> Paul Diekmann - Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil II (Januar bis April 1916)

Paul Diekmann - Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil II (Januar bis April 1916)

Dieser Eintrag stammt von Gertrud Mohr, Cord Diekmann und Christel Lohmann (info@cord-diekmann.de), den Enkelkindern Paul Diekmanns, Juni 2008:

 

Feldpostbrief, 28. Januar 1916

Huvet, 28.1.16.

Mich hat's aufrichtig gefreut, als bei Kaisers Geburtstagsfeier es zum Ausdruck kam, wie hoch die Leute den Hauptmann schätzen. Obwohl er der einzige Gardehauptmann noch im Regiment ist, der eine Kompagnie hat, ist's ihm nicht zu wenig, Kompagnieführer zu sein. Und wenn ihm auch die Gabe fehlt, mit Leuten umzugehen, so schätzt doch jeder an ihm die Strenge, Gerechtigkeitsliebe und den persönlichen Mut. Bei jedem Gefecht zu Anfang des Krieges ist er der Kompagnie vorangegangen. Und wenn einer das Eiserne Kreuz 1. Klasse im Regiment verdient hat, dann ist er's.

Also Kaisers Geburtstag! Ursprünglich war ja für den 27. Januar ein großer Marsch vorgesehen. Wir waren auch schon 1/2 Stunde weit marschiert, als Gegenbefehl kam. Da gings zurück zu unserm Exerzierplatze. Dort wurde unser Bataillon aufgestellt, u. der Major hielt eine Ansprache. Dann folgte ein Parademarsch. Die Leute wurden entlassen, aber wir Offiziere hatten um 12 Uhr in Peronne ein kaltes Sektfrühstück. Die Musik spielte. Die Glocken läuteten, u. soweit Fahnen da waren, wurden die Häuser beflaggt. Die Kompagniefeiern fanden abends statt. Um 6 Uhr aßen wir gemeinsam. Der Hauptmann hatte wieder Sekt auffahren lassen. Und als wir aufstanden, hatte ich so ziemlich mein Teil. Da gabs ein unvergeßlich schönes Bild. Von Peronne her sahen wir den Fackelzug kommen. Genau wie sonst im Frieden. Die Militärmusik voran und dann die lange Reihe von Pechfackeln. Vor unserer Fabrik hielt der Zug. Unser Hauptmann brachte das Kaiserhoch aus. Heil Dir im Siegeskranz. "Helm ab zum Gebet" u. "Ich bete an die Macht der Liebe". Dann wurden die Fackeln zusammengeworfen u. die Kompagniefeiern begannen.

Wir feierten oben auf dem großen Saale unserer Fabrik. Der war von unsern Handwerkern und Malern hübsch ausgeschmückt u. sah nun im Glanz der elektrischen Birnen u. der Kerzen festlich aus. Es gab reichlich Bier, u. unsere Leute waren denn auch bald in wirklich vergnügter Stimmung. Um 11 Uhr war Schluß. Die paar Stunden waren geflogen. Manch schönes Gedicht wurde vorgetragen, manch schönes Lied gesungen. Drei Lieder hatten wir auch im Gesangverein glücklich zustande gebracht. Vielleicht üben wir im Verein auch weiter. [...]

1000herzl. Grüße und Küsse Dir u. den Buben!

Dein tr. Paul.


 

Feldpostbrief, 3. März 1916

In Reservestellung "Stützpunkt" am La B. -Kanal,Freitag, d. 3. März 1916, nachm. 3/4 2 Uhr.

Mein liebes, gutes Lieschen!

Gestern abend kam von Dir nichts. Nach dem lieben langen Sonntagsbriefe von vorgestern erwartete ich's ja allerdings auch kaum anders. Auch die Pakete sind noch nicht da! Sie gebrauchen natürlich stets einige Tage länger.

