Ein Jegliches hat seine Zeit. Die Chronik der »Kinder von Golzow«
Eine Mauerschau spezifisch deutscher Art bewegte im Sommer 1983 die Gemüter zwischen Frankfurt an der Oder und Frankfurt am Main. Aber anders als in der antiken Tragödie, wenn ein Bote von erhöhter Position über Feuersbrünste oder Schlachtgedränge Bericht erstattet, weil sie sich der Darstellung auf der Bühne entziehen, und dennoch in Parallele zur Teichoskopie auf dem Theater, übernahm ein modernes Medium diese Rolle: Es gab Kunde von Alltagsverhältnissen, die sonst außerhalb der politischen und medialen Szene blieben, der öffentlichen Darstellung nicht für nötig oder wert befunden wurden. Denn sie widersprach dem landläufigen Schwarz-Weiß-Schema, entzog sich sowohl westlicher Horrifizierung als auch östlicher Verklärung. »Ein wahres Abbild der DDR-Wirklichkeit: Ehrlich und ungeschminkt, offen und selbstkritisch, nichts ist retuschiert.«
<1> Solch enthusiastisches Urteil freilich verdankte sich nicht nur vergleichsweise unverstellter Bilder aus dem zweiten deutschen Staat, sondern auch der aus Ignoranz oder Vorsatz verzerrten Widerspiegelung realsozialistischer Realität im ersten. Man lebte mit der Retusche.
Was war geschehen? Das Erste Deutsche Fernsehen hatte im Juni an zwei aufeinanderfolgenden Abenden zur besten Sendezeit, 20.15 Uhr nach der Tagesschau, den DEFA-Dokumentarfilm Lebensläufe ausgestrahlt, Länge 7000 Meter, Sendezeit 257 Minuten, schwarz-weiß und Farbe. Soviel wie sechsmal »Dallas«, spottete »Der Spiegel« und setzte damit den Begriff Ost-Dallas in die Welt, »bloß der Werdegang von neun Heranwachsenden irgendwo im Hinterland der Deutschen Demokratischen Republik, genauer: in DDR-2111 Golzow Post Seelow, 80 Kilometer östlich von Berlin, zwei Ochsen vor dem Pflug, einer dahinter, wie der Volksmund witzelt.« <2> Keine einzige Sensation in über vier Stunden Film machte der Zürcher »Tages-Anzeiger« aus, »und doch sind diese Lebensläufe der DEFA-Autoren Winfried Junge (Regie) und Hans-Eberhard Leupold (Kamera) eine einzige Sensation.« <3> In der Tat ging die Wirkung der als »Werkstattbericht« heruntergespielten Dokumentation aus dem Oderbruch (und dann doch das Dorf hinter sich lassend) über ein TV-Ereignis weit hinaus. Eine Ahnung vermittelte sich, daß da »auf der anderen Seite« gewöhnliche Leute ein gewöhnliches Leben lebten, erfüllt und enttäuscht auf eigene Weise, fernab gängiger Parolen und Propaganda; daß da aus Kindern Leute wurden wie anderswo und ein Alltag herrschte, der sich den Deklamationen, östlich-sozialistischen und westlich-nationalen, schlicht nicht fügen mochte. »Denn diese Lebensläufe becircen nicht, gehen nicht wie geleckt über den Bildschirm, kein optischer Flitter, nirgends fauler Zauber. Stattdessen verbinden sie eine trockene Bildersprache mit einem Wust von Gesprächsstoff, leisten sich nur den Luxus, sachlich zu sein, und zeigen Gesichter, die einen nicht wieder loslassen.« <4> Lebensläufe präsentierte zwischen Prolog und Epilog in neun Porträts die Geschichte der Kinder von Golzow von der Einschulung bis ins Erwachsenwerden, fünf Mädchen/Frauen und vier Jungen/Männer, von Jürgen, der als Maler und Tapezierer in Golzow hängenblieb, bis Gudrun, die es als Studentin der Staatswissenschaften nach Weimar verschlug. Lebensläufe war der achte Film innerhalb einer Langzeitdokumentation seit 1961 und konstituierte sich weitgehend aus Material (ca. 40000 Meter Film aus 18jähriger Dreharbeit insgesamt waren archiviert), das bereits in unmittelbar aktuelle Dokumentationen eingegangen war. Lebensläufe wurde uraufgeführt beim Nationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestival der DDR im Oktober 1981 in Neubrandenburg; danach folgten Aufführungen im November 1981 auf