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Vorwort
Stefan Reinecke
Die Geschichte eines Lächelns. Die Wittstock-Filme von Volker Koepp
Margit Voss
Drehort Golzow. Auf den Spuren einer Chronik
Heinz Klunker
Ein Jegliches hat seine Zeit. Die Chronik der »Kinder von Golzow«
Impressum
 

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Drehort Golzow. Auf den Spuren einer Chronik

Der Zufall wollte es, daß ich die Golzow-Serie Winfried Junges von Beginn an verfolgen konnte. Der Regisseur und sein Kameramann stellten ihre Studie Wenn ich erst zur Schule geh 1961 auf der Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche in Leipzig vor, ernteten Applaus und erschienen zum Interview wie Studenten, die eine Prüfung mit Erfolg absolviert hatten, verlegen und aufgeregt.

Ich erinnere mich der eigenen Neugier ein Jahr später. Der zweite Film war angekündigt. Wie würden sich die Golzower Kinder verändert haben? Dann hieß es Elf Jahre alt und Wenn man vierzehn ist. Ich erlebte die Lust des Zuschauens und der Entdeckung: Wen erkannte man wieder? Welches Antlitz hatte sich eingeprägt? Natürlich war auch ich der Fortschrittsgläubigkeit erlegen. Was könnte alles aus diesen Kindern werden, dieser ersten Generation auf dem Lande, die in keine Einklassenschule ging, sondern zehn Jahre lernen konnte. Welchen Neigungen würden sie sich hingeben, wenn keine elterliche Not sie zwänge, vorzeitig einem Broterwerb nachzugehen, welchen Beruf würden sie ergreifen? Und doch schien sich alles so zu fügen wie in früheren Jahren. Dieter ging nach der achten Klasse ab und wurde Zimmermann, Brigitte, das freundliche blondhaarige Mädchen verließ ebenfalls die achte Klasse und lernte Geflügelzucht. Jürgen, im Mittelpunkt der ersten beiden Filme, nahm eine Maler- und Tapeziererlehre an. Und es gab ein erstes Erschrecken, als ein Schicksal ganz und gar aus den Gleisen lief. Ausgerechnet Brigitte war so wehrlos. Ihr plötzlicher Tod erschütterte den Betrachter, als sei er ihr persönlich nahe gewesen. Winfried Junges Golzower Kinder hatten für den Zuschauer eine Popularität heutiger Fernsehstars.

Plötzlich, der Regisseur hatte seinen sechsten Film vorgestellt, schien der Zauber verflogen. Unversehens waren aus den Kindern Jugendliche geworden. Der Ton hatte sich verändert. Agitatorische Elemente hatten sich in die Filme und also auch in das Leben eingeschlichen, so wie die Phraseologie einiger Lehrer die Redeweise bestimmte. Die merkwürdige Sprachlosigkeit, wie sie bei ehemaligen DDR-Bürgern noch heute spürbar ist, hat hier ihre Wurzeln. Der Regisseur war an die Grenzen der Beobachtung gestoßen. Wie also weiter? Wie ein Rettungsanker erschien Winfried Junge der Gedanke, einen Autor hinzuzuziehen, einen Schriftsteller mit neuem Blick und frecher Feder. So kam 1979 Anmut sparet nicht noch Mühe mit Uwe Kant zustande, Die Geschichte der Kinder von Golzow. Die Portätierten waren achtzehn geworden. Die Klasse hatte sich zerstreut. Eine Bilanz schien angebracht. Im Mittelpunkt dieses Films stand die Einstudierung des Liedes, das dem Film den Titel gab. Ein anspruchsvoller Text, eine anspruchsvolle Melodie, ein sehr guter Pädagoge, ein außerordentliches Ergebnis vor der Kamera. Da schien sie doch noch bestätigt, die Fortschrittsgläubigkeit. Erst zehn Jahre später hörte ich genauer auf den Kommentar, zuckte zusammen und verstand die frühere euphorische Reaktion nicht mehr. Erst zehn Jahre danach erkannte ich die Demagogie. Niemand war gefeit vor dem Irrtum. Das betraf sowohl die Bewohner von Golzow, als auch die Filmemacher, die Zuschauer und die Kritiker. Heute wissen wir, daß das Verdienst Winfried Junges vor allem darin bestand, nicht aufzugeben.Der Kreis der Gefilmten wurde enger, blieb aber stabil. Mancher Lebenslauf schien, einmal eingefahren, auf der Stelle zu verharren. Aus den Mädchen wurden Mütter. Partnerschaften, vielleicht zu schnell geschlossen, zerbrachen. Sie waren so ziemlich das einzige in der DDR, was frei gewählt werden konnte. Und mußten alles aushalten: Den Frust, nicht reisen zu können, irgendwie benachteiligt zu sein, immer wieder an Grenzen zu stoßen.