Gestern abend hätte ich mich auch über einen Brief von Dir kaum mal richtig freuen können. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Und weil wir Offiziere hier in der Reservestellung rein garnichts zu tun haben, so haben Kandelhardt, Wegener und ich im Anschluß an unser Mittagessen gestern nachmittag ein Gläschen von dem uns gegen Magenbeschwerden und vielleicht schädliches Trinkwasser gelieferten Rum nach dem andern getrunken. Bis es zu viel geworden war. Das merkte aber keiner eher, als bis wir den Unterstand verließen und ans Tageslicht kamen. Da war einer viel mehr gesprächig als der andere. Wir kamen allerdings fast im gleichen Augenblick wieder zur Besinnung, als bei den 16ern, links vom Kanal, gewaltige weiße Wolken aufstiegen. Natürlich Gasangriff. Aber der Wind kam falsch. Zudem hatten einige Leute gesehen, daß gewaltige Erdmassen hochgeschleudert worden seien. Und bald erfuhren wir auch, daß die Engländer vor Regiment 16 gesprengt hatten. Der Dampf war also Pulverdampf gewesen. Bei solchen Sprengungen entstehen Erdtrichter, in denen unser ganzes Haus bequem verschwinden könnte. Solche Trichter werden dann vom Gegner sofort besetzt, und es kostet meistens viel Blut, ihn wieder zu vertreiben. Versucht wirds aber stets, u. sehr häufig endet die Sache so, daß den einen Rand des Trichters die Engländer besetzt halten und den andern wir. Das gibt natürlich schlechte Nachbarschaft.

Um solche Sprengungen ausführen zu können, werden lange unterirdische Gänge (Minen oder Stollen) getrieben, oft in 20 u. mehr m Tiefe. Daran arbeiten besondere Kompagnien, Bergkompagnien, meist aus Bergleuten zusammengestellt, und oft bis unter den feindlichen Gräben durch. Eine furchtbar mühselige Arbeit. Damit der Gegner nicht aufmerksam wird, wird die Erde mit Taschenmessern losgeschabt und mit Händen in Sandsäcke gefüllt. Die werden herausgeschafft und nachts ausgeschüttet. Ab und zu wird eine längere Pause gemacht u. gehorcht, ob nicht über, unter oder neben uns schon die Gegner arbeiten. Das wird mit Hilfe von ganz feinen Apparaten festgestellt, die jede Erderschütterung sofort anzeigen. Hört man vom Gegner etwas, dann wird alles für eine Sprengung vorbereitet, und im geeigneten Augenblicke läßt man die ganze Geschichte in die Luft fliegen. So ist ja auch Rudolf damals verschüttet worden. Wie gestern Abend die Sache ausgelaufen ist, wissen wir noch nicht. Jedenfalls setzte auf beiden Seiten sofort die schwere Artillerie ein. An unserm Kanalufer war's ganz ruhig, und so konnten wir vom Kanal aus ungestört beobachten. Es war ein schaurig schönes Schauspiel, als es dämmerig wurde. Ein Schrapnel platzte neben dem andern in feurigem Kranze. Dazwischen gingen die warnenden roten Leuchtkugeln hoch, und das Artillerieduell steigerte sich rasch zu derartiger Heftigkeit, daß wohl kaum die Infanterie den Graben verlassen hat.

Als ich in meinen Unterstand kam, fühlte ich mich so müde, daß ich sofort eingeschlafen bin. Gut, daß Dein Brief fertig war! Schreiben hätte ich nicht mehr können.

Heute morgen regnete es. Trotzdem habe ich mit Kandelhardt wieder einen Spaziergang gemacht. Quer durch La Bassée. Was ist aus der unglücklichen Stadt in den paar Wochen geworden, die ich sie nicht mehr gesehen! Die alte schöne Kirche ist ein Steinhaufen, dem niemand mehr ansieht, daß er einst ein Gotteshaus war. Und noch immer schießt Tag für Tag die englische Artillerie in die tote Stadt. Unsern Feldgrauen, die in den Kellern hausen, macht das nichts.

Gott befohlen, Liesi! Mir geht's gut. Euch hoffentlich auch! Grüße alle, seid aber besonders Ihr drei Liebsten herzlichst gegrüßt u. geküßt von

Eurem treuen Vater.


 

Feldpostbrief, 6. März 1916

Im Schützengraben am La Bassée-Kanal, Montag, den 6. März 1916, 1/2 1 Uhr m.

Mein liebes, gutes Lieschen!

Herzlichsten Dank für Deine lieben langen Briefe vom 1. und 2. März! Die kamen beide gestern abend schon, obgleich der letztere erst am 3. März gestempelt war. Da gibts nun heute abend gewiß wieder nichts. Schade! Ich hätte auf den einen Brief gestern abend gern noch verzichtet. Auch Lina schrieb. Wieder recht mutlos und ohne Vertrauen auf die Zukunft. Rudolf schrieb gleichfalls vom 1. u. 2. März. Wenig. Aber auch nichts von Sturm u. Angriff.