der Internationalen Dokumentarfilmwoche in Leipzig und im Februar 1982 auf dem Internationalen Forum des jungen Films in (West-)Berlin. Nachdem der Westdeutsche Rundfunk den Mammutfilm gekauft hatte, geriet der DDR-Fernsehfunk in Zugzwang; widerwillig sendete Adlershof im Oktober 1982 die ungekürzten Porträts der Golzower DDR-Bürger, damit sie ihr TV-Debüt nicht beim Klassenfeind haben würden. Der öffnete sich der DDR-Provinz dann im folgenden Sommer. Angesichts dramatischer zeitgeschichtlicher Vorgänge fing das mit Golzow eher harmlos an. Die Anregung, eine DDR-Schulklasse vom ersten Tag an mit der Kamera auf dem Weg ins Leben zu begleiten, kam von Karl Gass, Jahrgang 1917 und ein Mentor der DEFA-Dokumentaristen, der mit seinen Filmen Feierabend und Asse eine DDR-Spielart des cinema verite kreierte. Sein Schüler und Assistent (zum Beispiel auch in Schaut auf diese Stadt, ein Agitationsstück mit Schnitzler-Tiraden zum Bau der Mauer in Berlin) Winfried Junge wollte im August 1961 mit den Dreharbeiten beginnen, aber Kameramann Hans Dumke war mit seiner Kampfgruppe zum »antifaschistischen Schutzwall« abkommandiert worden, hantierte neben der Kamera mit der Kalaschnikoff. Jungregisseur Junge prägte sich der 13. August als ärgerliches Datum ein, weil damit sein Projekt gefährdet schien. Aber die Gefahr wurde abgewendet, sollte doch »Normalität« demonstriert werden, und die freundliche Idylle mit den ABC-Schützen kam da gerade recht. Wenn ich erst zur Schule geh' ist der 15minütige Auftakt einer filmischen Langzeitbeobachtung, für die Winfried Junge, Jahrgang 1935, Berliner, prädestiniert schien. Ein Germanistikstudium an der Humboldt-Universität bricht er nach einem Jahr ab, um als einer der ersten Studenten an die Babelsberger Hochschule für Filmkunst zu gehen (dort trifft er auf Jürgen Böttcher, aber auch auf die Kameraleute Christian Lehmann und Hans-Eberhard Leupold, der nach einer kurzen Golzower Assistenz beim 1. Schuljahr fester Kamera-Begleiter wird mit Nach einem Jahr). Sein Diplom macht Junge bei Hans Rodenberg als Dramaturg, das Thema fällt 1958 nicht aus dem Rahmen: »Einige Probleme der Gestaltung des neuen Helden im DEFA-Dokumentarfilm mit industrieller Thematik«. In Golzow wird er diese »neuen Helden« vergeblich suchen, aber einen erträglichen Niederschlag mag die Theorie in den drei Filmen über das Pumpspeicherwerk Markersdorf zwischen 1973 und 1981 dennoch gefunden haben (womit darauf hingewiesen sei, daß Winfried Junge neben dem Golzow-Projekt für eine Reihe anderer Filme als Regisseur verantwortlich zeichnet). 1962, bei der Leipziger Dokfilmwoche, äußert sich Junge programmatisch: »Wir sind nicht gegen alle Spielarten des kurzen Films. Nur gegen Filme, die sich als Dokumentarfilme ausgeben gegen das Pseudo-Dokumentarische, gegen Talmi. Rufen wir uns doch einiges Grundsätzliche wieder in Erinnerung: Dokumentarfilm Film der Dokument sein soll ist nicht Nachahmung oder Erfindung, sondern Tatsachenberichterstattung. Er gestaltet die Wirklichkeit nicht nach, sondern spiegelt die vorhandene verdichtet, verwesentlicht, interpretierend. Gegenstand des Dokumentarfilms ist wie in der Kunst der Mensch, nicht das Problem ... Primäre Gestaltungsmittel im Dokumentarfilm sind Bild, Ton (der Mensch spricht auch!) und Montage. Text und Musik sind sekundäre Faktoren, da sie keine Beweiskraft haben. Kein noch so eigenwilliger Gestaltungswille kann im Dokumentarfilm den dokumentarischen Beweis ersetzen.