Die politische Wende in der DDR traf alle unvorbereitet: Die Golzower, den Regisseur und die Zuschauer seiner Filme. Doch nun schien sein Projekt einen neuen Sinn zu bekommen, als Dokumentation einer Veränderung. An einem Tag im April 1992 fahre ich zum erstenmal mit Winfried Junge an jenen Ort, wo er dreißig Jahre lang gefilmt hat. Es ist ein regnerischer Tag. Wir wählen die alte Reichsstraße Nummer 1 nach Osten, biegen kurz vor der polnischen Grenze nach links ab. Der Regisseur möchte jenen Weg nehmen, den er als junger Mann, damals zu Fuß vom Bahnhof, gegangen ist. Als wir an der Bahnschranke halten müssen, ist er nicht ohne Bewegung. Er erinnert jede Einzelheit seiner ersten Bewährungsprobe. Golzow kenne ich aus unzähligen Filmbildern, sogar aus eindrucksvollen Luftaufnahmen, die die Lage des Ortes, seine Struktur deutlich machten. Und dennoch ist der Blick durch das Objektiv anders als die unmittelbare Wahrnehmung. Als erstes fällt mir jenes funktionslose Rondell auf, das wir umfahren müssen, um zur neuen Schule zu kommen. Als die deutsche Wehrmacht im Frühjahr 1945 die Kirche sprengte, die einst auf diesem Platz stand, damit die sowjetische Armee auf dem rechten Oderufer die Spitze des Turms nicht als Zielscheibe nutzen konnte, zerstörte sie mehr als ein Gebäude. Sie nahm dem Ort die Mitte. Und dieser barbarische Akt hat ihm bis heute geschadet. Es ist viel gebaut worden in Golzow. Doch das Dorf ist um sein Gleichgewicht gebracht. Alle Häuser, die später entstanden – und das waren nicht nur Schule und Kindergarten, sondern auch das neue Kulturhaus, Wohnhäuser und Eigenheime – wirken wie Inseln, Zeichen ständigen Materialmangels und des Mangels an Geld. Das architektonische Gesicht Golzows sieht pockennarbig aus. Doch für die Golzower selbst bedeutet jedes neue Gebäude Verbesserung. Und der Fremde sollte sich hüten, vorschnell zu urteilen.

Unser erstes Ziel ist der Kindergarten, jener Kindergarten, an dem man noch nach dreißig Jahren den Buddelkasten findet, Drehort der ersten Aufnahmen. Der strömende Regen kann Winfried Junge nicht davon abhalten, sich an den Rand zu stellen: »Hier hat einmal alles angefangen.« Er erinnert sich der eigenen Unsicherheit, was denn zu tun sei als Regisseur. Und er erinnert, daß es der Kameramann war, der schon einmal genauer die Kindergesichter angesehen, sich auf den zarten blonden Jürgen konzentriert und vorab schon mal einige Probeaufnahmen gemacht hatte. Dann gehen wir hinüber zur Schule. An der Rückseite sehe ich die Fenster jenes Klassenzimmers, das die Filmleute sich ausbedungen hatten, um von außen in das Gebäude schauen und die Kamera beobachten lassen zu können.

