Alltagsleben im Schutzgebiet:
Zivilisten und Militärs, Chinesen und Deutsche
von Wilhelm Matzat
Die Bevölkerung der Stadt
Tsingtau entwickelte sich rasch von 15600 im Jahre 1902 auf über
55000 im Jahre 1913. An dieser Zahl hatten die Nicht-Chinesen einen
geringen Anteil: 1902 waren dies etwa 2500 Menschen, 1913 etwa 4500.
Das Stadtgebiet umfaßte das Europäerviertel, das chinesische Händler-
und Handwerkerviertel Dabaodao und die getrennt davon liegenden
chinesischen Arbeiterviertel Taixizhen und Taidongzhen.
Im übrigen Pachtgebiet von Kiautschou, das etwas mehr als 450 qkm
umfaßte, wohnten in 275 Dörfern zu Beginn der Kolonialzeit etwa
80000 bis 100000, 1913 knapp 200000 Chinesen. Sie lebten überwiegend
von der traditionellen Landwirtschaft.
Entwicklung
der zivilen Bevölkerung im Stadtgebiet von Tsingtau |
Jahr |
Chinesen |
Europäer u. Amerik |
Japaner |
Andere Asiaten |
Insgesamt |
1902 |
14905 |
688* |
- |
- |
15593 |
1904 |
27622 |
962* |
152 |
7 |
28838 |
1907 |
31509 |
1484* |
161 |
9 |
33166 |
1910 |
34130 |
1621** |
167 |
21 |
35989 |
1913 |
53312 |
2069** |
205 |
25 |
55611 |
Hinzu
kommt noch die Garnison mit *1850 beziehungsweise **2400 Soldaten. |
Die Wohnsituation
Für jedes zu versteigernde Grundstück in Tsingtau hatte die Verwaltung
einen relativ mäßigen Mindestpreis festgesetzt. Da es beim Bieten
nur selten Konkurrenz gab, wurden die Parzellen in den meisten Fällen
auch zu günstigen Preisen erworben. Dies war ganz im Sinn des "Chinesenkommissars"
Schrameier, der die Landordnung für Tsingtau entworfen hatte. Seine
Zielsetzung war es, die Lebenshaltungskosten von Anfang an so niedrig
wie möglich zu halten. Er erwartete, daß bei niedrigen Grundstückspreisen,
nach Errichtung der Gebäude, auch die Mieten entsprechend gering
sein würden. Diese Hoffnung aus dem Jahre 1898 ist allerdings bis
1914 nur zum Teil in Erfüllung gegangen, da das Gesetz von Angebot
und Nachfrage wirksamer war.
In dem 20 qkm großen Gebiet, das für die künftige Stadtanlage vorgesehen
war, wurden die dort gelegenen neun Dörfer abgerissen, um an ihrer
Stelle Wohnquartiere für Europäer und Chinesen zu errichten. Verständlicherweise
konnte das Angebot an bezugsfertigem Wohnraum zunächst unmöglich
der rasch wachsenden Nachfrage der Zuziehenden entsprechen, was
bis 1914 zu relativ hohen Mieten führte. Wer von den Europäern ein
eigenes Grundstück kaufte und sich dort sein Haus baute, war im
Vorteil, denn er zahlte jährlich lediglich eine sechsprozentige
Grundsteuer. Die meisten Beamten und Offiziere hielten sich aber
nur für einen begrenzten Zeitraum in Tsingtau auf und waren daher
nicht an einem Grundstückserwerb interessiert. Das Gouvernement
hatte die Wohnungsbeschaffung für diese Gruppe ursprünglich ganz
der Privatwirtschaft überlassen wollen. Da der Wohnungsbau aber
beschleunigt werden mußte, beauftragte das Gouvernement die Firma
Snethlage & Siemssen mit der Errichtung einiger Wohnblöcke und unterstützte
sie finanziell, was zu einer gewissen Entspannung auf dem Wohnungsmarkt
führte. Doch konnte insgesamt dem Wohnungsmangel in kurzer Zeit
nicht abgeholfen werden. Die Verwaltung war nicht in der Lage, die
Preise zu senken, war sie doch verpflichtet, den Beamten gegen Zahlung
eines den heimischen Verhältnissen entsprechenden Mietzinses angemessene
Unterkunft in bestimmtem Umfange zu gewähren. Sie befand sich daher
in Abhängigkeit von den privaten Hauseigentümern, denen sie die
geforderten Preise stets zahlen mußte. Um weitere Preissteigerungen
zu verhindern, erhielten die Beamten und Offiziere ab 1906 nicht
mehr die Wohnung direkt zugewiesen, sondern bekamen eine Wohnungsgeldentschädigung
und mußten für ihre Unterkunft selbst sorgen. Dies hatte zur Folge,
daß bevorzugt billigere Wohnungen gesucht wurden. Diese Entschädigung
wurde dennoch als unzureichend empfunden. Eine gewisse Berechtigung
hatten die Klagen der Betroffenen insofern, als das Gehalt zwar
in Reichsmark festgesetzt, aber in mexikanischen Silberdollars zum
Tageskurs ausgezahlt wurde. Dieser Kurs konnte beträchtlich schwanken
(1903: 1 Dollar = 1,66 Mark, 1906 aber: 1 Dollar = 2,39 Mark).