« Nach der massiven West-Abgrenzung 1961 entwickelte sich, zumal bei der DEFA, eine intellektuellästhetisch geschärfte Auseinandersetzung um ideologische und künstlerische Freiräume, die mit einer kreativen Phase vor allem in der Spielfilmproduktion einherging. Mit dem 11. ZK-Plenum der Einheitspartei brach im Dezember 1965 eine neue kulturelle Eiszeit herein mit Verdikten und Verboten. Winfried Junge dreht mit Der tapfere Schulschwänzer seinen einzigen Spielfilm, kann ansonsten in der Golzow-Nische unbeeinträchtigt weiter arbeiten. EIf Jahre alt ist 1966 der dritte Film und die Chronik nimmt nun ernsthaft Gestalt an; in Leipzig fliegt ihm die erste Silberne Taube der Dokfilmwoche zu. Die Probleme beginnen mit den beiden nächsten Filmen, Wenn man vierzehn ist (1969) und Die Prüfung (1971), 36 Minuten der eine, 20 Minuten der andere, schwarz-weiß noch beide und weiterhin im 35-mm-Format. Die kindliche Unbefangenheit geht verloren, die unbeschwerte Schülerzeit auch. Nun tritt die Staatsmacht ins Bild, der Prozeß der Anpassung fordert seine Tribute: Personalausweis und Jugendweihe, Staatsbürgerkunde und Beatles. Aber dort, wo »das Leben« beginnen soll, scheint es auch schon zu enden. »Die ehemals grenzenlosen Erwartungen, die Neugier der Kinder auf das Leben ist aus den Köpfen der jungen Erwachsenen verschwunden.« Winfried Junge später, 1986 in »Film & Fernsehen«, über diese Periode: »Erstmals hatten wir konkreter an die Zukunft des Projekts gedacht und sicherten uns eine Fülle von Material in der Hoffnung, daß seine spätere Veröffentlichung in neuen Zusammenhängen ihm den augenblicklich noch nicht erkennbaren Wert geben könnte. Wir begannen mit der ,Zeit' als künftigem Interpreten zu rechnen.« Das geschieht allerdings zögerlich, sporadisch, sparsam, vor allem zu sehr beschränkt auf biographische Einschnitte wie Heirat, Geburt der Kinder, Militärdienst etc. In eine neue Dimension trat das Projekt ein, als im Zeitraffer 18 Jahre Golzower Miteinanderleben auf 105 Filmminuten zusammenschnurrten, als aus dem Materialfundus geschöpft werden konnte. Anmut sparet nicht noch Mühe, der Titel zitiert die Kinderhymne von Bertolt Brecht und Hanns Eisler, versucht 1979, zum 30. Jahrestag der DDR und zehn Jahre vor deren Zusammenbruch, eine erste Summe. (1981 gibt es dafür einen Nationalpreis 3. Klasse.) Das machte damals Eindruck, zeigte Wirkung, der literarisierende Kommentar fand Beifall und löste Widerspruch aus. »Ohne den Schriftsteller Uwe Kant wäre der Film nicht geworden, was er ist: Kant schrieb einen Text, der zeigte, was Kommentar im Film kann. Immer wenn man meinte, Kant bei einer nur verspielten rednerischen ,Figur' ertappt zu haben, erwies sich, daß der Spaß einen Gedanken im Schlepptau hatte.« <5> Beim späteren Wiedersehen erweist sich, daß die Gedanken banal klingen, in Platitüden umkippen, daß die auftrumpfende Ironie, schon damals eher Gratismut demonstrierend, peinlich abgestanden wirkt. Der Text behindert die Bilder, zwingt sie in ideologisierte Rahmen, anstatt sie sich entfalten zu lassen, Kant entpuppt sich als Vormund. »Unter welchen Bedingungen wachsen Menschen auf einem DDR-Dorf heran? Wir sehen, wie aus Kindergesichtern Gesichter von Frauen und Männern werden. Wir verfolgen, wie aus Kinderträumen und Kinderspielen Erwachsenenwirklichkeit wird. Es wird uns bestätigt, daß es dabei Gewinn und Verlust gibt. Das nach allen Seiten offene Kindergesicht profiliert sich. Der Mensch reift, aber er setzt sich auch. Er weiß nunmehr, was zweckmäßig ist, und was sich (scheinbar) nicht lohnt... Der Mensch wird groß, aber auch dick ... ,Ich weiß auch nicht, ob das das Eigentliche ist, was in mir steckt', so ähnlich spricht Marie-Luise an ihrem Arbeitsplatz im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder). Und das trifft alle. Wie erfahren wir in unserem hoch vergesellschafteten Land, was das Eigentliche ist, das in uns steckt, wer hilft uns dabei, wer ermutigt uns, Ich zu sein?