Winfried Junge ist ein Begleiter, wie man ihn sich unterhaltsamer, exakter und wahrheitsliebender nicht wünschen kann. Außer einigen Verabredungen für neue Drehs kann er an diesem Tag nichts ausrichten. Dafür besteht er darauf, alles, aber auch alles genau zu zeigen, zu reflektieren, zu erinnern. Beispielsweise zuzugeben, daß die Katze, die Jürgen am Fenster des Klassenzimmers erblickt, die Katze des Hausmeisters war, die sonst keine Anstalten machte, auf Fensterbrettern spazieren zu gehen. Die Filmemacher hatten sie hingesetzt, weil sie eine Reaktion brauchten, dieses fröhliche Aufblitzen in den Augen eines Jungen. Sie bekamen es und der Zuschauer hat auch heute noch seinen Spaß daran, auch in dem zehnten Film der Golzow-Serie, Drehbuch: Die Zeiten. Der Hausmeister selbst erinnert sich weniger an die Katze als an die Stromausfälle, die durch die gewaltigen Scheinwerfer mehr als einmal verursacht wurden. Was man schnell vergißt: Die Technik war schwer zu jener Zeit, unhandlich, unempfindlich, auf zusätzliches Licht angewiesen. Nein, von unbemerkter Beobachtung konnte wohl keine Rede sein.

Kindergarten und Schule – eine Errungenschaft der sechziger Jahre, machen auch heute noch einen soliden Eindruck. Aber da gab es doch noch das Schwimmbecken, eine Sensation für ein Dorf. Dieser Bau ist nicht mehr vorzeigbar. Fehlte es an den nötigen Pumpen, dem festen Zement? Das Schwimmbecken ist so schnell zerfallen wie es gebaut wurde. Ich bekomme es nicht zu Gesicht. Dafür aber den Verwaltungsbau der früheren LPG, das neue Kulturhaus, an dessen Rückseite auch die Bärenschenke liegt. Ich sehe die ersten Wohnblocks, die man früher nur Golzow-Neubau nannte, zweistöckige Gebäude mit winzigen Balkons, Fremdkörper in einem bäuerlichen Ort und doch wichtiges Zuhause für viele der Kinder. Der Regisseur kann mir jede Wohnung von außen beschreiben und sagen, wer hier gewohnt hat. Dann fahren wir eine andere Straße herunter und sehen die Häuser aus den siebziger Jahren an, wir betrachten die Reihe der Eigenheime und die wenigen Gehöfte der Alteingesessenen. Golzow ist kein schönes Dorf im landläufigen Sinne. Und doch verkörpert es für die Kinder, die hier aufgewachsen sind, jenes Stück Heimat, an das man sich mit Wärme erinnert. Wenn man in Berlin oder Frankfurt Oder mit Marie-Luise oder Elke spricht, haben ihre Stimmen einen anderen Klang. Noch immer ist für die jungen Frauen der Ort der Kindheit das eigentliche Zuhause.

In jenen Häusern, die aus den siebziger Jahren stammen, wohnt Dieters Mutter, eine Frau Ende Fünfzig. Sie hat sechs Kinder großgezogen und jetzt einen der Enkel an der Hand. Für Frau Finger, die jahrelang im Stall gearbeitet hat, ist der Vorruhestand weniger schrecklich. Sie hat ohnehin genug zu tun. Froh, daß alle ihre Kinder am Leben sind, ist sie fest davon überzeugt, daß sie es auch weiterhin schaffen werden. Dieter, ja, ihr Dieter hatte schon immer den Sinn für etwas besonderes. Daß er in Libyen gebaut hat, macht sie stolz. Daß er bis heute in den Filmen Winfried Junges zu sehen ist, versteht sie als persönliche Bereicherung. »So kann man doch sehen, wie die Kinder groß geworden sind. Die Enkel können sich an ihrem Papa freuen.« Für den Regisseur wird in ihrer Wohnung immer die Tür offenstehen.