Der Stadtentwicklungsplan von Tsingtau sah, im wesentlichen aus
hygienischen Gründen, eine möglichst strikte Trennung von europäischen
und chinesischen Wohnvierteln vor. Die Realität war jedoch zum Teil
eine andere, da in den Anfangsjahren Tsingtaus die Bebauung im chinesischen
Händlerviertel Dabaodao am schnellsten voranschritt. Europäer quartierten
sich aus Mangel an anderen Möglichkeiten auch dort ein. Im Europäerviertel
durften Chinesen bis 1911 nicht wohnen, sie konnten dort zwar Grundstücke
kaufen und Häuser bauen, was sie auch taten, diese mußten sie aber
an Europäer vermieten. Da aber die europäischen Familien auf chinesische
Angestellte angewiesen waren, wohnten de facto doch Chinesen hier
und waren zumeist in Nebengebäuden untergebracht. Für viele Deutsche
- vor allem für die Frauen und Kinder - war der Umgang mit Koch,
Boy und Amah (Kindermädchen) der fast einzige Kontakt mit Chinesen.
Aufgrund der Sprachbarriere gab es Mißverständnisse, und beide Seiten
hatten Schwierigkeiten, die Mentalität des anderen zu verstehen.
Nicht selten wurde die Dienerschaft gewechselt, meistens lautete
der Vorwurf, sie sei "betrügerisch". Vor allem benötigte es der
Gewöhnung an den sogenannten Squeeze, ein Aufgeld, das der Koch
beim Einkaufen beanspruchen durfte. Dies erforderte von der Hausfrau
Taktgefühl. Wurden die monatlichen Rechnungen zu hoch, konnte sie
sagen: "Du mußt geschickter einkaufen, der master kann nicht jeden
Monat so viel bezahlen." Dann wurden die Ausgaben im nächsten Monat
bestimmt geringer. Sagte die Hausfrau aber: "Du hast zuviel Squeeze
gemacht", dann verlor der Koch sein Gesicht und verließ sehr wahrscheinlich
den Haushalt, was zur Folge hatte, daß auch Boy und Kuli mitzogen,
da der Koch in der Regel die Dienerschaft einstellte.
Die traditionelle Bauweise Nordchinas, sowohl in der Stadt als auch
im Dorf, war das nach innen gekehrte, ebenerdige Hofhaus, das zur
Straße hin keine Fenster hatte. Die zwei Arbeitersiedlungen in Tsingtau
wurden nach diesem Vorbild errichtet. In Dabaodao waren die Reihenhäuser
überwiegend zweigeschossig und entsprachen so der Bebauung der Geschäftsstraßen,
wie sie in Mittel- und Südchina üblich waren: die Geschäfte und
Werkstätten im Erdgeschoß, die Wohnung im ersten Stockwerk.
Das Berufsleben
Die nichtchinesische Zivilbevölkerung war in Tsingtau im Vergleich
zur Anzahl der Soldaten immer in der Minderzahl, erst gegen Ende
der Kolonialzeit gestaltete sich das Verhältnis etwas ausgeglichener.
In zeitgenössischen Berichten über Tsingtau findet man deswegen
hin und wieder die abschätzige Bemerkung: "Zu viel Militär!" Zunächst
einmal ist diese Kritik überaus "eurozentrisch", die zuletzt über
50000 chinesischen Zivilisten schienen eine quantité négligeable
zu sein. Außerdem berücksichtigt sie nicht, daß sich die Stadt in
ihrer Aufbauphase befand und gerade in dieser Periode militärisch
geschützt werden mußte, allein schon wegen der Diebes- und Räuberbanden,
die eine der großen Plagen Chinas waren. In dem von den Briten gegründeten
Hongkong war es in den ersten 15 Jahren gerade umgekehrt; die Kronkolonie
wurde Zuflucht und Stützpunkt chinesischer Seeräuber und Mafiabanden,
weil sie sich dort vor der Nachstellung der chinesischen Behörden
sicher fühlten.
