über die Provinz Schantung aus dem Jahre 1898.
Die separat erschienene topographische und die geologische Karte
von Schantung im Maßstab 1:1000000 basierten auf eigenen Aufnahmen
aus dem Jahre 1869. Es waren zugleich die ersten Karten, in denen
die geplante neue Eisenbahnlinie eingetragen war. Zum möglichen
Trassenverlauf hatte Richthofen in seinen Schriften bereits detaillierte
Angaben gemacht und dabei die Hoffnung geäußert, "daß in Schantung
die erste Eisenbahn in China gebaut werden kann" (Tagebücher, I,
S. 29). Hiervon versprach er sich wirtschaftliche Prosperität und
Wohlstand für die Bevölkerung.
Gemeinsam mit der 1897 erschienenen Schrift "Kiautschou - Seine
Weltgeltung und voraussichtliche Bedeutung" lieferte er wichtige
Hinweise für die deutsche Kolonialpolitik, weil sie grundlegende
Kenntnisse über die Gegebenheiten dieser Region und die verkehrstechnischen
Voraussetzungen für den Eisenbahnbau und die Erschließung der Bodenschätze
wiedergaben. Die Verträge über den Bau der Schantung-Eisenbahn wurden
dann 1898 zusammen mit dem Pachtvertrag über die Kiautschou-Bucht
abgeschlossen, womit Richthofens Anliegen weitgehend umgesetzt wurde.
|