Für die meisten Eltern ist das filmische Langzeitprojekt keine Sensation. Sie haben ihr Leben gelebt, ob eine Kamera aufgebaut war oder nicht. Der Vater von Gudrun, Arthur Klitzke, ein Mann, der von 1958 bis 1990 die LPG geleitet und das Antlitz des Dorfes so maßgeblich geprägt hat, wohnt bis heute auf dem Hof seiner Eltern. Was in Golzow auf den Feldern geschah, was gebaut wurde – oft ungenehmigt und mit Zivilcourage – ist ihm zu danken. Trotz der politischen Wende, trotz der Tatsache, daß er nun im Dorf nichts mehr zu sagen hat, sein Lebenswerk zu großen Teilen in Frage gestellt wird, erleben wir ihn beim Besuch nicht als gebrochenen Mann. Er ruht in sich selbst. Er steht für das, was er verantwortet hat. Nur einmal höre ich einen Unterton von Bitterkeit, als von einer besonders guten Ernte die Rede ist, nach der die Golzower LPG 17 Millionen Mark an den Staat abführen mußte. Wenn man ihm nicht die Hände gebunden, ihm nicht reingeredet hätte, dann – ja dann wäre Golzow vielleicht wirklich ein Vorzeigedorf geworden, als das man es fälschlicherweise so oft bezeichnet hat, wenn Regierungsdelegationen aus aller Herren Länder und Diplomaten in diesem Landstrich zu Gast waren. Gudrun, seine Tochter, war wegen der Filmleute für kurze Zeit in den Kindergarten geschickt worden. Gudrun, die gute Schülerin, sah man an der Seite ihres Vaters auf der Leinwand. Gudrun war von der zehnten Klasse abgegangen, hatte Köchin gelernt, später ein Studium der Staatswissenschaften absolviert. In einem der Nachbardörfer war sie Bürgermeisterin geworden. Arthur Klitzke ist sich sehr wohl der Wichtigkeit des Jungeschen Filmprojekts bewußt, heute mehr denn früher. Vielleicht sagt er sich, wird durch diese Filme auch dokumentiert, daß wir uns nicht geschont, sondern den Oderbruch nach dem Krieg zu dem gemacht haben, was er heute ist.

Die Eltern der Golzower Kinder gehören zur Aufbaugeneration. Viele kamen aus dem Osten, die Väter aus dem Krieg. Die Oderregion gehörte zu den zerstörtesten Gebieten in Deutschland. Hier war erbittert gekämpft worden. Der Landschaft sieht man die Narben nicht mehr an. Aber die Menschen können sich noch gut an alles erinnern. Fast alle sind heute Rentner oder im Vorruhestand. Auch der Vater von Marie Luise, Herr Hübner, der zuerst in Golzow nach dem Krieg eine Neubauernstelle bekam, dann genötigt wurde, der LPG beizutreten und im Stall als Melker gearbeitet hat, ist nun zu Hause. Vater Hübner prägte sich zu DDR-Zeiten in den Filmen als eine besondere Persönlichkeit ein. Als bekennender Christ war er mit seiner Tochter beim Kirchgang gezeigt worden, ein kleiner, gedrungener Mann mit dem harten Akzent seiner östlichen Heimat, dessen Tochter nicht in die Pionierorganisation eintrat und sich später kirchlich trauen ließ. Ein Anlaß für den Vater, in seiner Tischrede an die Bergpredigt zu erinnern. Eine besondere Situation: saß doch als Bräutigam ein Fliegeroffizier der Regierungsstaffel am Tisch, dem später sogar offiziell der Umgang mit den Schwiegereltern verwehrt wurde. Daß das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern dennoch herzlich blieb, ist ein Wunder, das sich nur aus einem reinen Christentum erklären läßt. Hübners haben nach dem Krieg fünf Kinder großgezogen. In der Wohnstube gibt es viele Sitzgelegenheiten. Ich stelle mir vor, daß sie noch heute der ganzen Familie Platz bieten. Die Mutter ist gewohnt, viele Menschen zu bewirten. Sie stellt Osterkuchen auf den Tisch und Brote mit selbstgemachter Leberwurst. Der Vater führt in dieser Familie das Wort. Er kann schon schlecht sehen, aber es gibt kein Gespräch, ohne den einen oder anderen Zeitungsausschnitt zum Beweis zur Hand zu nehmen, und es gibt auch keine Unterhaltung, ohne auf Grundsätzlicheres zu verweisen. Die Rolle der Kirche heute liegt ihm am Herzen. Sie sollte sich einmischen in die Dinge des täglichen Lebens und nicht auf sich selbst zurückziehen. Als die Früchte des Feldes nicht mehr geerntet, sondern im Herbst 1990 untergepflügt wurden, packte Vater Hübner der Zorn: »Das ist eine unverzeihliche Sünde.« Die Frage, wie er denn den Beginn der Filmarbeiten in Golzow erinnert, beantwortet er mit einem nachsichtigen Lächeln: »Na, ja, das war für die Kinder interessant, sie wurden gefilmt. Aber ich kann nicht sagen, daß ich besonders stolz war. Marie-Luise spielte ja keine Rolle wie etwa Romy Schneider. Sie wurden mit den Eltern gefilmt.« Frage: »Hat die Kamera nicht gestört, beispielsweise bei der Hochzeit?« »Nein, insofern nicht, als ein Christ alles was er tut, auch verantworten muß. Ob eine Kamera dabei ist oder nicht.«