In dem Tsingtauer Europäerviertel waren die Begegnungsmöglichkeiten
zwischen europäischen Zivilisten und Soldaten nicht sehr ausgeprägt,
denn die Iltis-, Bismarck- und Moltkekasernen lagen östlich und
räumlich weit von den Wohnquartieren entfernt. Der militärische
Drill fand auf den Kasernengeländen und dem Rennplatz nahe der Auguste-Viktoria-Bucht
statt, die Ausmärsche östlich der Iltisberge in Richtung Prinz-Heinrich-Berge
und Lauschan-Gebirge. Die Soldaten hatten ihren eigenen Badeplatz
an der Iltisbucht, während der Hauptstrand an der Auguste-Viktoria-Bucht
Zivilisten und Offizieren vorbehalten war. Allerdings muß beachtet
werden, daß Tsingtau auch Flottenstützpunkt war, mindestens lag
immer ein Schiff des Ostasiatischen Kreuzergeschwaders auf der Außenreede
vor Anker. Wenn die Matrosen Landgang hatten, suchten sie nicht
nur Bordelle in Dabaodao oder Bierstuben auf, sondern auch das Seemannshaus
für Mannschaften und Unteroffiziere, das sich in der Hauptgeschäftsstraße,
der Friedrichstraße, befand. Weiterhin gab es das vom Gouvernementspfarrer
Winter gegründete "Christliche Soldatenheim", das am Nordhang des
Observatoriumhügels lag. Die Soldaten des III. Seebataillons, die
im Schnitt zwei Jahre am Ort blieben, bestanden zu einem großen
Teil aus Freiwilligen. Die Einjährig-Freiwilligen mußten die Kosten
für ihre Bekleidung, Verpflegung und Unterkunft selbst tragen. Jährlich
kam etwa die Hälfte der Besatzung zur Ablösung, und die Ankunft
des Truppentransporters "Patrizia" jeweils im Februar war ein markantes
Ereignis.
Von 1901 bis 1913 erschien jährlich das "Adreßbuch des Deutschen
Kiautschou-Gebiets". Die dortigen Angaben lassen Aussagen über berufliche
und gesellschaftliche Strukturen im Detail zu. Die Deutschen in
Tsingtau waren, wie in der Heimat auch, hierarchisch organisiert.
Eine deutliche Zweiteilung ergab sich zunächst dadurch, daß ein
beträchtlicher Teil der Bevölkerung vom Gouvernement abhängig war:
das Militär und die Angehörigen der Verwaltung sowie der staatlichen
Betriebe. Zu ihnen gehörten auch die Lehrer der Schule und die Dozenten
der Deutsch-Chinesischen Hochschule. Unabhängiger waren die Kaufleute,
einige Architekten, Ärzte, Apotheker, Techniker, Missionare und
die deutschen Angestellten beim chinesischen Seezolldienst. Seezolldirektor
Ohlmer, von 1899 bis 1914 in Tsingtau, war der Sprecher dieser zweiten
Gruppe, der inoffizielle "leader of the opposition". Innerhalb der
Kaufmannschaft vertraten die kleinen Geschäftsinhaber andere Interessen
als die Vertreter der großen Firmen (die alten China-Export-Import-Firmen,
Deutsch-Asiatische Bank, Schantung-Eisenbahn- und Bergbau-Gesellschaft).
Deren Angestellte wechselten ständig, da diese Firmen ihr Personal
häufig an andere Orte versetzten. Für die deutschen Kaufleute der
größeren Firmen ergaben sich Kontakte zu Chinesen durch die Kompradors,
die chinesischen Zwischenhändler. Während man üblicherweise das
chinesische System des Nehmens und Gebens beklagte, war dies in
der "freien" Wirtschaft nicht zu beobachten. Dolmetscher Grosse,
für viele Jahre Amtmann des Landbezirks im Pachtgebiet, gibt als
Erklärung, "daß der einzelne Kaufmann, Gewerbetreibende und Handwerker
durch seine Zugehörigkeit zur Gilde und Zunft in der nachhaltigsten
Weise ›gebunden‹ war. Wehe dem, der sich durch Unehrlichkeit und
Unzuverlässigkeit zu den Gesetzen dieser Körperschaften in Widerspruch
setzte. Denn auch sie galten als sittlich-religiös aufgefaßte patriarchalische
Gemeinschaften. Wer ihnen angehörte, war der patriarchalischen Gewalt
ihrer Vorstände unterworfen. Ein Ausschluß aus der Gilde und Zunft
bedeutete die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz. Und es
ist deshalb kein Zufall, daß überall da, wo der Zwang der Gilde
und der Zunft sich lockerte, Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit
um sich griff." Allerdings, auch "der ehrlichste und zuverlässigste
Kaufmann, Gewerbetreibende und Handwerker wurde zum Meister des
Squeeze, wenn sich durch Geschäfte mit amtlichen Stellen dazu Gelegenheit
bot".1 Nach der Niederschlagung des
Boxeraufstandes forderte das Reichsmarineamt vom Gouvernement in
Tsingtau ein Gutachten, wie es zu diesem Ereignis habe kommen können.
