5. Der Kampf gegen
die Fremden:
Der Yihetuan-(»Boxer«-)Aufstand
Der Bau von »ausländischen« Eisenbahntrassen durch landwirtschaftlich
genutzte Gebiete, die zeitlich parallele Errichtung einer Vielzahl
von Kirchengebäuden, die dort, wo es sich um Spitztürme handelte,
den chinesischen Vorstellungen von Landschaftsharmonie - Feng-Shui-Prinzip
- entgegenstanden und als Unglücksbringer gesehen wurden, sowie
das vielfach als ungerecht empfundene Auftreten von Missionaren
führten bei der chinesischen Bevölkerung zu Verunsicherungen. Missionare
engagierten sich in Konfliktfällen häufig für die zum christlichen
Glauben konvertierten Chinesen und setzten deren Interessen aufgrund
ihrer eigenen »exterritorialen« Rechtslage durch. Der dadurch ausgelöste
Unmut wurde noch verstärkt, weil sich Konvertiten dem traditionellen
Kultur- und Verhaltenskodex ihrer Umwelt entzogen und sich dadurch
Autoritätsverhältnisse lockerten sowie traditionelle Sozialstrukturen
in Frage gestellt wurden. So kam es immer wieder zu Übergriffen
auf christlich getaufte Chinesen und auf Fremde, und zwar in vielen
Teilen Chinas, auch in der Provinz Schantung.
Der schwerste Konflikt dieser Art im deutschen Interessensgebiet
ereignete sich ab Herbst 1898 im Kreis Rizhao im Süden der Provinz
Schantung, bei dem es zu Vergehen von Konvertiten und zu Übergriffen
auf deutsche Missionare gekommen sein soll. Während auf der einen
Seite der Protest der Bevölkerung gegen die Missionare von Aktivisten
der jungen »Boxer«-Bewegung unterstützt worden war, forderte andererseits
Bischof Johann Baptist von Anzer umfangreiche Entschädigungen für
die Übergriffe auf seine Missionare, was die chinesischen Behörden
ablehnten. Trotz zwischenzeitlicher Beruhigung der Lage bewirkte
Bischof von Anzer beim deutschen Gouverneur in Tsingtau einen Truppeneinsatz,
der nach Konsultationen mit der Gesandtschaft in Peking, erneuten
Zwischenfällen in der Region und letztlich mit Zustimmung Wilhelms
II. ausgelöst wurde (März-Juni 1899). Beim Einsatz von Tsingtauer
Soldaten in Rizhao kamen mehrere Chinesen ums Leben, und es wurden
viele Wohngebäude der Landbevölkerung zerstört. Die chinesische
Seite mußte darüber hinaus Entschädigungen zahlen.
Im Kreis Gaomi (Kaumi), der ebenso außerhalb des deutschen Schutzgebietes,
aber innerhalb des Operationsbereiches des deutschen Militärs lag,
kam es im Juni 1899 zu Übergriffen der bäuerlichen Bevölkerung auf
Landvermesser der Eisenbahngesellschaft, weil sich die Bauern bei
der Klärung der Eigentumsverhältnisse und der Festlegung der Entschädigungssummen
ungerecht behandelt fühlten. Durch den von Gouverneur Jaeschke veranlaßten
Einsatz von Tsingtauer Soldaten starben mehr als 20 Chinesen (siehe
Beitrag Klaus Mühlhahn, Deutsche Vorposten im Hinterland: Die infrastrukturelle
Durchdringung der Provinz Schantung). Ende 1899 beteiligten
sich mehrere tausend Chinesen an Aktionen gegen die Trassenführung
nördlich der Stadt Kaumi. Die ländliche Bevölkerung wurde dabei
von Mitgliedern der »Boxer«-Bewegung unterstützt. Wegen der Unruhen
zogen sich deutsche Zivilisten nach Tsingtau zurück. Diesmal brachen
chinesische Truppen des neuen Gouverneurs von Schantung, Yuan Shikai,
den Widerstand; deutsches Militär wurde nicht entsandt.