»Was denken Sie über die Golzow-Serie?« »Vielleicht geht der Film in die einhundertjährige Filmgeschichte ein? Ich weiß es nicht.«

Wenn ich mit den Golzowern spreche, zieht sich der Regisseur diskret zurück. Er will nicht stören, nicht die Aussagen beeinflussen. Aber er weiß natürlich, daß hier niemand hinter seinem Rücken klatschen wird, das ist nicht die Art der Golzower.

Sie haben Winfried Junge als jungen, ehrgeizigen Mann kennengelernt, seine Treue erfahren, ein Maß an Öffentlichkeit, das ihnen vielleicht auch geschmeichelt hat. Vor allem aber wissen sie, daß die Kinder durch sein Projekt auch bereichert wurden. Oft hatte er Ausflüge organisiert. Später trugen die Verabredungen dazu bei, daß sich die ehemaligen Klassenkameraden nicht aus den Augen verloren. Nun werden wir die »Kinder« besuchen, jetzt Frauen und Männer von etwa 38 Jahren. Nur einen von ihnen werden wir an diesem Tag direkt in Golzow finden, in der Werkstatt der heutigen Landwirtschaftlichen GmbH. Bernhard ist Landmaschinenschlosser. Er repariert einen Traktor an seinem alten Arbeitsplatz. Groß, kräftig, massig und wortkarg wie immer fällt es ihm schwer, sich zu artikulieren. Wenn Bernhard seine Gefühle nicht verstecken würde, könnte man vom ihm die innigste Liebeserklärung an sein Heimatdorf hören. So sagt er nur lakonisch: warum soll ich von hier weg? Er hat die Veränderung auf dem Lande im Umgang mit der Technik hautnah fühlen können. Es gab Traktoren aus der Sowjetunion, aus der DDR, nun erstmals aus den USA. Die GmbH in Gründung, mit Dr. Großkopf – auch einem Golzower – an der Spitze, will sich nicht nachsagen lassen, daß der Fortschritt früher in Golzow schneller einzog. Die Bezeichnungen haben sich geändert, die Praxis der Wirtschaftsführung – das Management – auch. Aber immer noch geht es um Kohl, Mohrrüben, Salat, Spinat, um Gemüse für Berlin.