Du, mein Lieb, hast vielleicht aus meinen letzten Briefen Vorwürfe herausgelesen über zu weniges Schreiben, weil Du nun gleich 2 lange Briefe schickst u. für den folgenden Tag auf meine Briefe einzugehen versprichst. So ist's aber ganz gewiß nicht gemeint gewesen, Liesi! Ich war natürlich wohl mal mißgestimmt, wenn 2 oder 3 Tage lang - ganz ohne Deine Schuld - nichts kam. Aber mit Karten bin ich gern zufrieden, zumal ich ja nun auch weiß, daß klein Helmut würdig in Paulchens Fußstapfen tritt, wenn er Dich beim Schreiben so gern stört [Anm.: Söhne des Verfassers]. Und dann denkst Du schon an Gartenarbeit, l. L.! Da weiß ich genau, wie dann mit der Zeit hausgehalten werden muß.

Aber daß es schon so abgetrocknet ist bei Euch, daß Bubi auf Sandhaufen spielen und Helmut im Garten laufen kann! Deine Freude kann ich mir vorstellen, als d. kleine Liebling, der gerade vor einem Jahre jetzt uns soviel Sorge machte, zum erstenmale draußen lief, hinter den Hühnern, die er ja immer schon mit stillem Interesse vom Küchenfenster aus beobachtete, wenn ich ihn auf dem Arme trug. Wegen seines Sprechens mache ich mir keine Gedanken. Ich glaube auch, daß das auf einmal kommt. Und dann ist der Junge doch auch heute erst 1 1/4 Jahr alt. Dabei wissen wir ihn geistig völlig gesund. Aus dem "Gröbsten" ist er ja nun auch heraus. Und wenn erst der Sommer ins Land kommt, wird ja auch Helmut Dich weniger in Anspruch nehmen. Er ist dann doch beinah so alt als Bub bei meinem Abschiede war.

Ja, Liesi, wie schön könnt's sein, wenn Friede wär! So schön, daß ich's mir nicht ausmalen kann. Wir beide uns ganz und für immer wiedergegeben! Uns und unsern Kindern! Wenn uns dann auch die Kriegsjahre nicht angerechnet würden u. wir die Zeit noch mal verleben dürften! Beinahe zwei Jahre! Jahre, die unwiederbringlich dahin sind. Allerdings nicht verloren! Wir haben doch viel gelernt. Und mir scheint, jetzt, wo Not und Entbehrungen wachsen, da lernen auch solche Leute daheim etwas, die bislang unberührt hindurchgingen durch die Schrecken und den Graus des unglückseligen Krieges. Und ehe das deutsche Volk den bitteren Kelch nicht bis zur Neige getrunken, wird auch nicht Friede werden. Sonst wäre ja der Krieg nicht das Ungewitter gewesen, das die Luft reinigen will von Schmutz und von Gift.

Bub, meinst Du, l. L., gäbe mal einen Landwirt ab. Etwas schüchtern' meinst Du das. Warum? Habe ich etwas gegen den Beruf? Gewiß nicht. Wenn er Lust hätte später und ich könnte nicht mehr raten helfen - laß ihm gern seinen Willen. Mir ist's genau so recht und lieb als wenn er Offizier werden will oder Lust zum Studieren zeigen sollte. Wer mit einem Zukunftskriege rechnet, dem mags einerlei sein, ob sein Junge des Königs Rock für immer trägt oder nur für 1 Jahr. Verschont wird später ein gesunder Deutscher so wenig als jetzt.

Aber für körperliche Gesundheit unserer Jungen wollen wir alles tun, l. L.! Ob Bub nicht jetzt schon an einem kleinen Schwebereck, das zugleich Schaukel sein kann und das im Sommer draußen und im Winter im Hause angebracht werden kann, Freude hätte? Gustav hilft Dir sicher gern raten und das Reck kaufen u. anbringen. Turnen macht den Körper gelenkig und stählt nicht bloß die Muskeln, sondern auch den Mut und die Tatkraft. Überleg Dir bitte mal die Sache! - Nun muß ich schon schließen. Vielleicht schreibe ich aber heute abend schon wieder, da ich doch bis 12 Uhr Dienst habe. Wir hatten vorige Nacht wieder viel Schnee.