In seiner Antwort stellte der "Chinesenkommissar" Schrameier unter
anderem fest: "Die Zuverlässigkeit des chinesischen Kaufmanns ist
über alles Lob erhaben; der von ihm befolgte Grundsatz, einmal eingegangene
Verpflichtungen getreulich zu halten, wird kaum irgendwo anders
in der Welt in der Weise zur Geltung gebracht; das anerkennende
Urteil, das der berühmte Direktor des größten Bankinstituts im Osten
vor einigen Jahren auf Grund langjähriger und genauer Kenntnis der
Redlichkeit des chinesischen Kaufmanns gezollt hat, ist nirgends
auf Widerspruch gestoßen. Der europäische Kaufmann hat es verstanden,
chinesischem Wesen sich anzupassen und sich mit ihm zu befreunden.
Die Freundschaft ist nicht selten eine persönliche geworden, die
an dem Wohl und Wehe des Individuums aufrichtigen Anteil nimmt.
Der achtungsvolle, von wahrer Höflichkeit diktierte Verkehrston,
den man nicht nur in den sogenannten ›princely hongs‹ (große, vor
allem britische Handelsfirmen in China, d. Verf.), sondern in jedem
älteren Kaufmannshaus an der chinesischen Küste zwischen Europäern
und Chinesen, nicht nur Kunden sondern auch Angestellten aller Art,
zu finden gewohnt ist, steht in schneidendem Kontrast zu dem unversieglichen
Mißtrauen zwischen europäischen und chinesischen Beamten, zu der
gönnerhaften Behandlung der Reis- und Dollarchristen seitens der
Missionare, zu dem schneidig sein sollenden, vielfach rohen Auftreten
anderer europäischer Elemente im Lande."2
Die chinesische Landbevölkerung in den rund 275 Dörfern des Pachtgebietes3
bestand fast durchweg aus Klein- und Kleinstbauern, die im wesentlichen
eine Subsistenzwirtschaft im Regenfeldbau betrieben, weshalb die
Erträge wegen der jährlich schwankenden Niederschläge sehr unterschiedlich
ausfallen konnten. Hauptanbauprodukte waren Weizen, Gaoliang (Hirseart),
Erdnüsse und vor allem Süßkartoffeln. In China gab es in den meisten
Dörfern keine Läden, sondern die Grundversorgung mit Gütern und
Diensten im ländlichen Raum wurde seit über 1000 Jahren auf sogenannten
periodischen Märkten bewerkstelligt, die in der Regel alle fünf
Tage an einem festen Marktort stattfanden. Für das hiesige Landgebiet
war dies das Dorf Licun. Dort richtete die deutsche Verwaltung selbstverständlich
ihr Bezirksamt ein. Am Markttag kamen im Schnitt 4000 Besucher,
im Herbst und in den Wochen vor Chinesisch Neujahr waren es bis
zu 15000. Das Marktgeschehen fand im Flußbett statt, welches zumeist
trocken lag. Anbieter und Käufer waren die Bauern selbst, es gab
nur wenige Hausierer. Die Weiler im Laoshan hatten einen Überfluß
an Brennmaterial, die Küstenbevölkerung bot Fische an, und einige
Bezirke hatten eine starke Obstproduktion (vor allem Birnen, Pfirsiche,
Aprikosen, Persimonen ["Dattelpflaumen"]). Für die Bauern war der
Markttag, neben dem jährlichen Tempelfest mit Prozessionen, die
einzige Abwechslung in der Monotonie des ländlichen Arbeitsjahres,
er befriedigte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche
und emotionale Bedürfnisse. Dort fanden sie Münzwechsler, Briefschreiber,
Wahrsager, Heilkundige, Glücksspiele, Geschichtenerzähler, Sänger,
Schauspieler mit witzigen Dialogen (eine Art literarisches Kabarett),
Theateraufführungen von Wandertruppen. An den Garküchen traf man
Freunde aus anderen Dörfern und besprach die "Weltlage". Auch diskutierte
man die letzten Gerichtsurteile des deutschen Amtmannes. Hatte er
"gut" geurteilt, lobte man ihn, hatte er in ihren Augen ein Fehlurteil
gesprochen, dichtete man Spottverse auf ihn.
Licun war der Verwaltungsort für den Landbezirk. Deutsche waren
hier wie folgt tätig: ein Bezirksamtmann, der die chinesische Sprache
beherrschen mußte und der gemäß der chinesischen Tradition auch
Richter war; ein Polizeiwachtmeister, ein Unteroffizier, acht Seesoldaten
auf der Polizeistation; ein Gefängnisaufseher, zwei Seesoldaten
im einzigen Chinesengefängnis des Pachtgebietes. Der steinerne Türsturz
mit der eingemeißelten deutschen Inschrift "Chinesengefängnis" hat
sich erhalten und wird heute im Stadtmuseum von Tsingtau gezeigt.
