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Vorwort
Stefan Reinecke
Die Geschichte eines Lächelns. Die Wittstock-Filme von Volker Koepp
Margit Voss
Drehort Golzow. Auf den Spuren einer Chronik
Heinz Klunker
Ein Jegliches hat seine Zeit. Die Chronik der »Kinder von Golzow«
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Die Geschichte eines Lächelns. Die Wittstock-Filme von Volker Koepp

Das Synthetische und das Authentische sind in unserer Kultur kaum noch zu unterscheiden. Das reicht von den TV-Shows, die von echten Menschen bevölkert werden, die sich doch verhalten als wären sie aus der Retorte, bis zu den Reality-TV-Serien, die ihren Thrill daraus beziehen, daß echt sein soll, was in ihnen nachinszeniert ist. Daß digitale Fotoapparate das chemische Verfahren ablösen und ungeahnte Manipulationsmöglichkeiten eröffnen, ist so gesehen die Materialisierung einer Krise.

Mit der Inflation der Bilder, die die audiovisuellen Medien hervorgebracht haben, ist auch ein gesichertes Bewußtsein darüber zerbrochen, welche Gültigkeit, welchen Wert, welche Verbindlichkeit Bilder haben. Die Fülle scheint auch Entwertung und Beliebigkeit hervorgebracht zu haben. Was kann das sein, ein wahrhaftiges Bild?

Volker Koepp hat über achtzehn Jahre lang in Wittstock an der Dosse, einer Kleinstadt im Märkischen, gedreht. Erstmals 1974 einen Kurzfilm, dann regelmäßig alle zwei, drei Jahre weitere Kurzdokumentarfilme. 1984 entstand Leben in Wittstock, ein langer Dokumentarfilm, der die zuvor entstandenen Filme mit neuem Material verband. Eigentlich sollte die Wittstock-Reihe damals beendet sein: Alles ging seinen Gang und Aufregendes schien nicht in Sicht. Dann fiel die Mauer. Volker Koepp nannte seinen, vielleicht nun letzten Beitrag mit viel Understatement Neues in Wittstock (1991). Die Wittstock-Filme entsprachen, ähnlich wie Jürgen Böttchers Stars oder Wäscherinnen der offiziellen kulturpolitischen Linie, insofern sie Arbeitsalltag zeigten. Gleichzeitig aber unterliefen und dementierten sie das gewünschte Bild vom heilen proletarischen Arbeitsleben, indem sie zeigten und nicht schönten. Im DDR-Fernsehen waren Volker Koepps Arbeiten nicht zu sehen.

Mädchen in Wittstock (1974) war die erste Begegnung mit der Stadt. Neben dem Ort entsteht in ländlichem Raum ein ehrgeiziges Großprojekt auf grüner Wiese: das Textilkombinat »Ernst Lück«. Zehn Jahre später sollten hier knapp dreitausend Arbeiterinnen beschäftigt sein. Der suchende Blick des Regisseurs traf damals auf eine Aufbruchssituation. Ein immer wiederkehrendes Bild ist in dem Film die Seitwärtsfahrt durch die noch leeren Hallen. Volker Koepp zeigt interne Konflikte zwischen Arbeiterinnen und Leitung, die nur auf den allerersten Blick noch in einer Dialektik von Plan, Widerstand und Verbesserung aufgehen. Die optische Argumentation scheint dies schon von Beginn an zu unterlaufen: in der sympathisierenden Sorgfalt mit der die Kamera die Mädchen bei der Arbeit beobachtet; andererseits in dem Bild, in dem der Direktor im Vordergrund redet und die Mädchen im Hintergrund arbeiten.

Im Betrieb gibt es Anlaufschwierigkeiten, die nicht weichen. Die Produktivität ist niedrig, die Fluktuation in der Belegschaft hoch. Eine Betriebsversammlung soll helfen. Schon hier gibt es bei den jungen Arbeiterinnen Anklänge von Resignation: daß es ja doch nichts hilft, weil es so bleibt wie es ist, auch wenn man sich müht. »Et jeet eben nich« wird Edith, die Engagierte, zwei Jahre später in Wieder in Wittstock sagen. Das wird sie später immer und immer erneut wiederholen, manchmal selbstironisch, meist verbunden mit der trotzigen, nie eingehaltenen Drohung, daß sie nun endgültig nicht mehr mitmachen werde.