Gott befohlen, Liesi! Grüß und küß die Jungen u. sei auch du herzlichst geküßt

von Deinem treuen Paul


 

Feldpostbrief, 14. März 1916

Huvet bei Péronne, den 14. März 1916, Dienstag, des nachmittags 3 Uhr

Mein liebes, gutes Lieschen!

Da ich noch einige Zeit im Kriegstagebuche nachzutragen hatte, bin ich heute nachmittag vom Dienst zurückgeblieben. Man findet ja sonst auch kaum Zeit. Morgens sind wir zwar stets um 1/2 12 zurück, u. um 3 Uhr beginnt der Dienst erst wieder. Aber die Frühlingsluft macht so müde, daß man die paar Mittagsstunden für die Ruhe unbedingt nötig hat. Da haben wir uns denn auch eine Bank in die Sonne gerückt und sowohl vor als nach dem Essen uns eine ganze Stunde lang gesonnt. Das tut wohl, besonders, wenn man beim Exerzieren schon geschwitzt hat.

Weil dann nachmittags der Dienst meist bis 1/2 5 dauert und von 5-6 noch Reitunterricht ist, wird die Zeit sehr knapp. Abends bleibt man nach dem gemeinschaftlichen Essen auch meist noch eine Zeitlang sitzen, u. dann fehlt schon die Lust, noch irgend etwas anzufangen. Ich gehe daher auch meist früh zu Bett.

Sonderbar, wie doch die Frühlingsluft immer und immer wieder angreift! Der erste Schweiß macht furchtbar schlaff. Und trotzdem fühle ich, wie das dem Körper wohl tut. Nachts schlafe ich dann auch jedesmal vorzüglich.

Ein Vergnügen ist's auch hier wieder, den Frühling kommen zu sehen. Wenn nur nicht die Sehnsucht nach der Heimat und dem Frieden so wüchse! Wie schön habe ich mir gerade die Frühlingstage gedacht, wenn ich mit Bubi losziehen wollte in den lachenden Sonnenschein hinein. Jetzt ist der Junge soweit, aber immer noch ist Krieg. Immer noch. Und wie lange wohl noch? Glaubst Du auch, Liesi, daß wir nun, wo des Winters Schrecken und Schwierigkeiten überwunden erscheinen, schon wieder an den nächsten Winter denken? Gebe Gott, daß unsere Sorge zu weit reicht! Aber man rechnet ja doch nun schließlich mit allem. Wer hat denn jetzt vor einem Jahr ernstlich mit einem Winterfeldzuge gerechnet? Aber wir wollen nicht zu weit voraus rechnen! So plötzlich der Krieg kam, so schnell kann ja auch sein Ende kommen. Irgendwo und irgendwann muß ja mal der ehrliche Mut gefunden werden zu sagen: Es geht nicht mehr; jede Fortsetzung des Krieges ist Wahnsinn. Zwar wir werden's nicht sagen können, und unsere Feinde werden's nicht sagen wollen. Und dennoch! [...]

Gott befohlen, m. Lieb! Seid alle drei herzlichst gegrüßt

von Eurem treuen Vater.


 

Feldpostbrief, 25. März 1916

In Reservestellung "Stützpunkt" am Kanal, Sonnabend, d. 25.3.16, morgens 1/2 11 Uhr.

Mein liebes, gutes Lieschen!

Da liegen wir nun glücklich wieder drin im Graben. Vorläufig noch in der Reservestellung. Da gewöhnen wir uns so langsam wieder an den Betrieb. In 4 Tagen geht's dann nach vorn.

Ein tolleres Schneetreiben habe ich im Kriege noch nicht mitgemacht als gestern abend auf dem Marsche hierher. Wir wurden in Fretin noch mit Musik zum Bahnhofe gebracht, und eigenartige Gefühle löst es dann jedesmal aus, wenn dort zum Abschiede das Regimentslied "Die Nummer 55 trägt unser Regiment" und das alte schöne "Muß i denn, muß i denn zum Städelein hinaus" gespielt wird. Fast glaubte ich auch schon an besseres Wetter. Es war so hell und klar, als wir aus Huvet abrückten. Aber schon während der Bahnfahrt gab's wieder Schnee, und als wir gegen 9 Uhr vom Bahnhof Salomé abrückten, konnte man kaum die Hand vor Augen sehen, so dicht fielen die Flocken. Der nasse Schnee blieb auf Helm und Mantel und Tornister liegen, und dabei watete man tief in Schlamm und Wasser. Geschmolzener Schnee macht doch am raschesten die Wege grundlos. Glücklicherweise war's während des ganzen Weges vollkommen ruhig. Es fiel kein Artillerieschuß. Und weil wir die Stellung kannten, fand sich trotz der Dunkelheit alles schnell zurecht.