Hinzu kamen noch 12 bis 15 chinesische Amtsdiener und Wärter. Ab
1906 gab es noch eine Poliklinik mit einem deutschen Marinearzt
samt Sanitätsmaat.
In den Dörfern beließ man es bei den Ortsältesten als Träger der
dörflichen Selbstverwaltung, bei denen die chinesische Grundsteuer
abzuliefern war.
Weder bei der Besetzung 1897 noch während des Zeitraumes bis 1914
ist es im Pachtgebiet zu militärischem Widerstand gekommen. Die
Bevölkerung verhielt sich zunächst passiv, gemäß dem Sprichwort:
"Im Sturmwind neigen sich die Halme des Grases." Allmählich wuchs
das Vertrauen in die deutsche Verwaltung, zumal sie hinreichende
Sicherheit vor Räuberbanden gewährleisten konnte, was in anderen
Teilen Chinas nicht gelang.
Die chinesische Bevölkerung der Stadt Tsingtau zeichnete sich -
auch aufgrund der Arbeitsplätze - durch einen gewaltigen Männerüberschuß
aus: 1913 war das Verhältnis von Männern zu Frauen 40115 zu 8573.
Viele Männer blieben nur vorübergehend in der Stadt und zogen später
zu ihren Familien in die Dörfer des Hinterlandes zurück.
Eine Zählung der Geschäfte und Gewerbebetriebe in Dabaodao, dem
chinesischen Händlerviertel von Tsingtau, vom August 1912 ergab
eine Anzahl von 645 Geschäften aus 45 Branchen. Die Stadtplanung
hatte ursprünglich angestrebt, daß in Dabaodao keine sogenannten
Kulis (chinesische Tagelöhner) wohnen sollten, sondern diese in
den zwei Arbeitersiedlungen außerhalb der Stadt unterzubringen seien.
Da aber der Zustrom von Arbeitsuchenden sehr stark war, sah die
Realität ganz anders aus. Der Tätigkeitsbericht des Gouvernements
für den Zeitraum Oktober 1911 bis Oktober 1912 meldet: "Von Jahr
zu Jahr schwieriger gestalten sich die Revisionen der chinesischen
Grundstücke in Bezug auf die Einhaltung der sanitätspolizeilichen
Vorschriften. Die Zahl der chinesischen Gasthäuser in Ta-pau-tau
hat sich im Berichtsjahre von 19 auf 42 vermehrt, Herbergen sind
170 vorhanden gegen 120 im Vorjahre. Fast alle davon sind überfüllt.
So wurden beispielsweise bei einer unvermuteten nächtlichen Revision
eines von Kulis bewohnten Häuserblocks 750 Personen nächtigend angetroffen,
während die gesetzlich zulässige Zahl nur 100 Köpfe beträgt."4
Ein um 1914 verfaßter Bericht des US-Konsulates in Tsingtau schildert
die Situation der Tsingtauer Kulis und nennt auch ihre Anzahl: Unter
Kuli verstehe man die Arbeitskräfte, die Rikschas (1000) und zweirädrige
Karren (700) zögen, Schubkarren (1200) und Pferdewagen (100) lenkten,
sowie die "normalen" Kulis (4000), die nur ihre Körperkraft anzubieten
hätten, hauptsächlich als Arbeiter oder als Tagelöhner im Großen
und Kleinen Hafen. Für eine Übernachtung in den Hinterhofherbergen
zahlten sie 2 Kupferkäsch, auch das Essen müßten sie selbst finanzieren.
Das Frühstück nähmen sie um 5 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr, Abendessen
um 7 Uhr ein. Ihre Ernährung bestehe in der Hauptsache aus gedämpftem
Weizenbrot (Mantou), Sojabohnenkäse (Doufu) und Bohnen- oder Hirsesuppe.