In Leben in Wittstock (1984) sieht man eine jener vier oder fünf programmatischen Szenen, die auch in Neues in Wittstock wieder auftauchen und in denen ein Thema des Films blitzlichtartig verdeutlicht zu sein scheint. Die Mädchen in der Diskussion mit der Werksleitung: Rechts im Bild und an einem langen Tisch sitzen zwei Direktoren, links die Arbeiterinnen. Ein Mädchen, erregt und gleichzeitig bemüht, ihre Aufregung zu beherrschen, sagt, daß die Arbeiterinnen zu wenig Anleitung erhalten hätten, nun aber höhere Produktivität gefordert würde. Der Direktor wendet sich regungslos und kontrolliert an die Arbeiterinnen und bekundet, daß er »für diesen Beitrag erstmal vor allem sehr dankbar« sei. Wenn Arbeiterinnen und Direktion miteinander sprechen, müssen sie sich einander zuwenden. Daß sie aneinander vorbeireden, ist schon Teil des optischen Diskurses.

Den Tonfall prägte in Mädchen in Wittstock noch der off-Kommentar, auch Koepps Fragen werden aus dem off eingesprochen: wie die Stimme einer unsichtbaren Autorität im Hintergrund. Dieser Gestus verliert sich schnell, das Interesse fokussiert sich ganz und gar darauf zu zeigen, was die Mädchen sagen, was sie wünschen, woran sie scheitern. In das »emotionale Zentrum« der Filme rückt Stupsi, eine junge Arbeiterin, die bereitwillig und nicht ohne Koketterie von ihrem Privatleben erzählt: von Kabale und Liebe, von den Jungs, die zuviel saufen und schnell zuschlagen, von dem Traum einmal, für eine kurze Zeit, wegzugehen aus Wittstock an der Dosse.

»Autorenhaltung und Standpunkt, das muß im Material stecken. Das kann nicht irgendwie hinterher draufgesetzt werden. Und wenn man das nicht im Material hat und man benötigt einen Kommentar, um das alles zu erklären, dann hat man, glaub ich, seine Arbeit nicht richtig gemacht.« So hat Koepp 1980 seinen Stil umrissen, so sehen die Wittstock-Filme auch aus: Entdeckungsreisen, in denen die Bilder nicht Illustration von Thesen sind, sondern Dokumente der Suche nach dem wahrhaftigen Augenblick: dem Moment, in dem ein Gesicht, eine Situation sprechend wird.

Leben und Weben (1981) ist vielleicht der deprimierendste Wittstock-Film. Zu Beginn sehen wir Edith, die Mutige, die Aktive. Sie hat sich verlobt und ist Obermeister geworden. Es gibt Arbeit, aber auch Heimat? Im Lehrlingsheim sind Übernachtungen von Männern verboten, die sozialistische Moral soll gewahrt bleiben, sagt die Leiterin. Immer wieder sieht man lange, kalte Flure; darin manchmal übermütige Mädchen, die, wie trotzig, die Unwirtlichkeit des Ortes mißachten. Kleine Fluchten, kleine Wünsche. Nicht mehr im Heim wohnen zu müssen, sagt eine Frau, das wäre schön und träumt von einer Einraumwohnung. Der Alltag scheint zermürbend zu sein: Arbeit und Fernsehen, manchmal Kneipe, manchmal Lesen. Am Ende redet Edith von der Rente. Von Glück keine Spur mehr.

1990 ist Volker Koepp noch einmal nach Wittstock gefahren: Neues aus Wittstock. Alles ist anders. Eine Touristin fragt, ob man auch Postkarten von der heimischen Kirche kaufen könne und der Reiseleiter antwortet leutselig, man könne in Wittstock alles kaufen. Vor einem Laden preist eine Verkäuferin schwarz-rot-goldene Länderkissen an, Preis 16,80 DM; auf der Straße bieten Vietnamesen Zigaretten feil. Ein moderner Jeansladen, »New Yorker«, öffnet, das Obertrikotagenwerk »Ernst Lück« wird abgewickelt. Wende in Wittstock.