Die Menschen in der Provinz Schantung erlebten außerdem Hungersnöte,
nachdem die Region 1898 von Unwettern und Überschwemmungen heimgesucht
worden war. Millionen Obdachlose flüchteten, und der Handel brach
weitgehend zusammen. Steuererhöhungen sowie Warenkonkurrenz aus
dem Ausland kamen als überregionale Belastungen hinzu, so daß zum
Jahresende 1898 die »Miliz für Gerechtigkeit und Eintracht« (Yihetuan)
raschen Zulauf erhielt. Ihre Mitglieder rekrutierte die Bewegung
überwiegend aus dem agrarischen Bereich. Die landbesitzende Gentry
war in Schantung kein hinreichender Ordnungsfaktor, was den Zulauf
zu den Sekten und Geheimbünden erleichterte. Die Aufständischen
fühlten sich als unverwundbar und pflegten insbesondere die Tradition
des Faustkampfes. Von den Fremden wurden sie daher »Boxer« genannt
(siehe Beitrag Iwo Amelung, Gegen die ausländischen
Barbaren: Die »Boxer« und ihr Mythos).
Ab April 1900 kam es zu Aufrufen der »Boxer« gegen die Fremden und
zu Übergriffen auf christliche Wohnstätten und Kirchen sowie auf
Bahnlinien. Die »Boxer«-Bewegung entwickelte sich zum »Boxer«-Aufstand,
in dessen Verlauf viele tausende Chinesen christlichen Glaubens
und mehrere hundert Ausländer ermordet wurden. Der kaiserliche Hof,
der möglicherweise zu Beginn des Jahres 1900 eine umfangreiche Militäraktion
gegen die Fremden in Erwägung gezogen hatte, duldete sie auch schon
wegen der Machtfrage und erkannte sie zeitweise an. Teile der kaiserlichen
Truppen unterstützten sie nach anfänglicher Gegnerschaft aktiv.
Allerdings vertrieb Schantungs neuer Gouverneur Yuan Shikai die
Aufständischen, so daß sich die Bewegung im Mai des Jahres 1900
in den Großraum Peking verlagerte. Die ausländischen Gesandten in
der Hauptstadt fühlten sich dadurch zunehmend bedroht und forderten
beim ältesten Seeoffizier der vor der chinesischen Küste liegenden
alliierten Geschwader, dem britischen Vizeadmiral Edward Seymour,
Soldaten an, die die Gesandtschaftswachen verstärken sollten. Dafür
gab es allerdings keine internationale Rechtsgrundlage. Etwa 300
Soldaten, darunter 51 aus Tsingtau, erreichten Peking, bevor die
Bahnlinie zwischen Tientsin und der Hauptstadt von den »Boxern«
unterbrochen wurde. Das Hauptkontingent der über 2000 alliierten
Soldaten, darunter auch deutsche Soldaten des Ostasiatischen Geschwaders,
verblieb in Kampfhandlungen mit »Boxern«, unerwarteterweise auch
mit regulären Streitkräften, verstrickt. Aufgrund der Unruhesituation
flüchteten die in den ländlichen Gebieten Nordchinas tätigen Ausländer
in die Großstädte Peking und Tientsin.
Mitte Juni 1900 spitzten sich die Ereignisse weiter zu, als zum
einen die »Boxer« die Hauptstadt erreichten und es dort zu Übergriffen
auf Fremde und Kirchen kam und zum anderen die ausländischen Mächte
vor der Küste bei Taku Kriegsschiffe zusammenzogen, um eine Befreiungs-
und Strafaktion durchzuführen. Schiffe des deutschen Ostasiatischen
Geschwaders und Soldaten aus Tsingtau waren dabei im Einsatz. Die
Alliierten besetzten am 17. Juni 1900 die strategisch wichtigen
Forts von Taku, wobei das deutsche Kanonenboot »Iltis« (das Nachfolgeschiff
der vor Schantung 1896 untergegangenen »Iltis«) unter Kapitän Lans
im Zentrum der chinesischen Abwehr operierte, wofür es später die
Auszeichnung mit dem Orden Pour le Mérite gab.
Aufgrund der Nachricht
von der chinesischen Niederlage bei Taku gewann die ausländerkritische
Fraktion am Hof an Einfluß und erreichte die Zustimmung der Kaiserinwitwe
Cixi, alle ausländischen Diplomaten aus Peking auszuweisen. Der
deutsche Gesandte Clemens Freiherr von Ketteler erlag am Folgetag
dem Attentat eines Feldwebels der chinesischen Armee, als er sich
auf dem Weg in das Auswärtige Amt (Tsungli Yamen) befand. China
erklärte sich am 20. Juni zu den acht Staaten, deren Soldaten auf
chinesischem Boden im Einsatz waren, quasi im Kriegszustand, womit
eine 55tägige Belagerung und Beschießung des Gesandtschaftsviertels
begann. 3300 Personen, insbesondere Diplomaten, Soldaten, geflüchtete
christliche Chinesen, standen den etwa 25000 »Boxern« und regulären
chinesischen Soldaten gegenüber. Der Aufstand gegen die Fremden
hatte sich damit zum »Boxer«-Krieg ausgeweitet. Die Seymour-Expedition
befand sich derweil auf dem Rückzug nach Tientsin und lief Gefahr,
aufgerieben zu werden. Die Zahl der Verluste war hoch. In dieser
für die alliierten Soldaten seit langem erstmals kritischen Situation
ist es am 22. Juni 1900 vor der Erstürmung eines Arsenals zu der
in Deutschland später mythisierten Äußerung Seymours »The Germans
to the Front« gekommen. Das gleichbetitelte Gemälde von Carl Röchling,
das deutsche Soldaten kampfesmutig in China zeigt, galt als Ikone
deutscher Historienmalerei zur Kolonialgeschichte und fand in unzähligen
Nachbildungen und Abdrucken weite Verbreitung.
