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Die preußische und die Kaiserliche Marine
in den ostasiatischen Gewässern:
Das militärische Interesse an Ostasien

von Michael Salewski

Die "Berliner Illustrirte Zeitung" machte am 10. April 1898 mit den ersten "Bildern aus Kiautschou" auf. "Von allen überseeischen ›Erwerbungen‹", hieß es gleich einleitend, "die sich das Deutsche Reich, seitdem es seinen Beruf für eine Kolonialmacht entdeckt, zugelegt hat, ist keine in so kurzer Zeit so populär geworden, wie unsere ›Pachtung‹ in China, Kiautschou. In diesem Zeichen gingen zwei Drittel aller Kostümfeste des verflossenen Winters in Scene, die Coupletdichter stürzten sich mit wahrer Wonne auf den ›dankbaren‹ Stoff, und auch die Industrie ging nicht ganz daran vorüber. Und während der Deutsche im allgemeinen unsern Kolonien recht kühl gegenübersteht, für Kiautschou hat auch der Oppositionsmann etwas übrig. Um so mehr als die anfänglichen befürchteten kriegerischen Verwicklungen ausgeblieben sind …"1
Im gleichen Jahr erschien der Reisebericht jenes Geheimen Marine-Hafenbaudirektors in Kiel, Georg Franzius, dessen positives Votum für Kiautschou den letzten Ausschlag zur "Erwerbung" der Bucht geliefert hatte unter dem Titel: "Kiautschou. Deutschlands Erwerbung in Ostasien". Innerhalb eines halben Jahres wurde das Buch in vier Auflagen verbreitet - aber daran war nicht Franzius noch dessen farbenfroher Bericht, sondern kein Geringerer als der Kaiser persönlich "schuld", denn dieser hatte nicht nur das Geleitwort beigesteuert, sondern auch den Entwurf zur Einbanddecke und einige geradezu phantastische Bilder. "Wo ein deutscher Mann in treuer Pflichterfüllung für sein Vaterland fallend begraben liegt", so setzte Wilhelm II. ein faksimiliertes Autograph hinzu, "und wo der deutsche Aar seine Fänge ins Land geschlagen hat, das Land ist deutsch und wird deutsch bleiben!"2 Es kommt nicht von ungefähr, daß die Worte "Pachtung" und "Erwerb" von der Presse in Anführungszeichen gesetzt wurden: Nachdem der "Reichsanzeiger" am 5. Januar 1898 die Festsetzung in Kiautschou amtlich verkündet hatte, war die Öffentlichkeit davon überzeugt, daß die Bucht ein für allemal deutsch geworden war. Wilhelm II. ließ keinerlei Zweifel daran, daß die Zukunft Tsingtaus militärisch bestimmt sein würde, das zeigte schon die bei Franzius abgedruckte eigenhändig gezeichnete vergleichende Flottenliste des Kaisers. Sie trug das Datum "Februar 1898". In drei sauber untereinander gezeichneten Kolonnen von Schiffssilhouetten erschienen die "Seestreitkräfte Japans, Deutschlands und Rußlands in Ostasien". 14 japanische und 14 russische Kriegsschiffe aller Klassen rahmten 8 deutsche ein - wer wollte, konnte aus dieser kaiserlichen "Maling" (Zeichnung) Realität und Programm der deutschen Ostasienpolitik schon ableiten.3
In Wirklichkeit sollte die deutsche Festsetzung in Kiautschou nicht den Anfang, sondern eher schon das Ende des deutschen überseeischen Ehrgeizes in Ostasien markieren, auch wenn die Verantwortlichen genau dies hofften und glaubten. "Am Sonntag, den 14. November erfolgte die Besitzergreifung. ›Kaiser‹ und ›Prinzeß Wilhelm‹ gingen in der kleinen Bucht von Tsingtau vor Anker, um ihre hier an der Brücke landenden Truppen zu decken, während ›Cormoran‹ in die Bucht von Kiautschou bis zum Horse-shoe Riff lief, um den chinesischen Truppen von Norden her in den Rücken zu fallen und besonders die Munitionshäuser zu besetzen. Das aus 30 Offizieren, 77 Unteroffizieren und 610 Mann bestehende Landungskorps war überrascht, am Lande nicht den geringsten Widerstand zu finden. Noch überraschter aber waren dann die 1600 bis 2000 Mann zählenden Chinesen, als sie plötzlich ihre Munitionshäuser und Lager von unsern Truppen besetzt sahen …"4