Ich löste Niedieck ab, der die 10. Kompagnie führt. Unser Hauptmann löst nämlich den Major ab und führt im Graben die Kompagnie nicht. Niedieck, meinen alten lieben ersten Kompagnieführer, hatte ich lange nicht gesehen. Mir schien's, als ob er etwas von seinem schlagfertigen goldenen Humor eingebüßt hätte. Der Krieg dauert aber ja auch zulange! Eigentümlich ist mir nur, daß gerade einige ältere Herren treu und wacker aushalten - außer Niedieck haben wir z.B. noch einige alte Hauptleute - während wer weiß wie viele jüngere Offiziere gekommen und gegangen sind. Beinah ist's, als ob wir Älteren auch die Widerstandsfähigeren sind. [...]

Heute ist's nun wieder sonnenhell und klar. Die letzten Reste des tiefen Schnees werden bald geschwunden sein, und die trockenen Märzwinde werden schnell die Gräben wieder einigermaßen wohnlich und die Wege gangbar machen. Des Jahres schlimmste Zeit ist ja gerade für unsere Gegend ohne Frage vorbei. Aber wenn das Wasser nicht mehr droht, dann drohen wie Gespenster die Offensiven. Es wäre ja kaum faßbar, wenn die Engländer nichts machen wollten. Günstig für größere Unternehmungen wird allerdings das Gelände erst im Mai. Und vorher werden auch unsere Gegner ihre durch Verdun völlig über den Haufen geworfenen Pläne kaum neu aufstellen können. Wir müssen eben mit Ruhe die Zukunft erwarten. Gott schütze uns! - Ich bin mit herzl. Gruß an alle und mit heißen Küssen für Euch drei stets und ganz

Dein treuer Paul.



Feldpostbrief, 2. April 1916

Cysoing, den 2. April 1916, Am Sonntagnachmittag 3 Uhr

Mein liebes, gutes Lieschen!

Einen schönern Sonntag habe ich im Kriege noch nicht erlebt. Der Himmel fleckenlos blau. Freundlich lacht die wärmende Sonne nieder, als wolle sie alle schlummernden Kräfte und Triebe der Natur auf einmal wecken zu neuem Leben. Vor meinem Fenster liegt der große Weideplatz eines ansehnlichen Bauerngehöfts - ich wohne am Ausgange nach Couson - und als Wächter am Saume der grünen Weiden steht ein prachtvoller Kastanienbaum. Dessen Blätterknospen schimmerten vor Tagen im hellen Sonnenschein noch wie weiße Lichtchen. Heute zeigen sie schon saftiges, sattes Grün. Und gestern Abend im letzten verglimmenden Sonnenstrahl zwitscherten hoch oben im höchsten Wipfel plaudernde Stare der scheidenden Sonne letzte Grüße nach. Der Frühling hat gesiegt. Nun kann kein Winter Macht mehr gewinnen. Ich habe den schönen Morgen in vollen Zügen genossen. Um 1/2 10 war in der Kirche Gottesdienst durch Pastor Müller. Dann bin ich gleich spazieren gegangen. Mit einem Fahnenjunker von den 16ern, der den Schützengraben noch nicht hat aushalten können und den man hier zum Feld-Ersatz-Bataillon geschickt hat. Der arme Kerl sieht auch wirklich elend aus, wird aber sicher mal ein guter Offizier, wenn er wieder völlig gesund wird.

Und hier kann man genesen. Hinter den beiden Schlössern, in deren einem wir unser Kasino haben, liegt ein Park, wie ihn ein Badeort oder ein Sanatorium nicht größer und schöner haben kann. Am Schlosse zuerst sehr schöne Blumenanlagen, die durch Gärtner gut in Ordnung gehalten werden. Dann schließen sich breite Wege an, die zu beiden Seiten breite saubere Wassergräben haben, die von alten Bäumen beschattet werden. Zwei selten schöne Schwäne beleben das sonst so friedliche Bild. In einem Gondelhause liegen Kähne und Boote und laden zum Rudern ein. Das muß an lauen Sommerabenden wunderbar sein. In eigenartiger Laune hat einer der Besitzer all dieser Herrlichkeit nicht weit vom Schlosse eine Steingrotte bauen lassen, in die ein langer finsterer Gang hineinführt. Die Grotte empfängt ihr einziges Licht durch Fenster aus rotem Glas. Wenn man sich an das Licht gewöhnt hat, entdeckt das erschreckte Auge an der Hinterwand hängend zwei menschliche Skelette. Ein männliches und ein weibliches. Was soll das wohl? Befreit atmet man auf, wenn draußen wieder Sonnenlicht und Frühlingszauber uns umfluten.