Nur hin und wieder könnten sie sich Nudeln, rohen Fisch, gekochte
Innereien oder Bohnensprossen leisten. Sie frequentierten die zahlreichen
kleinen Garküchen und gäben für die tägliche Verpflegung im Schnitt
20 Käsch aus, für sonstigen Bedarf 5 Käsch. Die täglichen Kosten
für das Notwendigste an Unterhalt beliefen sich also auf 27 bis
30 Käsch. Der Lohn pro Tag differiere gemäß physischer Leistungskraft
und der Art der Arbeit und läge zwischen 35 bis 40 Käsch. Der Kuli
könne also täglich 5 oder 10 Käsch zurücklegen, ein Teil davon gehe
sicherlich an die Familie im Heimatdorf. Einige größere Herbergen
könnten rund 200, die normalen 50 bis 100 Männer aufnehmen. In einigen
von ihnen gäbe es in der Ecke des Raumes einen Herd, und Gerichte
würden dort verkauft. Die besseren Gasthöfe hätten einen kleinen
Laden mit meist minderwertigen Waren. Die meisten Kulis besäßen
außer ihrem schmutzigen Anzug keine sonstige Habe, nur einige hätten
noch ein Bündel weiterer Kleidungsstücke (nachts als Kopfkissen
benutzt) und eine dünne Bettdecke. Betten gäbe es nicht, man schlafe
auf dem Fußboden entweder auf Strohmatten oder Holzplanken, wobei
die Kleidung nie abgelegt werde. Weder am Morgen noch Abend würden
Gesicht, Hände und Füße gewaschen. Viele Herbergsväter seien auch
"Chef" ihrer Kulis und vermittelten ihnen aufgrund ihrer Beziehungen
Arbeitskontrakte.
Das Gesundheitswesen
Da im damaligen China Krankheiten wie Cholera, Pest, Typhus, Pocken
endemisch waren und moderne hygienische Erkenntnisse, wie sie die
Europäer selbst erst kurz zuvor gewonnen hatten, dort noch nicht
bekannt waren, mußte zunächst für die Soldaten und die europäische
Bevölkerung ein modernes Gesundheitswesen aufgebaut werden. In den
ersten 20 Monaten waren kaum Krankheiten aufgetreten, so daß man
sich schon beglückwünschte, was für einen "gesunden Ort" man sich
ausgesucht habe, als im Herbst 1899 Ruhr und Darmtyphus unter den
Zivilisten und Soldaten nicht nur zu zahlreichen Erkrankungen führten,
sondern auch zwei Dutzend Todesopfer forderten. Die Erreger sollen
durch die Kulis, die zum Bau der Kanalisation, Straßen und Häuser
herbeigeströmt waren, eingeschleppt worden sein. Da Chinesen damals
die Notdurft quasi überall - selbst auf der Straße - verrichteten,
führte man auf ihre Darmentleerungen die Bodenverunreinigung zurück,
durch die bei dem grobkörnigen, schlecht filtrierenden Granitgrus
Tsingtaus, besonders nach Regen, Typhuserreger in das Grundwasser
und die Brunnen gelangten. Man beschloß, sofort eine zentrale Wasserversorgung,
Regenkanalisation und Fäkalienabfuhr anzulegen, letztere zunächst
nach dem Tonnensystem, später für das Europäerviertel mit einer
Schmutzwasserkanalisation. Die Erfahrungen mit der ersten Epidemie
ließen den Bau eines Lazarettes dringlich erscheinen. Dies wurde
in ersten Teilen ab 1899 für die Militär- und Zivilbevölkerung nach
dem Pavillonsystem eingerichtet. 1904 wurde es durch eine Frauen-
und Kinderklinik erweitert. Angegliedert waren ein bakteriologisches
Labor und eine Apotheke. Außerdem wurden in Tsingtau eine Quarantänestation
(für Chinesen) und das Prostituiertenkrankenhaus (für Chinesinnen)
errichtet. Im Laoshan-Gebirge entstand am Tempelpaß, auf 500 m Höhe,
für die Truppen und Matrosen ein Genesungs- und ein Soldatenerholungsheim.
Im Schnitt waren bis 1914 am Lazarett 13 Marineärzte beschäftigt.
"Die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für die europäische
Bevölkerung des Pachtgebietes Kiautschou müssen in jeder Hinsicht
als mustergültig bezeichnet werden. Sie entsprachen durchweg den
personellen, technischen und medizinischen Anforderungen ihrer Zeit
und boten den nichtchinesischen Bewohnern Kiautschous - mittel-
oder unmittelbar - medizinische Versorgungsleistungen, wie sie nicht
einmal jede Kleinstadt des Reichsgebietes aufzuweisen hatte."5
Die ärztliche Versorgung Tsingtaus konzentrierte sich in der deutschen
Zeit auf die europäische Bevölkerung. Auf das damals übliche Verhalten
der Chinesen gegenüber Hygiene und Krankheit wurde zunächst wenig
Einfluß genommen, und bekanntlich kann man auch uraltes tradiertes
Verhalten nicht von heute auf morgen verändern. Der nordchinesische
Bauer und Kuli pflegte sich nur einmal im Jahr - und zwar zum Neujahrsfest
- richtig zu waschen. Das hatte auch mit den klimatischen Bedingungen
zu tun. In der nordchinesischen Ebene ist es nach der sommerlichen
Regenzeit acht bis neun Monate recht trocken. Wasser ist also eine
sehr knappe Ressource, mit der sparsam umgegangen werden mußte,
zumal das Herbeischaffen aus dem Brunnen Arbeit und Zeitaufwand
kostete. Das Nichtwaschen und der Knoblauchkonsum führten zu einem
spezifischen Körpergeruch, den die meisten Europäer nicht sonderlich
schätzten. Die Chinesen ihrerseits machten einen Ruhm daraus, "blumenartig"
zu duften, und konnten den Geruch der Europäer nicht leiden, sie
röchen wie "Raubtiere". Wahrscheinlich ist der größere Fleischgenuß
der Weißen dafür verantwortlich. Die Redensart: "Die können sich
gegenseitig nicht riechen" beschreibt den Sachverhalt zutreffend.6
Bei den Nordchinesen waren wegen mangelnder Hygiene Krätze,
Ekzeme, Abszesse und Augenkrankheiten (Trachome) weit verbreitet,
und Läuse, Flöhe, Wanzen, Moskitos und Fliegen förderten Übertragungen
von Krankheitserregern. Nur reichere Kaufleute in den Städten suchten
gelegentlich Badehäuser auf, wo man ein heißes Bad nehmen konnte.
