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9. Das Ende des Pachtgebietes

Hatten die Alliierten bei der Niederschlagung des »Boxer«-Aufstandes noch ein gemeinsames Ziel, so wurden bald danach ihre rivalisierenden Interessen sichtbar und fanden Ausdruck in Bündnissen und im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, in dem erstmals eine asiatische Macht eine europäische besiegte. In China beförderte dies ein neues Selbstbewußtsein.
Konflikte der Großmächte untereinander führten auch das Ende des deutschen Pachtgebietes herbei. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa standen sich in Ostasien die einstigen Alliierten gegenüber. Das seit 1902 mit Großbritannien verbündete Japan forderte das Deutsche Reich bereits am 15. August 1914 auf, die Kiautschou-Bucht zu räumen. Als das in Berlin überreichte japanische Übergabeultimatum von der deutschen Seite schriftlich nicht beantwortet wurde, gingen ab dem 23. August 1914 japanische Landungstruppen - über 60000 Soldaten waren im Einsatz - an der Nordküste Schantungs und unter Verletzung der chinesischen Neutralität zum Kampf über, wobei sie von britischen Soldaten unterstützt wurden. China war bemüht, den Konflikt zwischen den Großmächten räumlich zu begrenzen, und richtete seinerseits vorübergehend eine Kriegszone in Schantung ein. Auf deutscher Seite war das im Pachtgebiet stationierte Militär im Einsatz, verstärkt um etwa 500 aus Peking und Tientsin herbeigerufene Soldaten. Zusätzlich beteiligten sich etwa 1500 deutsche Zivilisten aus Tsingtau und anderen chinesischen Städten an der Verteidigung der Stadt. Ein österreichisches Schiff unterstützte die belagerten deutschen Truppen. Der Beschuß Tsingtaus erfolgte in erster Linie von der Seeseite, aber auch aus der Luft. Als den deutschen Truppen Ende September 1914 die Munition ausging, kapitulierte die Garnison am 7. November 1914, nachdem sie zuvor die eigenen Schiffe in der Hafeneinfahrt versenkt und Teile der Werft zerstört hatte. Damit hatte sich erwiesen, daß die auf den Nordseeraum konzentrierte Flottenpolitik des Deutschen Reiches die Verteidigung von Marinestützpunkten in der Welt infolge zu schwacher Überseestationierungen nicht zuließ. Japanische Truppen besetzten die Stadt und schickten ab dem 9. November 1914 die deutschen Soldaten in die Kriegsgefangenschaft nach Japan. Japan hielt sich an der Kiautschou-Bucht mit Eroberungsgesten zurück und übernahm das deutsche Pachtgebiet offiziell am 14. November 1914, auf den Tag genau 17 Jahre nach der militärischen Besetzung durch die deutsche Marine. Im Deutschen Reich wurden Gedenkfeiern abgehalten.
Etwa 5000 Deutsche und Österreicher wurden in 15 Lagern, die sich zumeist in der Nähe japanischer Großstädte befanden, interniert (siehe Beitrag Gerhard Krebs, Der Chor der Gefangenen: Die Verteidiger von Tsingtau in japanischen Lagern). Das Lagerleben stellte schon wegen seiner Dauer von fünf Jahren eine erhebliche Belastung für die Soldaten dar, andererseits wurden ihnen Freiräume für kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeiten eingeräumt. Die Musik der Lagerkapellen fand lebhaftes Interesse in der japanischen Öffentlichkeit. Viele Programmplakate sind erhalten geblieben und vermitteln einen Eindruck über die Vielfältigkeit und den hohen kulturellen Anspruch der Soldaten.
Nach Abschluß des Versailler Vertrages 1919 entließen die Japaner zuerst die Soldaten, die aus Gebieten stammten, die nun nicht mehr zum Deutschen Reich zählten. Die übrigen folgten - sofern sie nicht in Ostasien blieben - im Jahre 1920.
Völkerrechtlich endete die deutsche Kolonialzeit in China mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Als erste Kolonialmacht trat Deutschland alle exterritorialen Sonderrechte, auch in den deutschen Konzessionsgebieten anderer chinesischer Städte ab, während die »ungleichen« Verträge anderer Staaten mit China vorerst in Kraft blieben. Die Weimarer Republik nahm 1921 diplomatische Beziehungen zu China auf und regelte in einem 1924 unterzeichneten Vertrag die Rückgabe früheren deutschen Eigentums. Außenminister Stresemann erklärte Deutschlands Verzicht auf jegliche Machtpolitik gegenüber China (1925).