Edith wird als eine der ersten entlassen, die Kamera wartet am Tor. »Man hängt doch dran, zwanzig Jahre sind 'ne lange Zeit«, sagt sie und tritt von einem Bein auf das andere. Kein einfacher Abschied. Die Pausen werden länger, dann bittet sie: »Laß mal die Kamera weg.« Volker Koepp gehorcht widerwillig und erst nach ein, zwei Minuten. Dann wird die Leinwand für einen Moment schwarz. Diese Szene funktioniert wie eine Ellipse. Sie zeigt, indem sie darauf verweist, was sie nicht zeigt.

Die Wittstock-Filme leben vor allem durch Szenen von ad hoc einleuchtender emotionaler Kraft, die sich aus Unmittelbarkeit speisen. Koepp versteht es, die Kamera als Instrument einer Begegnung einzusetzen. In Leben in Wittstock sehen wir einmal aus einiger Entfernung in der Fabrikhalle zwei Mädchen, die miteinander tuscheln, sich necken. Als sie die Kamera entdecken, lachen sie; verlegen, als wären sie bei einer lässlichen Sünde ertappt worden, aber auch laut. Dann gehen sie, nicht ganz ohne Geste von Ironie, wieder ihrer Pflicht nach. Ein Mädchen wendet sich um – und stolpert. Das ist wie eine Slapstick Szene, die ihre Schönheit und ihre Kraft uns zu berühren aus unverstellter Unmittelbarkeit bezieht.

Die Kontrastszene, eine inszenierte Überraschung, sieht man übrigens in Winfried Junges Drehbuch: Die Zeiten. Der Regisseur interviewt einen seiner Protagonisten; das Kind seines Helden hat er heimlich mitgebracht, es wartet im Hintergrund, schließlich filmt Junge den Moment der Begegnung. In diesem Augenblick scheint die Kamera aufdringlich nah zu sein, bei Koepp scheint sie weit entfernt. Bei Junge wird man Zeuge der Freude des Kindes, der Verlegenheit des Vaters; wir werden, anders gesagt, zu Eindringlingen und Voyeuren. Wir sehen etwas, das eigens für uns inszeniert wurde, das nicht entstanden ist, sondern arrangiert. Deshalb kann es nicht Spiel sein, sondern nur Offenbarung: Die Wahrheit soll ans Licht kommen. Die Szene hat gewissermaßen eine detektivische Grundierung. Wie reagiert der Vater? Freut er sich? Ist seine Freude wirklich oder durch unsere Anwesenheit bestärkt, oder sogar hervorgerufen? usw. Wo bei Junge, gerade wenn er auf Unmittelbarkeit zielt, eine Kette von moralischen Fragen und Verkrampfungen folgt, öffnet sich bei Koepp ein erotischer Raum. Erotisch, weil es um Blicke geht, die man zurückgibt oder denen man ausweicht, um ein Spiel mit Lust und Scham, wenn man angeschaut wird.

Man mag die Wittstock-Filme auch als eine ferne Parabel der DDR deuten: über das Neue, das so schnell erstarrt ist und die Resignation und die Lähmung, die folgten. Aber (und das verbürgt die Gültigkeit der Filme) der Plot, die Geschichte des Obertrikotagenwerkes, ist nur Rahmen. Ins Bild rücken Menschen. Drei Frauenportraits: Stupsi, der weibliche Star, Edith, die FDJ-Sekretärin, die Mutige, die etwas will, Renate, die erfahrene Ältere, patente. Die Intensität der Filme ist auch Ergebnis von Konzentration, deutlichen Auslassungen. Die Männer von Elsbeth und Edith sind nur am Rande, wie Schatten, zu sehen. Das kinematographische Können (auch des Kameramannes Christian Lehmann) erweist sich darin, die unterschiedlichen Rollen der drei Frauen sichtbar zu machen und in physischer Präsenz erfahrbar werden zu lassen. So sieht man Edith meist in der Gruppe und dort oft im Zentrum. Sie, die Aktive, die meist von der Arbeit, weniger von sich spricht, wird definiert durch ihre Rolle im öffentlichen Raum. Der Gegenpart fällt Stupsi zu, die meist frontal in die Kamera spricht: von Wünschen, von Jungens und Liebe. Manchmal wenn Stupsi (meist in amerikanischen oder nahen Einstellungen) im Bild ist, scheint es ein Licht zu geben, das die Szene entrückt. Alles, nur keinen Mann aus Wittstock wollte sie heiraten, wegen dem Suff und den Schlägereien. Es kam anders, wie so manches. Edith wird als eine der ersten entlassen und in den Westen ziehen. Renate, die 1973 aus Sachsen kam, um das Werk aufzubauen, wird bleiben, »weil Wittstock kann ja nicht leer bleiben.«