Konteradmiral Diederichs ließ um 21/2 Uhr die deutsche Flagge "mit drei Hurrahs auf seine Majestät den Kaiser" hissen und erließ folgende Proklamation: "Ich, der Chef des Kreuzergeschwaders, Kontreadmiral v. Diederichs, mache hiermit bekannt, daß ich auf Allerhöchsten Befehl seiner Majestät des deutschen Kaisers die Kiautschoubucht und die vorliegenden Inseln … besetzt habe. Dies geschieht, um Bürgschaft zu haben, für die Erfüllung der Sühneforderungen, welche an die chinesische Regierung wegen der Ermordung deutscher Missionare in Shantung gestellt werden müssen."5
Die Ermordung zweier Steyler Missionare hatte bekanntlich als lang erhoffter Vorwand dienen müssen, um sich in Kiautschou gewaltsam militärisch festzusetzen, aber ohne eine lange diplomatische, seestrategische und technische Vorbereitung wäre dieser Coup kaum möglich gewesen. Wenn den Verantwortlichen in Berlin dennoch alles andere als wohl war, das Oberkommando der Marine in fliegender Hast einen Operationsplan gegen Japan entwarf,6 die recht massiv vorgetragenen russischen Proteste das Auswärtige Amt höchst unangenehm berührten,7 so zeigte dies nur, auf welch schmalem Grat sich schon die Anfänge der deutschen "Weltpolitik" bewegten.8
Ob das Deutsche Reich überhaupt jemals in der Lage sein konnte, es den großen anderen europäischen Mächten, vor allem also England, Rußland, Frankreich, aber auch den Niederlanden, im Erwerb überseeischer Stützpunkte und Kohlestationen gleichzutun, war eine Frage, die sich schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin gestellt hatte.
Die von Friedrich dem Großen privilegierte "Königlich Preußische Asiatische Handlungs-Compagnie von Emden auf China" ließ in den kurzen Friedensjahren zwischen dem 2. und dem 3. Schlesischen Krieg ein rundes Dutzend Mal mit eigenen Schiffen Kanton anlaufen; bekannt geworden ist die Fahrt der "König von Preußen", "bemannt mit 120 Matrosen und 12 Grenadieren und bestückt mit 36 Kanonen".9 Die Geschäfte waren einträglich und ließen sofort den Wunsch nach staatlicher Unterstützung wach werden, aber die europäischen Wirren des nachfolgenden knappen Jahrhunderts machten für Preußen und die übrigen deutschen Staaten den Erwerb irgendwelcher asiatischer Stützpunkte völlig unmöglich; nicht ohne Neid mußte man die erfolgreichen französischen, niederländischen, vor allem aber englischen Bemühungen um ein Fußfassen in China und Südostasien verfolgen. Erst mit den politischen und militärischen Folgen der Revolution von 1848 begann eine eigenständige preußische Marine- und Stützpunktpolitik; der geistige Vater war neben Friedrich List Adalbert von Preußen, dessen berühmte Denkschrift von 1848 zur "Magna Charta" der deutschen Marinegeschichte wurde.10 "6 Fregatten von 60 Kanonen", so meinte er, seien völlig ausreichend "um, mit Ausnahme Nordamerika's, mit allen anderen Staaten der neuen Welt Krieg zu führen; denn keiner derselben kann uns mehr Streitkräfte entgegenstellen. Ebenso würden wir unserer jungen Flagge in den chinesischen Gewässern diejenige Achtung nöthigenfalls erzwingen können, deren dort die anderen seefahrenden Nationen bereits genießen."11