In der Regel geschah dies zusammen mit Freunden nach einem tüchtigen
Zechgelage in einem Restaurant, und außerdem diente das "Badehaus"
mit seinen Sing-Song-Mädchen dem außerehelichen Verkehr der Männer.
Volltrunkene wurden ebenfalls ins Badehaus zwecks Ausnüchterung
geschleppt. In Dabaodao gab es 1912 vier Badehäuser. Ausländer pflegten
dort nicht zu verkehren, die chinesischen Männer hätten das auch
ungern gesehen.
Das Gouvernement überließ, wohl auch aus Kostengründen, die "moderne"
medizinische Betreuung der Chinesen in Tsingtau zunächst den Missionsgesellschaften.
Die katholische Mission unterhielt ein Krankenhaus, die Weimarer
Mission seit 1901 das Faberhospital. Erst später richtete auch die
Verwaltung poliklinische Untersuchungsstellen in Taidongzhen, Shazikou
und Licun ein. Wolfgang Uwe Eckart hat in seiner Darstellung des
Marinemedizinalwesens Tsingtaus moniert, daß die deutsche Regierung
viel zu wenig für die medizinische Versorgung der einheimischen
Bevölkerung getan habe.7 Dabei hatten
die Chinesen als altes Kulturvolk doch längst ihr eigenes Medizinalwesen
entwickelt, aber nirgendwo in seiner Studie beantwortet Eckart die
Frage, wie viele chinesische Ärzte in Dabaodao und den Arbeitervierteln
tätig waren.
Angesichts der Tatsache, daß 1913 im Stadtgebiet bereits über 53000
Chinesen wohnten, darf man davon ausgehen, daß für chinesische Ärzte
ein großes Kundenpotential vorhanden war. Chinesen werden sich wohl
lieber von eigenen Landsleuten untersuchen haben lassen als von
Ausländern. Eine Betriebserhebung vom August 1912 zählt allein in
Dabaodao 15 chinesische Apotheken. Wenigstens Dolmetscher Grosse,
der sich als Amtmann des Landbezirks eine gründliche Kenntnis der
Chinesen erwarb, bringt in seinen Erinnerungen einige seriöse Beobachtungen
zum damaligen chinesischen Medizinalwesen: "Die ›innere‹ Medizin
der Chinesen war keineswegs schlecht. Sie gründete sich auf lange,
lange, ununterbrochene Erfahrung. Zur ›allgemeinen Bildung‹ der
Literaten gehörte auch die Kenntnis der hauptsächlichen medizinischen
Werke. Die Chinesen des Landgebietes zogen bei sogenannten inneren
Erkrankungen jedenfalls ihre Heilkundigen vor. Und ich habe erlebt,
daß schwerer Typhus fast durchwegs mit Erfolg behandelt wurde. Man
wandte Schwitzkuren an, denen das starke gesunde Herz der Bauern
stand hielt. Die europäische ›Wechsel-Behandlung‹ wurde dagegen
nicht gut vertragen. Da gab es viele tödlich ausgehende Fälle. In
der ›äußeren‹ Medizin konnte der westländische Arzt in China Triumphe
feiern. Da versagte die chinesische ärztliche Kunst meist ganz.
Das hatte aber seine Gründe. Operationen waren im alten China eine
›kultisch‹ nicht vertretbare Sache. Jede Entfernung eines Gliedes
oder eines inneren Organes betrachtete man als schwere Einbuße des
Körpers, den möglichst unversehrt zu erhalten ›kultische‹ Pflicht
war. Damit betreten wir aber ein Gebiet des Toten- und Ahnen-Kultes,
in dem wir uns nur zurecht finden können, nachdem wir die ganze
kultische Weltanschauung des Ostens und wenn auch nur in ihren Grundzügen
kennen gelernt haben."8
Freizeit und Erholung
Die Chinesen kannten keinen Sonntag. Für die städtische Bevölkerung
war Chinesisch Neujahr, das ein bis zwei Wochen lang gefeiert wurde,
die einzige "Ferienzeit" des Jahres. Den Bauern bot der Besuch des
regelmäßig stattfindenden Marktes Abwechslung vom Arbeitsalltag.