Bernhard sorgt dafür, daß die Maschinen über die Felder rollen, Pflüge, Eggen und anderes Gerät den Boden beackern. Er hofft, bleiben zu können und lacht: »Abwarten und Tee trinken, was soll ihm schon passieren.«

Jürgen müssen wir länger suchen. Wir fahren an seinem Haus vorbei, einem der letzten Eigenheime von 125, die die alte LPG ihren Mitgliedern zu einem Preis von 50 000 DDR-Mark gebaut hat. Es ist niemand zu Hause, aber man kann den Garten dahinter sehen, jenes Stück Land, auf dem Jürgen vor und noch nach der Wende Gurken und Tomaten angepflanzt und seine Enttäuschung über eine Ernte, die keiner mehr wollte, in die Kamera hineingeschrien hat. Eine der dramatischsten Szenen in Winfried Junges Film. Jürgen, der den krisensicheren Beruf eines Malers und Tapezierers gelernt hat, ist zwar weiter Maler und Tapezierer, aber auf einer ABM-Stelle. Im Nachbardorf renoviert er den Kindergarten. Er ist überrascht als wir kommen, verbirgt schamhaft eine Zahnlücke, als ich in seinem voller gewordenen Gesicht die Züge des kleinen Jürgen aus dem Sandkasten suche und den pfiffigen Blick, mit dem er einst in der ersten Klasse die Katze auf dem Fensterbrett verfolgte. Für Jürgen ist die Welt nicht mehr so heil. Er, Vater zweier Kinder, hat die ersten Enttäuschungen nur schwer verkraftet. Doch da ist das Filmprojekt. Er war bei dem Ausflug nach Hamburg dabei und bei den Unabhängigen Filmtagen in Augsburg. »Ich hätte nicht gedacht, daß fremde Leute sich so für unser Leben interessieren. Sie wollten einfach alles wissen, und ich war enttäuscht, wie wenig sie von uns wußten.« Diese mühsame Annäherung der Ost- und Westdeutschen will ihm nicht in den Kopf. Wir sitzen auf den winzigen Kindergartenstühlen auf dem Flur', hören auf die Rock-Musik aus dem Radiorecorder, erinnern uns, nehmen Abschied.

Das nächste Ziel ist Genschow, wenige Kilometer von Golzow entfernt. Hier lebt Gudrun, die Tochter Arthur Klitzkes. Hier war sie Bürgermeisterin, wurde nach der Wende ihres Postens enthoben, erlitt einen Unfall, ist noch krankgeschrieben und arbeitslos. Gudrun bittet uns sehr zögerlich ins Haus, einen Neubau, wo sie im ersten Stock eine kleine Wohnung hat. Sie will sich nicht anmerken lassen, daß wir sie an einem Tiefpunkt ihres Lebens antreffen. Ihre Antworten kommen eine Spur zu beherrscht. Man spürt, daß sie darum kämpft, sich nicht gehen zu lassen. Für sie ist zu viel zusammengebrochen. Sie spricht von ihrer Arbeit, von der Mühe, die es gekostet hat, das Dorf zu verschönern – es wurden noch in den letzten Monaten Gehwegplatten gelegt. Sie betont auch, daß sie nach wie vor im Dorf geachtet sei. Doch das kennt man ja: Die Situation eines Menschen, der tagtäglich den Blicken seiner Nachbarn ausgesetzt ist, vielleicht auch hämischer Nachrede, Schadenfreude. An diesem Tag im April ist noch unklar, was aus Gudrun werden wird. Später wird man es aus dem Film erfahren: In der DDR wurde aus der Köchin die Bürgermeisterin. Heute ist die ehemalige Bürgermeisterin in Süddeutschland Köchin.