Das war 1848 nur Zukunftsmusik, aber die Frage nach der preußischen Marinepräsenz in Ostasien war seitdem nicht mehr verstummt, und es fehlte im kommenden Jahrzehnt nicht an allerlei Projekten,12 in denen Nord- und Südamerika, die Inselwelt des Pazifischen Ozeans, vor allem aber China, Siam und Japan die wichtigste Rolle spielten. Dabei ging es um Flotten- und/oder Kohlestationen; nachdem der Krimkrieg endgültig erwiesen hatte, daß die Zukunft der Marine bei den kohlebefeuerten Dampfschiffen liegen würde,13 wurden entsprechende Kohle-Stützpunkte zur zwingenden Notwendigkeit, wollte man außerhalb der engen Heimatgewässer mit Seestreitkräften operieren. Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Vizeadmiral Hollmann, definierte: "Unter Flottenstationen sind gesicherte Plätze im Auslande verstanden, welche, unter deutscher Gebietshoheit stehend, unseren Schiffen jederzeit die Möglichkeit gewähren, ihren Bedarf an Proviant, Kohlen, Munition, wie überhaupt an Vorräten jeglicher Art, zu decken. Werkstätten, Docks, Hellinge sollen die Ausführungen von Reparaturen, Lazarette die Aufnahme von Kranken und Verwundeten, Kasernements die Unterbringung von Ersatzmannschaften für die Schiffe ermöglichen. Im Kriege bilden die Stationen die Basis für alle Unternehmungen, sie dienen der Flotte als Sammelpunkt und Rückhalt, den Handelsschiffen als sichere Zufluchtsstätte."14
Damit war das Idealziel umschrieben. In Wirklichkeit mußten sich die preußischen Schiffe in Ostasien auf englisches und französisches Wohlwollen und deren maritime Infrastruktur in den "Vertragshäfen" stützen. Diese waren sowohl in Siam und Japan wie auch in China Resultat jener "ungleichen Verträge", die nach dem englischen Einbruch nach China auf scheinlegale Weise den schwächlichen Regimes in diesen Ländern abgenötigt worden waren. Der eigentliche Paukenschlag erfolgte 1853 mit der mehr oder weniger gewaltsamen Öffnung Japans durch das amerikanische Geschwader des Kommodore Perry,15 in dessen Gefolge ein wahrer Run der europäischen Mächte nach Ostasien einsetzte. Die preußische Ostasienexpedition, die zumeist den Namen des preußischen Gesandten Graf Eulenburg trägt, fügte sich in dieses Muster und verschaffte Preußen-Deutschland16 das eigentliche machtpolitische Entrée nach Ostasien; man kann durchaus behaupten, daß diese Unternehmung, die ein gut Teil der preußischen maritimen Ressourcen in Anspruch nahm, der vorweggenommene Auftakt der deutschen "Weltpolitik" war, wie sie mit der "Erwerbung" Kiautschous ins allgemeine politische Bewußtsein der Nation trat.17 Dabei waren nicht so sehr die von Eulenburg erreichten Vertragsabschlüsse mit Japan, China und Siam ausschlaggebend, zumal Preußen die Sprachregelung ausgab, man wolle "nur" Handel treiben und hege keinerlei machtpolitische Ambitionen, als vielmehr die langfristigen personellen Konsequenzen dieses Unternehmens: Der Gesandte Eulenburg wurde Bismarcks Innenminister, der Expeditionsarzt Lucius war kein anderer als Bismarcks Minister Lucius von Ballhausen, der Attaché Max von Brandt wurde Gesandter in Japan und China und avancierte in der "heißen" Phase des Kiautschou-Coups zur grauen Eminenz im Auswärtigen Amt; Freiherr von Richthofen, der Geograph, begründete wesentlich die Theorie des deutschen Imperialismus. "Von den 64 Seeoffizieren, Kadetten usw., die den vier Schiffen der Expedition zugeteilt waren, rückten nicht weniger als 23 im Laufe der Jahre zu Admirals- oder Generalsrang auf; zwei von ihnen, Vizeadmiral