Auch die Millionenstadt Tientsin wurde von »Boxern« und regulären
chinesischen Streitkräften beschossen. 2700 alliierte Soldaten,
überwiegend Russen, versuchten, die Stadt zu halten. Erst nach dem
Eintreffen weiterer 2400 alliierter Soldaten Ende Juni gelang es
ihnen, die Ausländerviertel Tientsins unter Kontrolle zu bringen.
Der chinesische Druck auf Tientsin wurde drei Wochen später endgültig
gebrochen, als die Zahl der alliierten Soldaten auf über 12000 Mann
angestiegen war.
Das Deutsche Reich sah in den »chinesischen Wirren« eine Chance,
seine neu errungene Machtposition in Ostasien zu demonstrieren.
Kaiser Wilhelm II. forderte sofort nach Kettelers Ermordung eine
internationale Mobilmachung und setzte nach intensiven diplomatischen
Konsultationen durch, daß die alliierte Streitmacht unter dem Oberbefehl
von Alfred Graf von Waldersee stand, der im Deutschen Reich zeitweise
Chef des Generalstabes gewesen war. Chinas Reformpolitiker Li Hongzhang
versuchte noch, deutsche Truppeneinsätze im Konfliktgebiet zu verhindern,
doch lehnte Wilhelm II. ab. Gegenüber dem Auswärtigen Amt forderte
er sogar, Peking dem Erdboden gleichzumachen. Nachdem ein Sensationsbericht
der britischen »Daily Mail« vom 29. Juni den Eindruck vermittelt
hatte, alle Gesandten in Peking seien ermordet worden, sprach Wilhelm
II. am 2. Juli 1900 in Wilhelmshaven bei der Verabschiedung des
Marine-Expeditionskorps (2500 Soldaten) nach China erstmals von
Rache gegenüber den Chinesen. Diese Sprache fand ihren Höhepunkt
in der sogenannten Hunnenrede vom 27. Juli 1900, als der Kaiser
die von Bremerhaven nach China abreisenden Soldaten des Ostasiatischen
Expeditionskorps aufforderte: »Kommt ihr vor den Feind, so wird
er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht.
… Wie vor tausend Jahren die Hunnen …«
Die Großmächte beorderten derweil in den Weltmeeren und anderen
Kolonien operierende Kriegsschiffe an die chinesische Küste. Anfang
August 1900 war die alliierte Streitmacht im Raum Taku - die auf
60000 bis 90000 Mann geplant war - bereits auf etwa 18000 Soldaten
angewachsen. Die knapp 20000 deutschen Soldaten des Ostasiatischen
Expeditionskorps unter Waldersee, die in acht Staffeln auf 18 Schiffen
nach China transportiert wurden, waren wie auch Verbände anderer
Staaten entweder noch auf hoher See oder noch gar nicht ausgelaufen,
als am 4. August 1900 der Marsch auf Peking begann und die Stadt
am 14. August erobert wurde. Japaner, Russen und Briten hatten dabei
die größten Kontingente gestellt. Das deutsche Kontigent gehörte
zu den kleinsten Einheiten. Der chinesische Kaiserhof war fünf Tage
zuvor in den Westen Chinas geflüchtet. Von dort versuchte die Kaiserinwitwe
Cixi, über ihre Unterhändler in Peking Einfluß auf die Friedensverhandlungen
zu nehmen. Als die alliierten Truppen am 28. August 1900 in die
Verbotene Stadt einzogen, um ihren Sieg zu demonstrieren, nahmen
daran auch deutsche Soldaten des vorerst dem Ostasiatischen Geschwader
unterstellten 2500 Mann starken Marine-Expeditionskorps teil, die
kurz zuvor in China eingetroffen waren. Vom eroberten Peking aus
führten die alliierten Truppen - auch deutsche - im September 1900
Strafexpeditionen in die »Boxer«-Zentren der Umgebung durch. In
der Mandschurei bekämpften russische Truppen dortige »Boxer«-Verbände.