Die Besitzer all der schönen Landsitze, wie man sie hier in fast jedem Dorfe findet, sind meist reiche Industrielle aus den großen französischen Fabrikstädten Lille, Tourcoing und Roubaix. Im Winter wohnen sie wohl alle im schönen Lille, wo sie sich auch jetzt aufhalten, soweit sie nicht nach Paris geflüchtet sind, oder als Offiziere im französischen Heere stehen. Meist sind aber überall Schloßverwalter und Köchinnen zurückgeblieben, und wer nun als Ortskommandant Bewohner eines solchen Schlosses wird, dem stehen alle Räume und alle Einrichtungen zur Verfügung. Kein Zimmer ist verschlossen. Dafür wird aber auch geschont soviel es möglich ist. Das Eigentum bleibt jedenfalls voll und ganz erhalten. Ob's wohl Franzosen und Russen bei uns auch so machten?

Das Feldersatzbataillon hat auch ein Theater eingerichtet. Gestern abend war ich drin. Komiker, Zauberkünstler, alles Mögliche! Eingerichtet ist alles vom Adjutanten beim Ersatzbtl., dem Ltn. Junkermann, der selbst Schauspieler und ein Sohn des berühmten Reuter-Darstellers Junkermann ist, der auch oft in Detmold war. Der schon 50jährige Sohn gleicht dem Vater aufs Haar. Du siehst, m.l.L., hier lebt man wie in der Sommerfrische. Hier hält man den Krieg schon aus. Und warum Sorgen machen über kommende Tage? Wer weiß, was man mit uns vorhat? Bis zum 14. April dürfen auffallenderweise Leute beurlaubt werden. Da ist ja auch wohl die Postsperre wieder aufgehoben. - Gott befohlen, mein Lieb!

Treue Grüße u. heiße Küsse!

Euer treuer Vater.


 

Feldpostbrief, 6. April 1916

Cysoing, den 6. April 1916, am Donnerstagnachm. 1/2 5 Uhr.

Mein liebes, gutes Lieschen!

[...] Heute morgen fand die Besichtigung des Kompagnieführerkursus statt. Es war der 9. u. soll der letzte sein. In einer Ansprache betonte der Kommandierende General, daß er fest u. zuversichtlich auf eine Verwendung seines 7. Korps in einem Bewegungskriege hoffe. Die Ruhezeit, die 2 und 3 Wochen und noch länger dauern könne, müsse daher der Vorbereitung für den Bewegungskrieg dienen. Daß und ob wir nun nächstens irgendwo angreifen sollen, ist damit natürlich keineswegs gesagt. Vielleicht liegen wir, ehe wir's ahnen, schon wieder irgendwo im Schützengraben. Sorgen und Gedanken für die Zukunft macht sich jedenfalls keiner von uns. Und Du sollst das auch nicht, mein l. Lieschen! Zumal ja noch keineswegs feststeht, daß wir beim 7. Korps bleiben.

Über eins dürfen wir uns freuen: Daß nun 4 mal nacheinander unsere Luftschiffe in England gewesen sind. Man war schon besorgt, daß unsere Regierung aus irgendwelchen unverständlichen Gründen die scharfe Waffe unserer schönen U-Boote und gefürchteten Luftschiffe gegen England nicht voll und ganz anwenden wolle. Besonders der Kaiser soll dagegen gewesen sein. England hätte uns das natürlich nur als Schwäche ausgelegt. Das hätte aber ohne Frage den unglückseligen Krieg nur verlängert. Ich meine daher, daß wir alle unsere Mittel rücksichtslos anwenden müssen, um unsere Gegner niederzuringen. Als Barbaren sind wir ja nun doch mal verschrieen. Und würden wohl unsere Feinde mit der Anwendung der Mittel zögern, wenn sie die hätten? Ganz gewiß nicht. [...]