Manchmal finden sich in den frühen Filmen kleine Beobachtungen, die sich zu Episoden verdichten, die von Sehnsüchten und Alltag erzählen. Einmal sieht man Stupsi, draußen auf einer Straße. Ein kalter Tag, Spätherbst vielleicht, der Atem gefriert schon. In einer einigermaßen verwegenen Felljacke schaut sie spöttisch Wittstocker Bürgern nach und lacht in die Kamera. In einer Kneipe, in der Rockmusik dröhnt, sitzt sie an einem Tisch, übervoll mit Bierflaschen. Ein kleiner Streit, den wir nicht hören, entspinnt sich. Stupsi steht auf; der Junge bleibt, wütend, zurück. Solche lakonischen, szenischen Miniaturen erzählen von Lebensgier und Auflehnung, Kleinstadtenge und Widerstand. Volker Koepp sucht weniger Aussagen als Momente. Man sieht Feste, auf denen die Mädchen miteinander tanzen; so sieht man, daß es in Wittstock, werksbedingt, zu viele Mädchen gibt. In den Interviews fragt Koepp nach diesem und jenem; in den Antworten sind manchmal die Augenblicke, in denen Schweigen einsetzt, wichtiger als die Informationen, die die Sätze transportieren. Klaus Wildenhahn hat 1974 in Arbeitsnotizen eine ethisch begründete Ästhetik des Dokumentarischen beschrieben: »Ruhe stellt sich her in der Beobachtung. Leichtigkeit ist zu spüren, die federleichte Berührung in der formalen Bewältigung. Ein kaum definierbares Fließen von Zeit wird festgehalten. (Paradox) Das sieht aus wie eine Spielfilmszene, oder das, was wir im positiven Sinne darunter verstehen, die vollkommene Beherrschung der Szene und des Apparates. Nur, im Dokumentarischen wird die Szene nicht beherrscht, sondern intensiv zurückversetzt in ihr Eigenleben. Da fällt Spiel und Dokumentarisches zusammen, nur – die Voraussetzungen dieses scheinbaren gleichen Endergebnisses sind handwerklich ganz anders geartet. Im Dokumentarfilm schaffen Filmmacher und Protagonisten das Spiel zusammen. Wann geht das? Wenn die Menschen, die wir filmen, in ihrem Bereich souverän sind und uns – unausgesprochen – mitnehmen, mitschwingen lassen. Oft während der Arbeit (dort wo wir rankommen), manchmal zu Hause, manchmal beim Nachdenken, manchmal beim Vergnügen.« Die Dichte der Wittstock-Filme stellt sich auch über klare visuelle Orientierungen her: die Stadt, alt, umringt und klar abgegrenzt durch eine Mauer, davor entsteht auf der Wiese das Werk. Hier die fast noch ländliche Struktur, dort vor den Toren die Fabrik, Symbol einer Moderne, an deren Rand die Stadt bisher stets lag. Dieser Konflikt ist schon mit dem ersten Blick zu erfassen. Vielleicht leben die Wittstock-Filme nicht nur von den unverkrampften, lebendigen, auch wechselvollen Beziehungen des Regisseurs zu seinen Heldinnen, sondern auch von Empfindung für »location«, die dramaturgischen Sinn macht. Der ästhetische Überschuß, die Poesie, entsteht aus einer bestimmten Mischung von Deutlichem und Undeutlichem, von Ordnung und Freiheit, Spontaneität und Planung. Koepps vager, offener Stil zu fragen etwa wird durch strikte, funktionale, durchdacht wirkende Arrangements ergänzt, die Übersichtlichkeit verbürgen.