Heusner und Admiral Hollmann, übten zu verschiedenen Zeiten das Amt des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes aus."18 Das heißt: Ein beträchtlicher Teil jener führenden politischen und militärischen Elite, die seit Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 das Deutsche Reich schuf, hatte unmittelbare persönliche Erfahrungen mit dem Fernen Osten. Alle Entscheidungen fielen daher nicht vom grünen Tisch der Theorie, sondern auf Grund sehr exakter politischer, militärischer, wirtschaftlicher, kultureller, aber auch geographischer und strategischer Erfahrungen. Das unterschied die deutsche Kolonialpolitik in Ostasien fundamental von jener in Afrika oder im pazifischen Raum. Wenn die Deutschen später an Tsingtau mit ihrem Herzblut hingen, so kann man das fast wörtlich nehmen, war doch ein Drittel der Expeditionsteilnehmer 1860/61 ums Leben gekommen. Der Untergang des Schoners "Frauenlob" im Taifun wirkte noch jahrzehntelang wie ein Vermächtnis, das Kaiser und Reich zu wahren hatten. Wenn die praktische Tagespolitik betreffs Ostasiens im Auswärtigen Amt ein Vierteljahrhundert später eher dilettantisch betrieben wurde,19 so blieb sie doch hochemotionalisiert.
Daß es der preußischen Politik 1859/60 nicht allein um günstige Handelsverträge ging, machte der Auftrag deutlich, nach Möglichkeit auch maritime Stützpunkte zu erwerben - sei es auf Formosa, auf Hawaii oder in Patagonien.20 Dazu kam es nicht, aber fortan blieb das Thema "Stützpunkt in Fernost" auf der politischen Tagesordnung; 1868 wurden die ersten Kriegsschiffe nach Ostasien verlegt; als die beiden Korvetten "Hertha" und "Medusa" 1869/70 in Singapur eintrafen, galt die "Ostasiatische Schiffsstation" als offiziell gegründet,21 und in den nachfolgenden Jahren blieb die preußische, dann kaiserliche Marine mit einer Handvoll Auslandskreuzer in den japanischen und chinesischen Gewässern präsent. Schon in den politisch bewegten Zeiten der Reichseinigungskriege wurde das Bedürfnis nach einer eigenen Flottenstation immer größer, aber außer einem kleinen "Marine-Grund" in Yokohoma blieb das Ostasiatische Geschwader auf das Wohlwollen vor allem Englands, Rußlands und zunehmend Japans angewiesen. Dieser Zustand wurde als völlig unbefriedigend empfunden, auch wenn Bismarck aus übergeordneten politischen Motiven 1865 die Weisung erteilt hatte, im Fernen Osten keine eigenständige deutsche Kolonial- und Marinepolitik zu treiben, sondern sich ganz nach den Wünschen der übrigen dort präsenten europäischen Großmächte zu richten.22 Nach 1871 lag Bismarck daran, im Fernen Osten kein Spannungsgeflecht entstehen zu lassen, in das Deutschland auf der einen oder anderen Seite hineingezogen werden konnte, auch wenn die ständig anwachsenden ökonomischen Interessen des jungen Reiches in China nach einer Unterstützung und Absicherung durch maritime Machtmittel geradezu schrien. "In Ostasien", so bedeutete der Reichskanzler dem national-liberalen Abgeordneten Bürklin, "müssen wir uns durch geeignete Verträge unsere Vorteile wahren. Erwerbung von Land hat dort keinen Sinn."23
Die Marine war, natürlich, völlig entgegengesetzter Meinung, aber die Rolle von Admiralität und Oberkommando war politisch gesehen viel zu schwach, um eine selbständige Marine-Außenpolitik zu treiben. Erst der doppelte "Machtwechsel" von 1888 und 1890 - Regierungsantritt Wilhelms II., Sturz Bismarcks - ließ die politischen Aktien der Marine steigen - jetzt sprunghaft.