Allerdings fielen Tsingtau und das Kiautschou-Gebiet mit dem Versailler Vertrag nicht an China zurück, weil es Japan gelungen war, sich als neue Kolonialmacht durchzusetzen: Schon während des Ersten Weltkrieges hatte Japan eine zivile Verwaltung im Kiautschou-Gebiet eingerichtet, und die Zahl der japanischen Einwohner stieg von etwa 1000 im Jahre 1914 auf 24000 im Jahre 1918.
Außenpolitisch führte Japan seit 1917 Geheimverhandlungen mit den Westmächten und erhielt deren Zustimmung, die ehemaligen pazifischen deutschen Kolonien nördlich des Äquators und damit auch alle Rechte aus dem deutsch-chinesischen Pachtvertrag vom 6. März 1898 nach Ende des Krieges zu übernehmen. Darüber hinaus sicherte sich Japan im Versailler Vertrag das Eigentum an den ehemaligen deutschen Eisenbahnen und den Bergbauanlagen in Schantung (Versailler Vertrag, Teil IV, Sektion 8, Artikel 156 bis 158).
China stand seinerseits während des Ersten Weltkrieges unter japanischem Druck, mußte Handelserleichterungen gestatten und japanische Interessenzonen in China akzeptieren. Infolge dieses Zwanges gelang es China erst im Jahre 1917, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten, ohne jedoch bei Kriegsende sein Interesse an der Rückgabe des Territoriums durchsetzen zu können. Daher verweigerte die chinesische Regierung die Unterschrift unter das Versailler Vertragswerk. Am 4. Mai 1919 kam es wegen der ungeklärten Schantung-Frage auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zu einer historisch bedeutsamen Demonstration, welche eine Bewegung auslöste, die zur Bildung von Reformgruppen und Parteien führte, die die künftige Entwicklung Chinas maßgeblich mitgestalteten.
Tsingtau blieb bis 1922 japanisch. Nachdem auch der amerikanische Kongreß das Versailler Ergebnis hinsichtlich der Schantung-Frage als ungerecht bezeichnet hatte, gelang es China, sein Anliegen auf die Tagesordnung einer internationalen Konferenz in Washington über Waffenbegrenzungen im Pazifik zu setzen. Dies führte zum chinesisch-japanischen Schantung-Vertrag vom 4. Februar 1922, der unter der Schirmherrschaft der USA und Großbritanniens zustande kam. China erhielt das ehemalige deutsche Schutzgebiet zurück, Japan behielt die Kontrollen über die Bahn und den Bergbau und sicherte sich weitere Handelsrechte in China. Während des Zweiten Weltkrieges in Ostasien stand die Stadt erneut unter japanischer Besatzung.
Tsingtau ist eine Episode in der chinesischen und in der deutschen Geschichte geblieben. Die asiatische Kolonie war Mosaikstein einer neuen deutschen Weltpolitik, die im Ersten Weltkrieg scheiterte (siehe Beitrag Jing Dexiang, Ein kurzes Gastspiel in China: Zur Ambivalenz der deutschen Kolonialgeschichte in der Provinz Schantung). Sicherlich ist dieses Scheitern nicht in der in den 1890er Jahren groß angekündigten, aber im internationalen Vergleich eher bescheiden umgesetzten deutschen Kolonialpolitik zu suchen, sondern mehr in den sich verstärkenden Gegensätzen der europäischen Staaten. In diesem Zusammenhang ist das durch die deutsche Flottenpolitik ausgelöste britische Mißtrauen gewiß gewichtiger als der imperialistische Verteilungskampf um Gebiete auf anderen Kontinenten. Dennoch bleibt Tsingtau Ausdruck des gewalttätigen Verhaltens der Industriestaaten in einer Phase der Globalisierung des europäischen Systems (siehe Beitrag Wolfgang Mommsen, Kolonialgeschichte und Imperialismus: Ein Blick zurück). Für China bedeutete diese Epoche die weitgehend unbekannte Erfahrung, fremdbestimmt gewesen zu sein.
Einhundert Jahre danach kann die Beschäftigung mit dieser ungleichen Epoche dazu beitragen, daß sich Deutsche und Chinesen in der heutigen Zeit der Internationalisierung und Globalisierung, in der beide Länder nur wenige Flugstunden von einander entfernt liegen, besser verstehen und einschätzen lernen (siehe Beitrag Herbert Franke, Die Beschäftigung mit der chinesisch-deutschen Geschichte).


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Anschlagbrett in Tsingtau




















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