« <6> Wir sind wieder bei den Lebensläufen, diesem ausgereiften Produkt der Langzeitbeobachtung, wirkliche Summe nun (und den Anmut-Versuch in den Hintergrund drängend als verfehlt), und was 1982 in der DDR noch nur zaghaft in eine Frage gekleidet werden konnte, darf heute mit Antworten rechnen. »Das Eigentliche«!, das Individuum, fand in der verordneten DDR-Erziehung und im DDR-Berufsleben durchaus keine Ermutigung, Wünsche wurden verzerrt, Sehnsüchte gingen verloren, Wehmut strandete in der Resignation. Ohne Zweifel ist der Verlust kindlicher Spontanität beim Aufwachsen Erziehung ist per se auch Domestizierung ein allgemeines Phänomen, ob nun die Gesellschaft demokratisch oder totalitär verfaßt ist. Aber in der DDR-Wirklichkeit waren die Beschränkungen rigoroser als anderswo, rot getünchte preußische Disziplin durfte auch mit der Zustimmung jener Eltern rechnen, die sich in Distanz zum Regime fühlten. Normen blieben unbefragt, auch wenn sie die Entfaltung der Kinder hemmten, die Scheu vor dem Risiko war landesüblich. Denn mit den Lebensläufen war aus der Dorfchronik eine Landeschronik geworden, die Biographien nahmen stärkere DDR-typische Färbung an bei Verlust individueller Ausprägungen. Daß sie dennoch, wie jede andere Biographie ehemaliger DDR-Bürger, Lebensgeschichten sui generis bleiben, müssen viele der »anderen« Deutschen nach der sogenannten Wende erst noch lernen. Junge bestärkt dieses Recht auf die eigene Biographie bis in seinen (vorerst) letzten Film Drehbuch: Die Zeiten hinein. Lew Hohmann zu dessen Kommentar-Haltung: »In seiner Wertung ist Junge eher milde als aggressiv. Er verbreitet gedämpften Optimismus durch Relativierung, ist eher selbstkritisch als kritisch, macht die Filme damit zunehmend durchsichtiger, äußert sich mit Achtung und Respekt, manchmal auch melancholisch und resignativ.« <7> Ein Urteil, das noch unter DDR-Vorbehalt formuliert wurde und das selbst Junge heute zu opportunistisch fände. »Es herrschen falsche Vorstellungen von der Komplexität der Arbeit im Dokumentarfilm, wo doch ein anderer Grad von Zusammenarbeit nötig ist als beim Spielfilm, wo man vielleicht eher trennen kann zwischen Kameraarbeit und Regie. Es gibt Regisseure, die schicken nur den Kameramann zum Drehen. Winfried ist fast immer dabei und trotzdem ich mache nicht bloß Bilder, sondern produziere auch Inhalte.« Hans-Eberhard Leupold hat sich so 1981 gegenüber Jutta Voigt geäußert. <8> Reibungen und Streit in der gemeinsamen Arbeit haben beide eingeräumt Verschleißerscheinungen einer »Ehe«. Denn während solche Spannungen anfangs produktiv gemacht werden konnten, haben sie die Zusammenarbeit offensichtlich je länger desto stärker belastet durch eingefahrene, unbefragte Mechanismen. Es war ein Zusammenraufen bereits am Beginn, abzulesen auch an den Filmen. Die Konzeptionen von Junge hätten »oft nicht genügend reale Basis« für ihn gehabt, »er hat die Dinge immer sehr theoretisierend, auch poetisierend gepackt«, meint Leupold. Beim Drehen entscheide sich, ob alles nur Fiktion gewesen sei: »Denn die Realität läßt sich zwar hindrehen, doch nicht so weit, wie man sich das denkt.« Hier das geheiligte Szenarium (der Regisseur als Dramaturg!), da die überraschende Wirklichkeit, der unverstellte Blick (der Kameramann als Praktiker!). Es scheint, als habe Leupold unter der traditionell festgeschriebenen Priorität des Regisseurs (ach ja, die Verantwortung: das zensurierende DEFA-Set, die observierende »Volksbildung«, die verängstigte Kritik ...) mehr gelitten, als in den Produktionen zum Vorschein kommt. Junge: »Ich bin irgendwo ein Illusionist, bei mir spielt sich soviel im Kopf ab, ich sehe das schon vor mir, und es ist real gar nicht zu machen. Film ist etwas Lakonisches, das Bild ist störrisch, es beugt sich nicht dem Willen.