Wilhelm II., der sich mit der Erwerbung Helgolands 1890 als wahrhafter "Mehrer des Reiches" empfunden hatte, war als Verfechter des Kreuzerkriegsgedankens mit der Problematik von Flotten- und Kohlestationen wohl vertraut und konnte der Unterstützung durch den Chef des Reichsmarineamtes Hollmann - einen Teilnehmer der Eulenburg-Expedition - sicher sein. Die wachsenden Spannungen zwischen dem sich rasant modernisierenden Japan, das nahezu aus dem Nichts binnen weniger Jahre eine moderne, imponierende Flotte schuf, und dem anscheinend immer schwächer werdenden China ließ die Frage nach deutschem Landerwerb in China immer dringlicher werden, zumal man in der Wilhelmstraße davon ausging, daß zumindest England und Rußland bei erster sich bietender Gelegenheit weitere Stützpunkte in China zu erwerben suchen würden. Es bestand in deutschen Augen also die Gefahr, wieder einmal zu spät zu kommen und den "Platz an der Sonne" zu verpassen.24 Es waren dann die Folgen des japanisch-chinesischen Krieges mit dem Frieden von Shimonoseki, die die Dinge in Fluß brachten; die ungeschickt-unglückliche Beteiligung Deutschlands an der Interventionspolitik des "ostasiatischen Dreibundes" gegen Japan versetzte den bis dahin guten deutsch-japanischen Beziehungen einen Stoß, von dem sie sich bis 1914 nicht mehr erholen sollten, gleichzeitig aber war damit das politisch-diplomatische Feld für den deutschen Stützpunkterwerb in China bereitet, glaubte die Wilhelmstraße doch, daß China aus purer "Dankbarkeit" entsprechenden deutschen Wünschen nachkommen werde. Daß das Reich im Fernen Osten seitdem mit der Feindschaft Japans rechnen mußte, machte aber die Stützpunktpolitik von Anfang an fraglich - es sei denn, man wollte in Fernost eine ähnlich machtvolle seestrategische Position aufbauen, wie dies England und - mit Einschränkungen - Rußland versuchten. Aber damit war die Gretchenfrage gestellt: Was eigentlich wollte die Kaiserliche Marine, was wollte die kaiserliche Marinepolitik, in welchen größeren politischen Zusammenhängen mußte die maritime Ostasienpolitik stehen?
Diese Fragen sind für die Zeit bis 1897 völlig anders zu beantworten als für die Jahre von 1897 bis 1914. Die schärfste Zäsur bildet die Ernennung von Alfred Tirpitz zum Chef des Reichsmarineamtes im Jahr 1897. Hatte Hollmann bis dahin die Idee des Kreuzerkrieges favorisiert, in dessen Rahmen einer Stützpunktpolitik im Fernen Osten eine geradezu strategische Bedeutung zukam, ließ sich der Kaiser mit der "Dienstschrift IX" vom völlig entgegengesetzten Schlachtflottenkonzept Tirpitz' überzeugen.25 Die Festsetzung in Kiautschou erfolgte exakt zu jenem Zeitpunkt, als das strategische Konzept wechselte: Tsingtau bildet so betrachtet den Höhepunkt der "Kreuzerkriegsschule" - und war zugleich ein "totgeborenes Kind", denn im Schlachtflottenkonzept spielten außerheimische Gewässer und Stützpunkte keine Rolle mehr. Einzig die Nordsee, genauer: das "nasse Dreieck" der Deutschen Bucht, sollte der Schauplatz der großen Seeschlacht und der Entscheidung sein. Die strategische Konzeption, die nach Kiautschou führte, wurde dem Auswärtigen Amt vom Oberkommando der Marine sorgfältig und eindringlich erläutert; Flottenstationen, so bedeutete Hollmann dem