Um die anderen zu treffen müssen wir nordwärts. In Frankfurt an der Oder kommen wir erst am späten Nachmittag an und klingeln unangemeldet an einem Neubaublock bei Elke. Elke, von Beruf Bauzeichnerin, ist der plötzliche Besuch ein bißchen peinlich. Sie hat Wäsche eingeweicht und die kleine Tochter muß eigentlich ins Bett. Aber natürlich freut sie sich, Winfried Junge wiederzusehen, wehrt ab, als er den nächsten Treff mit der Kamera ankündigt und weiß doch, daß sie dies nicht so ernst meint. Elke schult um. Sie nimmt an einem Computerkurs teil, schämt sich schon bei dem Gedanken, bei den anderen Kollegen als etwas Besonderes zu gelten, wenn sie gefilmt wird. Gerade Elke hat dieses stete Dokumentieren ihres Lebens oft als störend empfunden. Sie ist geschieden, hat zwei Kinder – ob Mann ob Freund, jeder wurde abgelichtet, ob bei der Arbeit, während der Kur, das Filmteam war ihr auf den Fersen. In aller Freundschaft zwar, immer angemeldet, doch hartnäckig und unnachgiebig. Es war für die junge Frau nicht immer angenehm, ihr Leben so offen auszubreiten. Zwar hat man nichts zu verbergen – so die Meinung auch der anderen Gefilmten – aber wer möchte schon alle kleinen Brüche, Geheimnisse, Enttäuschungen so offengelegt haben. Als sie Kinder waren, ja, da war es ein Spaß, ein abwechslungsreiches Vergnügen, doch später... später war das oft lästig. Elke lacht dabei, sie meint es nicht so ernst und weiß inzwischen, daß man sie auf der Straße nicht erkennt. Man verabredet an diesem Tag den neuen Dreh und verabschiedet sich auch hier mit dem Versprechen auf ein Wiedersehen. Da ist etwas zwischen Filmemachern und Porträtierten entstanden, was nicht so leicht zu definieren ist: Eine verschworene Gemeinschaft vielleicht.

Dieter Finger, den weitgereisten Zimmermann, sehe ich nur auf der Straße. Auch er schult um. Im Film wird man ihm in den österreichischen Bergen begegnen, bei einem Training für Manager, die gerade rhythmisches Klatschen üben. Manches muß in Deutschland nicht mehr geübt werden. Ich denke, daß dieser junge kräftige Mann mit dem offenen Gesicht es schaffen wird. Warum soll man nicht hoffen wie seine Mutter.

Tage später gibt es eine Begegnung mit Marie-Luise in Berlin-Schönefeld. Marie-Luise, die ehemalige Chemielaborantin hat in ihrer unmittelbaren Umgebung eine Stelle als Arzthelferin gefunden und die Arztpraxis – neu und adrett – ist auch unser Treffpunkt. Marie-Luise, Hübners Tochter, hat ihren Liebreiz noch ganz bewahrt. Sie ist immer noch mit jenem Mann verheiratet, für den der Vater in seiner Hochzeitsrede Worte aus der Bergpredigt wählte. Sie spricht mit einer Liebe von ihrem Elternhaus, die aus inniger Bindung erwächst. »Den Honig«, sagt sie, »den Honig hole ich immer noch aus Golzow. Der schmeckt uns am besten.« Vielleicht hat ihr Vater dafür gesorgt, daß Marie-Luise Erlebtes gründlicher reflektiert. »Es war«, sagt sie, »nicht richtig, wenn die Leute auf dem Dorf ihre Kraft darauf konzentrierten, in ihrer Freizeit doppelt soviel Geld zu verdienen, wie sie für ihre reguläre Arbeit bekamen. Es war ein offenes Geheimnis, daß privat verkauftes Vieh und Gemüse, durch Subventionen gestützt, viel Geld einbrachten.« Dies allen ins Stammbuch, die dazu neigen, sich selbst und die Vergangenheit zu verklären. Vielleicht hat Marie-Luise mit allem Glück gehabt: Mit ihrem Elternhaus, dem Mann, dem sie treu bleiben konnte, zwei Kindern, einem Heim, einer sie ausfüllenden Arbeit.

Eigentlich hätte man allen Golzower Kindern eine solche Zukunft gewünscht. Sie waren wenig vorbereitet auf Brüche in ihrem Leben, auf die Notwendigkeit, einmal neu anzufangen. Der vorläufig letzte Film Winfried Junges Drehbuch: Die Zeiten – drei Jahre mit den Kindern von Golzow und der DEFA – ein Film über einen Film – macht dies noch einmal bewußt. Und wer – wann auch immer – auf der Reichsstraße Nr. 1 nach Osten fährt, kann, gestützt auf die Eindrücke, die er im Kino gewann, nun selbst auf Spurensuche gehen.

Margit Voss