BILDBESCHREIBUNGEN: In Neues in Wittstock sieht man einen Treuhanddirektor in spe, der, wie die Karikatur eines Besser-Wessis, meint, daß »der Osten ja wieder christianisiert werden müsse«. Dabei steht er vor einem Modell der Stadt; dies ist ein sprechendes Arrangement, das einen ebenso abstrakten wie herrschaftlichen Blick auf die Stadt zum Ausdruck bringt. Ein anderes Mal sitzen Elsbeth, Renate und Edith an einem Tisch, die Kamera blickt frontal auf Renate, rechts und links sitzen sich Elsbeth und Edith gegenüber. Dieses Dreieck präsentiert die Frauen als ein auf sich selbst bezogenes Ensemble, dem wir nur indirekt, als Beobachter, angehören. Daß Renate das Zentrum des Bildes zu sein scheint, ist kein Zufall. In dem Augenblick, in dem sie erzählt, daß auch sie nun entlassen worden ist, kommen szenische Dramaturgie und die visuelle Inszenierung zur Deckung. Dieses Arrangement ist von rechts von einer Wand begrenzt, man kann nur nach links aus ihm heraustreten. Links, wo Edith sitzt. Wenn sie aufsteht, wird die Gruppe, vielleicht auch der Film beendet sein. Man kann gewissermaßen sehen, daß sie dieses Ensemble auflösen wird. Edith, die doch nie aus Wittstock weggehen wollte, und die nun erzählt, daß sie in den Westen gehen wird, weil es in Wittstock an der Dosse keine Arbeit und keine Zukunft gibt. (Ein Gegenbild zu diesem intimen Portrait ist übrigens schon im Bildaufbau jene weiter oben beschriebene Diskussion zwischen Arbeiterinnen und Werksleitung.)

Die Wittstock-Filme sind Schwarz-Weiß. Schwarz-Weiß wirkt kunstvoller, artifizieller – es ist selbst schon Ausschnitt, Verfremdung – gleichzeitig authentischer. Manche Bilder bezeugen ein Nähe zum Fotografischen, zum komponierten statuarischen Bild. In Neues in Wittstock liest zum Beispiel eine Frau einen Brief vor, den sie von Edith erhielt, die nun im Westen wohnt. Die Frau liest, gestützt auf einen Tisch, der das Arrangierte der Szene bildhaft werden läßt. Der Hintergrund ist weiß, nur rechts im Bild sieht man ein Schild, einen Pfeil, der aus dem Bild weist. Diesen Pfeil mag man als Symbol deuten. Er öffnet das Bild, er weist auf das Abwesende, auch auf das Ende der Wittstock-Filme, die nicht weitergehen können, wenn die Heldinnen den Ort verlassen.

Der arrogante Alteigentümer aus dem Westen, der an Hände über der Stadt erinnert, die arbeitslosen Alkoholiker, die sich die »Zeiten, wo Erich noch war« zurückwünschen, die Bilder vom Austausch der Straßenschilder – Luisenplatz statt Karl-Marx-Platz – Renate, die mit gebrochenem Stolz ihre DDR-Orden vorzeigt, schließlich die als Telefongespräch im off dokumentierte Weigerung des neuen Geschäftsführers, dem Team eine Dreherlaubnis zu erteilen – solche Szenen haben Neues in Wittstock den recht grobkörnigen Vorwurf eingetragen, DDR-Nostalgie zu befördern. Dagegen spricht nicht nur, daß der Regisseur Volker Koepp zu jenen (recht dünn gesäten) Dokumentarfilmer aus der DDR zählt, die auf 1989 nicht mit Verzagtheit antworteten, sondern mit einem Kreativitätsschub. (Neben Neues in Wittstock hat er den Dritten Teil der Märkischen Trilogie gedreht, außerdem Sammelsurium, einen episodischen Reisefilm. Derzeit, Anfang 1993, arbeitet er an einem Dokumentarfilm über den Uranabbau in Wismut.) Der Vorwurf, DDR-Nostalgie zu schüren, basiert auch auf der Identifizierung von Dargestelltem und Absicht (eine Methode, die übrigens auch für die DDR-Zensur typisch war): daß das Dargestellte auch die Absicht des Filmes ist. Mir scheint, daß sich Kritik eher gegen die Wirklichkeit als gegen die Bilder richten müßte.