Hier ist's wieder ungemütlich kalt. Heute morgen habe ich ohne Mantel gefroren. Heute abend sind wir zum Abschiedsfeste des Kompagnieführerkursus eingeladen. Vielleicht gehe ich hin. - Allen Lieben herzliche Grüße! Dir und unsern Jungen ein treues "Gott befohlen!" u. heiße Küsse!

Dein treuer Paul.


 

Feldpostbrief, 23. April 1916

Bahnhof Willemeau-Froidmont, 23.4.16, am Ostersonntag, nachm. 3/4 4 Uhr.

Mein heißgeliebtes Lieschen!

Da haben wir nun doch noch Osterwetter bekommen. Nicht strahlend hellen Sonnenschein. Aber darauf hoffte ja auch schon keiner mehr, als vorige Nacht noch der Regen unaufhörlich strömte. Da traute ich ja meinen Augen nicht, als heute morgen die Sonne ins Schlafzimmer schien. Und noch mehr hats mich gewundert, daß sich das Wetter so gehalten hat bisher. Es ist ziemlich frisch und windig. Ab und zu bringt die Sonne mehr Wärme.

Ich habe bis 10 Uhr geschlafen. Um 11 Uhr war beim Schlosse in Froidmont Gottesdienst durch Pastor Müller. Er sprach über "Ich lebe, und Ihr sollt auch leben!" Es hat mir gefallen. Kandelhardt und ich haben dann allein gegessen, weil unser Hauptmann die Feiertage über in Gent und Brügge ist.

Gleich nach dem Essen war vorm Kasino in Froidmont Promenadenkonzert unserer Kapelle und anschließend auch vor der Kirche in Froidmont. Wir haben seit 8 Tagen einen neuen Musikmeister. Der war früher bei der Regimentsmusik der 16er und scheint seine Sache zu verstehen. Man merkte heute schon, wie unsere Kapelle weiter gekommen ist. In kurzer Zeit ist unsere Musik nun jedenfalls auf der Höhe. Bisher dirigierte sie ein Gefreiter, und der besaß nicht die nötige Autorität. - Unsere meisten Leute haben heute Urlaub nach Tournai. Die Stadt ist ja auch zu schön. Wenn ich sie nicht schon so gründlich kennte, würde ich auch hingegangen sein.

Abends 6 Uhr.

Soeben komme ich von Kandelhardt. Der wohnt dicht nebenan in einem Estaminat, einer Wirtschaft, Bahnhofsrestaurant. Dafür holte mich unser Unterarzt Schlarb vorhin ab, u. wir haben dort eine Tasse Kaffee getrunken. Unsere beiden Haustöchter waren auch da. Und weil ein nettes Phonografeninstrument dort ist, haben wir vergnügte Stunden verlebt. Der Doktor hat sogar mal ein Tänzchen versucht. Es mag ja nicht recht sein. Aber andererseits verstehe ich so junge Leute auch. Zudem sind ja die Töchter unseres Bahnhofsvorstehers sehr anständige Mädchen.

Sehr niedergedrückt hat unsere Stimmung vorhin aber ein Extrablatt des belgischen Kuriers. Danach ist der Krieg mit Amerika nun wohl nicht mehr zu vermeiden. Und unser alter braver tüchtiger Generalfeldmarschall Freiherr v. d. Goltz ist tot? Unser treuer Eckstein in der Türkei, wo wohl längst schon alles nicht mehr ist, wie es sein sollte. Da waren wir nun gerade so weit, daß scheinbar alles günstig stand für uns - und nun kommt's wie ein Blitz aus heiterm Himmel wieder so! Es wird uns Deutschen doch furchtbar schwer gemacht. Fast sollte man verzweifeln am glücklichen Endausgange. Alles Unglück häuft sich. Aber wir lernen wieder zu dem beten, der schließlich allein noch helfen kann. Wenn tatsächlich Amerika eingreift, dann bedeutet das eine Verlängerung des unglückseligen Weltkrieges
um lange Monate. [...]

Gott schütze uns alle, mein teures Lieb! Ich bin und bleibe mit treuestem Gruß und Kuß für Dich und unsere Buben ganz Dein

Dich liebender Paul.

 

Weitere Feldpostbriefe von Paul Diekmann:
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil I (Mai bis Dezember 1915)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil III  (Mai bis September 1916)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil IV (Oktober bis Dezember 1916)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil V (Februar bis Mai 1917)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil VI (Juni bis Juli 1917)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil VII (November 1917)

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