Staatssekretär des Äußeren, Freiherrn von Marschall, seien im Fall eines Kreuzerkrieges "geradezu eine Existenzbedingung für die Schiffe",26 sie seien erforderlich zur "Geltendmachung des Willens", und das Reich könne nur so "China und Japan gegenüber mächtig dastehen".27 Aber nicht nur das: In der ihm typischen, unnachahmlichen Weise brachte es Wilhelm II. auf den Punkt, als er auf die Wegnahme von Port Arthur durch Rußland als Folge der deutschen Festsetzung in Kiautschou mit einem Telegramm an Nikolaus II. reagierte: "Please accept my congratulations at the arrival of your squadron at Port Arthur. Russia and Germany at the entrance of the Yellow Sea may be taken as represented by St. George and St. Michael shielding the Holy Cross in the Far East and guarding the Gates to the Continent of Asia."28
Als Fernziel schwebte der Kreuzerkriegsschule der Ausbau von Kiautschou als eines "Gibraltars" am Gelben Meer vor (in den Akten taucht das Wort "Gibraltar" tatsächlich auf!), das heißt einer seestrategischen Position, die nur dann das werden konnte, was sie sein sollte, wenn ihr eine mächtige Kreuzerflotte entsprach. Diese sollte aus 6 Linienschiffen, 4 Küstenpanzern, 2 großen und 6 kleinen Kreuzern, 6 Kanonenbooten und einer Torpedobootsdivision bestehen.29 "Ohne kräftigen Druck und ohne Macht, die von der Küste aus sichtbar, ist hier gar nichts zu machen", hatte schon 1896 der forsche deutsche Gesandte in Peking, Edmund Freiherr von Heyking, gekabelt; "Geld und Kriegsschiffe" seien allein die Sprache, die China (und natürlich alle anderen Mächte) verstünden.30
Von daher war es logisch, daß Kiautschou dem Reichsmarineamt zur Verwaltung übertragen wurde - aber es war das gleiche Reichsmarineamt, das dann nach dem Motto von Tirpitz verfuhr: "Hauptbedingung (für Tsingtau) war mir die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit; eine rein militärische Basis zu schaffen schien mir nicht geraten."31
Der Grund für diese Zurückhaltung lag im Schlachtflottenkonzept: Da sämtliche Ressourcen des Reiches für den Schlachtflottenbau und die - letztlich utopische - Entscheidungsschlacht in der Nordsee gegen England benötigt wurden, blieb für den strategischen Auf- und Ausbau Kiautschous nichts übrig, ja Tirpitz wandte sich in den kommenden Jahren vehement gegen alle Pläne, das Ostasiatische Kreuzergeschwader zu verstärken - solange der Flottenbau nicht beendet war. Daß der Großadmiral nach Erreichen dieses Ziels sehr wohl an den zweiten Schritt, die Projektion der deutschen Seemacht nach Ostasien, dachte, steht allerdings fest. Wenn Tsingtau zur "Musterkolonie" wurde, so war dies in seinen Augen nur das Präludium zum Muster-Flottenstützpunkt. "Der Gedanke, uns einen starken Stützpunkt in Ostasien zu schaffen, nach dem die Deutschen gravitieren konnten, war richtig; aber die Vorbedingung war, daß wir uns mit Japan gutstellten."32
Mit dem Amtsantritt von Tirpitz als Staatssekretär im Reichsmarineamt wurde Tsingtau zum Wechsel auf eine noch ferne Zukunft; was sich demgegenüber seestrategisch und marinepolitisch zwischen 1897 und 1914 tat, gehorchte politischen und maritimen Augenblicksnotwendigkeiten, trug zur Schürzung des weltpolitischen Knotens im Fernen Osten jedoch erheblich bei.