Schließlich ist Neues in Wittstock auch anzumerken, daß es den Film wohl nur gibt, weil die gußeisernen Wittstocker Verhältnisse, in denen sich die drei Heldinnen mehr oder weniger resigniert eingerichtet hatten, zerbrochen sind. Daß Edith in den Westen geht, zeigt der Film als eine aus Zwang geborene Veränderung, der Edith indes Positives abzugewinnen weiß. Nach der Szene, in der sie ein letztes Mal das Werk verließ, sehen wir sie an ein Geländer gelehnt: Sie trägt ein schwarzes Jackett, die Hand locker in der Hosentasche. »Ist schon richtig so«, sagt sie. Die Entscheidung ist nicht leicht gefallen, aber jetzt ist es leichter als zuvor. Das kann man sehen und hören. Die Körperhaltung ist sprechend.

Der Blick richtete sich in den Wittstock-Filmen stets auf den Alltag, nicht auf Politik im engeren Sinne. Daher wirkt auch stimmig, daß in Neues in Wittstock der Herbst 89, die Währungsumstellung und Vereinigung gar nicht oder nur am Rande vorkommen. Was in Neues in Wittstock als DDR-Nostalgie mißverstanden wurde, ist jene Wehmut, die auch schon Leben in Wittstock durchzog: eine existentielle Trauer über das Vergehen der Zeit, das Altern, das Verblassen von Träumen, den Verlust von Protestenergie. Diese dramaturgische Spannung ist in Neues in Wittstock schon in jener Szene am Anfang enthalten, in der Elsbeth auf dem Videobildschirm sich selbst vor achtzehn Jahren sieht und halb ironisch aufseufzt. Cocteaus, in unzähligen Filmkritiken mit stirnrunzelndem Tiefsinn zitierter Satz, Filmemachen sei, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen – hier hat er faßbaren Sinn.

Am Anfang der beiden abendfüllenden Wittstock-Filme sieht man jeweils lange Kamerafahrten. In Leben in Wittstock ist dies ein Blick aus einem Zugfenster: Felder ziehen vorbei, die Baustelle des Textilkombinates, Häuser, die Kirche, Bäche und Bäume. In Neues in Wittstock fährt die Kamera an der Stadtmauer entlang und zeigt, was ins Blickfeld gerät. Beide Sequenzen sind langsame Annäherungen: beiläufige Seitwärtsfahrten, die in den Fabrikhallen wiederkehren werden, wenn die Kamera an den Bändern entlang gleitet. In beiden Filmen findet man Ouvertüren, Auf- und Abtritte, Ellipsen und fast analoge Finale; beide Filme ähneln in ihrer Struktur fiktionalen Filmerzählungen. Leben in Wittstock (1984) beginnt mit einer Sequenz aus Mädchen in Wittstock (1974), die zu einem zentralen Drehpunkt der Filme wird und die Spannungsbögen umreißt. Stupsi, das Mädchen mit dem rebellischen, koketten Blick direkt in die Kamera, den Volker Koepp immer wieder sucht, erzählt, wie sie sich einen Spielfilm wünscht: Um ein Liebespaar soll es gehen, das auseinandergeht und wieder zusammenfindet. Danach müsse es weitergehen, wie die Familie wächst und »ooch von der Arbeit sollen se wat zeigen«. Diese Sequenz, die wie ein Trailer Leben in Wittstock vorangestellt ist, schillert. Sie spielt auf verschiedene Ebenen an: das Leben, das Kino, die Zukunft. Sie erzählt von Stupsis eigener Rolle: von dem Leben, das sie erwartet und daß sie ja selbst so etwas wie ein Star in einem Film ist. Man mag darin auch erkennen, was die Wittstock-Filme zeigen wollen. Und es sind, wie oft bei Stupsi, auch Sehnsuchtssätze: Das Kino soll das Leben zeigen und das eigene Leben soll wie Kino sein. Am Ende von Leben in Wittstock sieht man scheinbar die gleiche Szene. Wieder beginnt Stupsi von dem Spielfilm zu erzählen, und mittendrin stockt sie, lächelt ein Mona Lisa Lächeln und sagt: »Volker, det jeet nich.« Die Inszenierung scheitert; in spielerischer Selbstreflexion verweist die Szene auf das Inszenierte im dokumentarischen Bild.