« Leupold: »Der Regisseur ist öfter nicht in der Lage, die Dinge in ihrer Bedeutung zu erkennen, so wie ich das im Ausschnitt sehe. Oft sind das winzige Dinge, die spielen aber im Dokumentarfilm eine große Rolle. Wenn ich einen entsprechenden Ausschnitt habe, kann eine Geste, ein Blick, der Zusammenhang dieser Geste und dieses Blicks, plötzlich einen Aspekt ergeben, der nicht absehbar war.« Aus heiterem Himmel ist sie nicht gekommen, die Trennung dieser Arbeitsehe. Im »Montagekunststück«, als welches Regisseur Junge heute die ersten Filme beschreibt, vor allem den ersten, erkennt er inzwischen durchaus den Anteil von Manipulation, den Verlust an Dokumentation durch Arrangement. Eine »Schere zwischen Beobachtung und Inszenierung« hat Hohmann konstatiert, »die mißverstandene Poesie in der Nähe des Kitsches unter dem Einfluß des Lehrers Rodenberg, und die authentische Poesie des Kameramanns Hans Leupold«. Die Patina freilich rettet die Kindergesichter über die Zeiten. Das Experiment Golzow und seine Aspekte: Psychologie und Soziologie, Ideologie und Ästhetik. Nicht zu vergessen: Die DDR und der Sozialismus, der reale, unerbittliche. Und im Hintergrund Deutschland, das geteilte, nun (wieder?) vereinigte und gespaltene. Golzow ist ein Zufall, Golzow ist aber auch exemplarisch. Die Chronik von Golzow und den Kindern des Jahres 1961 mausert sich zur Legende zu Lebzeiten. Ihr Regisseur ist Mitspieler und lädt sein Publikum zum Mitspielen ein. Er setzt nicht auf Distanz, öffnet die Vorgänge kaum für kritische Einreden; er wirbt um einverständige Symphathie, fördert so affirmative Bestätigung. »Junge denkt weniger in Bildern, eher in Botschaften.« (Hohmann) Seine politischen Ansprüche halten sich in Grenzen, Harmonien liegen ihm näher als der Konflikt (den deckt er lieber zu mit einem Kommentar), Verständigung geht vor Verfremdung. »Winfried Junge braucht gar nicht direkt politisch zu sein, sogar wenn er die normalen politischen Rituale oder apologetisches Verhalten zeigt, kann er sich auf einen kritisch-distanzierten Blick, der sich aus den Abläufen der Biographie ergibt, verlassen. So entstand eine problematisierende Sicht auf soziales Leben, die eine Vielzahl von Fragen, von Konflikten freisetzte, ein anders kaum so authentisch sich ergebendes Gefühl für Rhythmus und Inhalte von Lebensläufen. Durch die Zusammenstellung des Materials wird eine epische Dimension gewonnen, die gleichsam unter der Hand eine gesellschaftliche Bilanz entstehen läßt, natürlich auf der Basis der Arbeit des Regisseurs und seines Teams.« <9> Diese Lesart der Lebensläufe, nach dem Zusammenbruch der DDR im Beitrittsgebiet formuliert, macht Sinn, obwohl sie manche Möglichkeiten der Rezeption von den ideologischen Intentionen trennt, die nicht nur von der obrigkeitlichen Kulturpolitik, sondern auch von den (selbst-)kritischeren Machern des Projektes »DDR-Sozialismus 2000« verfochten wurden. Rolf Richter besteht darauf, daß die Lebensläufe sich »in ihrer Ambivalenz jeder eindeutigen Interpretation entziehen und für ideologische Zwecke nicht vordergründig zu gebauchen sind«, auch wenn das offiziell nicht eingestanden wurde, auch wenn manche Kritiker den Film »als Bestätigung für DDR-Leben« genommen haben. Der bestätigende, nicht bloß beschwichtigende Charakter dieser epischen Biographien, die sich allerdings meist nur auf (gefilmte) Stationen oft allzu offiziösen Beigeschmacks berufen können, steht außer jedem Zweifel. Es ist eine nachträglich gebrochene Bestätigung, in die der Regisseur sich einbezieht, sich in die anderen Leben nicht nur einmischend, sondern auch manchmal, ex cathedra, hineindrängend. »So wie jeder Mensch, so hat auch jedes Land seine Zeit, jede Gesellschaft die ihre. Beinahe 41 Jahre DDR das ist nun vorbei. Es war mein Leben vom 14. Lebensjahr an. Als sich Deutschland teilte, war ich in seinem Osten geblieben. Weil ich eine Hoffnung hatte ... Ich wurde gebraucht, und das war ein gutes Gefühl. Wer gebraucht wird, kann auch mißbraucht werden.