Und dies vor allem auch in psychologischer Hinsicht, denn der Kaiser, wie ein großer Teil der kolonialenthusiastischen Öffentlichkeit, weckten nach 1898 den Anschein, als würde das Reich mit unbändiger Kraft und "gepanzerter Faust" seinen Willen in Fernost allen anderen Mächten oktroyieren. Vor allem die Vorgänge um das deutsche Engagement während des "Boxer-Aufstandes" trugen entgegen aller "Weltmarschall"-Euphorie, trotz Seymours "The Germans to the Front!", zur Eintrübung des deutsch-britischen, vor allem aber auch des deutsch-japanischen und deutsch-russischen Verhältnisses bei.33 Deutschland trat in China mit 20000 Mann und 26 Schiffen als drittstärkste Seemacht34 auf und ließ etwas von den wahren Zielen der deutschen maritimen Ostasienpolitik ahnen - aber das ganze Unternehmen, von den Sozialdemokraten im Reichstag ob seiner verfassungspolitisch bedenklichen Konsequenzen scharf verurteilt, war der reinste Anachronismus und mit 240 Millionen Reichsmark teurer als der Kaiser-Wilhelm-Kanal.35 Der Euphorie folgte denn auch der Katzenjammer, seit 1901 wurde die maritime Präsenz im Fernen Osten systematisch wieder abgebaut. Das englisch-japanische Bündnis vom 30. Januar 1902, vom Auswärtigen Amt völlig falsch interpretiert, entzog dann allen deutschen Flottenplänen schon endgültig den Boden. Resignierend stellte der Admiralstab fest: "Unter diesen Umständen bildet der genannte Hafen … im Falle kriegerischer Verwicklungen keinen Stützpunkt für unsere in Ostasien stationierten Land- und Seestreitkräfte. Das Kreuzergeschwader wird sich bei Ausbruch eines Krieges in anderen Seegebieten zu basieren suchen. Für die Vertheidigung von Kiautschou kommen die Schiffe daher nicht in Betracht. Es muß damit gerechnet werden, daß die Kolonie unmittelbar nach Kriegsausbruch von den überlegenen Flotten unserer möglichen Gegner in Ostasien (Zweibund, Union, England, Japan) genommen wird."36
Ein Vergleich der Flottenstärken37 ließ Deutschland (und Österreich) in den ostasiatischen Gewässern auch nicht den Hauch einer Chance; Tsingtau war eben ein Wechsel auf eine ferne Zukunft gewesen, diese aber war dem Reich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges radikal abgeschnitten. Hatten Tsingtau und das Ostasiatische Kreuzergeschwader noch während der chinesischen Revolution von 1911/12 eine nützliche Rolle spielen können, so blieb ihm im August 1914 nichts übrig, als ohne jeglichen landstrategischen Rückhalt gegen die britische Übermacht zu operieren. Sieg und Untergang des Speeschen Geschwaders bei Coronel und den Falklands illustrierten in dramatisch-tragischer Weise noch einmal die Möglichkeiten und Grenzen des deutschen maritimen Übersee-Engagements.38
Der Fall der Festung Tsingtau am 7. November 191439 war ebenso unvermeidlich wie logisch, nachdem Politik und Strategie es versäumt hatten, Kiautschou politisch und militärisch zu sichern. Ersteres wäre nur möglich gewesen, wenn das Reich und nicht England mit Japan verbündet gewesen wäre, letzteres, wenn Tirpitz auf das Schlachtflottenkonzept verzichtet hätte. Ob dann die causa prima des deutsch-britischen Gegensatzes entfallen und der Weltfriede gerade deswegen ebenso erhalten geblieben wäre wie Tsingtau, bleibt eine offene Frage.



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Ansicht der Ortschaft Schatsekou

 

 

 

 

 

 

Denkmal für die Besetzung der Kiautschou-Bucht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Denkmaleinweihung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Truppentransportschiff

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Soldaten bei Landungsmanöver