In der nächsten, und vorletzten Szene des Filmes sehen wir Elsbeth 1984, die früher, vor zehn Jahren, als sie noch ein Mädchen war, einmal Stupsi hieß. Sie steht vor dem Fenster ihrer Neubauwohnung, dahinter kann man einen Wald ahnen. Koepp fragt, wie damals, nach Wünschen. Elsbeth ist ein wenig verlegen, der Blick suchend, ein wenig ungeduldig, ein wenig mißtrauisch. Träume? Ach, nein, keine Träume mehr. Nur noch Wünsche: daß die Kinder in Ferien fahren können. Und »daß alles so bleibt wie es ist«. Das Verschwenderische, Erotische ist verschwunden, die Sehnsüchte versickert. Dann schaut Elsbeth noch lange in die Kamera. Am Ende des zweiten langen Wittstock-Filmes und sieben Jahre später wird sich diese Szene, ein wenig anders, wiederholen. Elsbeth, im Hintergrund wieder der Wald, spricht nun selbst von jener Szene, als ihre »Filmrolle« begann: von ihrer Vision von einem Spielfilm, der vielleicht auch der Traum von ihrem Leben war. Jetzt ist es wohl zu Ende mit dem Film, sagt sie. Und: Hat alles ein Anfang und ein Ende. Elsbeth tritt hinaus auf den Balkon, jetzt sehen wir den Wald, das Offene. Wie schon sieben Jahre zuvor ist dies eine Abschiedsszene, aber sie hat eine andere Temperatur. Am Ende steht wieder ein stummer Blick, so lange und ruhig wie keiner je zuvor. Die Melancholie ist geblieben aber Erstarrung und Beklemmung, die in Leben in Wittstock zu spüren waren, sind verschwunden. Die Geschichte von Stupsi, die Elsbeth wurde, erzählt Volker Koepp so wie François Truffaut einmal die Dramaturgie einer Liebesgeschichte beschrieben hat: es muß einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß geben. Dem ähnelt, was zwischen der Kamera und Elsbeth geschieht: dem Flirt, Stupsis Spiel mit den Blicken, die das erotische Kraftzentrum der Filme sind, folgen Krise und Fremdheit und schließlich ein gebrochen versöhntes Ende.

So sieht man in Leben in Wittstock (1984) Elsbeth in der Fabrik, im Hintergrund flutet Licht durch ein Fenster. Volker Koepp fragt: Ein Fenster, das hast Du Dir damals doch gewünscht. Ja, sagt Elsbeth, es ist gut aber ihr Tonfall scheint die Botschaft zu dementieren. Sie hebt kurz den Blick und scheint, einen Augenaufschlag lang, den koketten Blick von einst, in dem ein wenig Spott und auch ein Versprechen zu liegen schien, zu wiederholen. Diesen Blick bricht sie, kaum begonnen, ab und verweigert das Spiel.
Koepps Können erweist sich darin, uns die Geschichte fast eines halben Lebens als Geschichte eines Lächelns glaubhaft werden lassen: ein Lächeln, das er entdeckt, das vergeht und das schließlich in jenem melancholischen, milden Blick am Ende von Neues in Wittstock aufgehoben zu sein scheint.

Was kann das sein, ein wahrhaftiges Bild? Noch einmal Truffaut. In Der Mann, der die Frauen liebte sagt jemand, daß es darum gehe, Geschichten zu erzählen, die nichts beweisen wollen. Man mag dies auch als Motto für die Wittstock-Filme gelten lassen. So entsteht Freiheit, jene Dimension, die über das Faktische des Bildes hinausweist: blitzartiges Erkennen, welche Möglichkeiten in einem Leben verborgen sind.

Stefan Reinecke