« <10> Junge will auch nicht verwischen, daß die Chronisten keineswegs behaupten, dem »Experiment DDR« von Anfang an skeptisch gegenübergestanden, dessen Fehlentwicklung bewußt dokumentiert zu haben. »Auch wenn sie diese mehr und mehr erkannten, hatten sie doch weiter daran glauben wollen, daß sich dieser DDR-Sozialismus doch noch demokratisch und als Alternative zur Bundesrepublik Deutschland entwickeln würde.« <11> Kein Streit darüber, wer wie lange dieser Fata Morgana nachhing; doch es lohnt sich, darüber nachzudenken, wer in welcher Weise der Fata Morgana nachtrauert. Das Modewort heißt DDR-Nostalgie. Winfried Junge erliegt der Gefahr, obwohl er sie benennt. Es muß freilich eingeräumt werden, daß er geradezu dogmatisch darauf achtet, den Biographien (und also den Objekten seiner dokumentarische Begierde) nicht zu nahe zu treten. Er hat wohl befürchtet, daß kritische Reflexion die Lebensläufe beschädigt oder gar instrumentalisiert hätte. Drehbuch: Die Zeiten. Unversehene Ankunft beim Film über den Film, drei Jahrzehnte mit den Kindern von Golzow und der DEFA, 284 Minuten Länge, Produktionsjahre 1961 bis 1993 und uraufgeführt am 14. Februar 1993 auf dem Internationalen Forum des Jungen Films in Berlin. Der zehnte Film (auf dem Rolltitel ist es zu lesen) »berichtet aus der Werkstatt der Chronik und vom Gespräch mit den Golzowern in der Mitte ihres Lebens und nach der deutschen Wende«. Zugleich wird angekündigt, daß die Darstellung ihrer »Lebensläufe« einer späteren Veröffentlichung vorbehalten sei. Ansonsten kurz & bündig: »Die über dreißigjährige Chronik ist die älteste Langzeitbeobachtung der internationalen Filmgeschichte des DEFA-Dokumentarfilms.« Im Hintergrund: 120.000 Meter Material. Bei der Berlinale-Präsentation der Lebensläufe 1982 war als Land noch vermerkt: »Deutsche Demokratische Republik«; in diesem Jahr lief Drehbuch: Die Zeiten unter »Deutschland«. Dazwischen liegt das Katastrophenglück von 1989, das Hinscheiden einer Weltmacht und eines fast weltumspannenden Systems. Die DDR versank im Orkus der Geschichte, aber die in der DDR lebten, können sich von ihrer Lebensgeschichte nicht einfach dispensieren. Biographien bestehen gegen Parteitage und ZK-Sitzungen gegen Fünfjahrespläne und Reiseverbote, und sie werden eingebracht in die neuen deutschen Verhältnisse. Die Golzow-Chronik wäre dazu angetan, die innere Vereinigung einsichtig zu befördern. Es könnte sein, daß sie in der neuen Lage für den westlichen, alten Teil der Bundesrepublik wichtiger wird, als sie für den östlichen, neuen, als er noch DDR hieß, je war. Das Projekt Golzow kann nun mit offenem Visier in Augenschein genommen werden, »Golzow ist doch nicht die DDR. Golzow ist ein Stück DDR. In diesem Film sind es 13 Menschen, die wir porträtiert haben, aber es sind nur Schüler aus einer Klasse. Der Film ist eine Geschichte aus der DDR.« <12> Die Melancholie, die sich durch den letzten Film zieht, ist nicht aufgesetzt, und sie ist nicht seine schlechteste Mitgift. Da ist Winfried Junge auf einem anderen dokumentarischen Kontinent als zum Beispiel Volker Koepp, der bei seinen Wittstocker Beobachtungen nüchterner vorgeht. Kein Tränenschleier mildert den Blick auf die (post-) sozialistische Realität. Die Zeit hat einen anderen Rhythmus und das Glück andere Erscheinungsformen. Die Ästhetik des Vertrauens allerdings, die Winfried Junge im Umgang mit seinen Golzowern in Anspruch nimmt, rettet ein Stück Utopie in die dramatischen Zeitläufte ins Nirgendwo. Heinz Klunker |