Am 17. Oktober 1900 bezog Generalfeldmarschall von Waldersee in
Peking das alliierte Hauptquartier. Derweil besetzten die internationalen
Verbände mehrere chinesische Häfen, um dort ihren Nachschub in den
Wintermonaten anlanden zu können.
Der endgültige Friedensschluß erfolgte erst am 7. September 1901,
als das »Boxer«-Protokoll unterschrieben wurde, nachdem man das
Kriegsende bereits im Januar 1901 besiegelt hatte. Zu den vielen
Auflagen, die China abverlangt wurden, gehörte die Sühnemission
eines Mitgliedes des chinesischen Kaiserhauses nach Deutschland.
Bereits im September des Jahres 1901 weilte Prinz Chun (Tschun),
ein Bruder des chinesischen Kaisers, mit einer Delegation in Potsdam
und wurde im Neuen Palais von Wilhelm II. zur Entgegennahme einer
Entschuldigung für die Ermordung des deutschen Gesandten empfangen.
Geschenke des chinesischen Kaiserhauses verblieben im Deutschen
Reich. Dem Prinzen begegnete man nach dessen Potsdamaufenthalt mit
viel Aufmerksamkeit (siehe Beitrag Herbert
Butz, Kniefall und Geschenke: Die Sühnemission des Prinzen Chun
in Deutschland).
Bevor der »Boxer«-Krieg vertraglich beendet worden war, hatten deutsche
Soldaten militärisch in Schantung eingegriffen und im Oktober 1900
die Stadt Kaumi besetzt. Sie zerstörten mehrere Dörfer in der Umgebung,
in denen Widerstand gegen den Eisenbahnbau vermutet wurde und töteten
mehrere hundert Chinesen. Außerdem hatten sich deutsche Soldaten
zwischen Oktober 1900 und Mai 1901 an umfangreichen alliierten »Strafexpeditionen«
gegen Dörfer in den »Boxer«-Zentren Nordchinas beteiligt, um jegliche
Widerstände zu ersticken und die Friedensverhandlungen zu beeinflussen.
Die Kaiserinwitwe Cixi hatte dem »Boxer«-Protokoll zustimmen können,
weil sich die Alliierten untereinander im Vertragswege auf den Grundsatz
der »Open-Door-Politik« verständigt und keine weiteren Pachtgebiete
gefordert hatten und auch das politische System Chinas nicht antasteten.
Sie kehrte 1902 unter pompösem Protokoll nach Peking zurück.
Die »Boxer«-Bewegung ist zwar in der Provinz Schantung entstanden,
hat aber die Stadt Tsingtau im Sinne von Kampfhandlungen nie direkt
erfaßt, so daß auf deutscher Seite nicht selten die Meinung vertreten
worden ist, beides hätte miteinander nichts zu tun gehabt und die
»Boxer«-Unruhen wären auch ohne ein deutsches Pachtgebiet in China
ausgebrochen. Schon Reichskanzler von Bülow hatte in seiner Rede
zur China-Vorlage vor dem Deutschen Reichstag am 19. November 1900
jeden Zusammenhang zwischen der Pachtgebietsabtretung und dem »Boxer«-Aufstand
bestritten. Andererseits muß den Deutschen für ihr Verhalten im
Jahre 1898 aber durchaus eine zentrale Rolle bei der Zuspitzung
der Lage im Land zugewiesen werden, wofür die gewalttätigen Konflikte
in der Provinz Schantung in den Jahren 1898/99 durchaus Indizien
sind. Der Einsatz deutscher Soldaten im Gebiet der Schantung-Eisenbahn
während des »Boxer«-Krieges und die Nutzung des Tsingtauer Hafens
durch Schiffe des Ostasiatischen Geschwaders und zum Teil auch des
Ostasiatischen Expeditionskorps weisen darüber hinaus das deutsche
Pacht- und Interessensgebiet in China durchaus als Kriegsschauplatz
aus, wenn auch nicht von zentraler Bedeutung.
Das deutsche Militäraufgebot zur Niederschlagung des »Boxer«-Aufstandes
war das größte unter den internationalen Kontingenten gewesen. Dies
mußten die Verbündeten durchaus auch ihnen gegenüber als Machtdemonstration
empfunden haben.
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