Mit rund 2000 deutschen Zivilisten und ebenso vielen Soldaten im
Jahre 1913 entsprach das Europäerviertel Tsingtaus quasi einer deutschen
Kleinstadt. Von 1898 bis 1904 wurde dort die Wochenzeitung "Deutsch-Asiatische
Warte" publiziert, parallel dazu führte die Shanghaier Wochenzeitung
"Der Ostasiatische Lloyd" von 1898 bis 1902 eine Beilage "Nachrichten
aus Kiautschou". Ende 1904 wurde die Wochenzeitung abgelöst durch
die Tageszeitung "Tsingtauer Neueste Nachrichten", die bis in die
ersten Kriegsmonate von 1914 erschienen ist. Fünf Jahre lang (1908-1912)
gab es sogar gleichzeitig noch eine Wochenzeitung, die "Kiautschou-Post".
Da Exemplare dieser Periodika so gut wie komplett erhalten sind,
gibt es wahrscheinlich keine vergleichbare Kleinstadt im damaligen
Deutschen Reich, deren gesellschaftliche Aktivitäten zwischen 1898
und 1914 bis heute so detailliert dokumentiert sind wie die in Tsingtau.
Ob Vereinsversammlung, Festveranstaltung, Ausflug einer Gruppe,
hoher Besuch, Grundsteinlegung - alles und jedes wurde genauestens
festgehalten, häufig mit wörtlicher Wiedergabe der gehaltenen Ansprachen.
Täglich meldete die Zeitung die Gästeliste der Hotels und Pensionen
und wer mit welchem Schiff abreiste oder ankam. In der Freizeitgestaltung
der Deutschen nahmen sportliche Aktivitäten einen breiten Raum ein:
Tennis, Hockey, Polo, Turnen und andere. Im Sommer gab es an den
herrlichen Stränden genügend Möglichkeiten zum Schwimmen oder im
Laoshan-Gebirge zum Wandern und für Bergtouren. Der "Bergverein"
hatte dort ein umfangreiches und durch Ziffern genau markiertes
Wegesystem angelegt. Besonders beliebt und weitverbreitet war das
Ausreiten, auch für die Frauen. Die chinesischen Pferde waren klein,
und ihr Unterhalt kostete nicht viel. Beliebte Treffpunkte der Gesellschaft
waren im Frühjahr und Herbst die Pferderennen, zu denen die Frauen
in eleganter Toilette und den damals zeitgemäßen, fast wagenradgroßen
Hüten erschienen. Es gab keine Berufsjockeys, sondern jeder, der
Lust hatte, konnte sich für eine Rennbeteiligung anmelden, vor allem
waren es die Offiziere. Nach den verschiedenen Herrenreiten absolvierten
die Mafus, die chinesischen Reitknechte, mit größtem Schneid und
fliegenden Zöpfen noch ein letztes Rennen. Für die Soldaten brachte
der Dienst ausreichende körperliche Betätigung. Nach Dienstschluß
gab es für sie nur wenige Möglichkeiten der Zerstreuung, vor allem
vermißten sie die Gelegenheit zum Tanzen. Höhere geistige Ansprüche
konnten in Tsingtau durch die Kiautschou-Bibliothek (über 20000
Bände) und den "Verein für Kunst und Wissenschaft" befriedigt werden.
Letzterer veranstaltete pro Jahr eine Vortragsreihe und Kammermusikabende.
Die Kapelle des III. Seebataillons unter ihrem Dirigenten Wille
war de facto ein Orchester und gab sowohl Sinfonie- als auch Unterhaltungskonzerte.
Darüber hinaus gastierte sie auch in Tientsin, Peking und Shanghai.
Für Konzerte und Theateraufführungen standen die großen Säle im
Seemannshaus und im Prinz-Heinrich-Hotel sowie die Aula in der Gouvernementsschule
zur Verfügung. Der Vorsitzende des Kunstvereins, Oberrichter Crusen,
leitete auch den gemischten Chor, und zusammen mit der Militärkapelle
führte er Lortzings "Zar und Zimmermann" und Szenen aus Tschaikowskys
"Pique Dame" auf sowie Oratorien in der 1910 eingeweihten Christuskirche.
Es hat wohl symbolischen Charakter: Das letzte große Chorkonzert
vor Beginn des Weltkrieges war Cherubinis "Requiem" - ein vorweggenommener
Abgesang auf die deutsche Zeit.
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