|
3. Die imperialistischen
Staaten im Reich der Mitte
Aus der Sicht der Großmächte des 19. Jahrhunderts galt China als eine
für den freien Handel noch nicht erschlossene Region, die es in ihr
Expansionssystem einzubinden galt.
Auf die anfänglich eher begrenzten Handelsmöglichkeiten mit China
durch Kaufleute und Handelsgesellschaften aus verschiedenen Ländern
- auch deutsche waren darunter (siehe Beitrag
Bernd Eberstein, Kaufleute, Konsuln, Kapitäne: Frühe deutsche Wirtschaftsinteressen
in China) - folgte ab den 1840er Jahren die gewaltsame Durchsetzung
freihändlerischer Interessen der Westmächte. Der Druck auf China verstärkte
sich im Laufe der Jahrzehnte und fand seinen Höhepunkt am Ende des
19. Jahrhunderts, als die Industriestaaten chinesische Territorien
pachteten, um somit vorteilhafte Bedingungen für Investitionen zu
schaffen. Die Politik der »Öffnung« Chinas, die in erzwungenen »ungleichen«
Verträgen mit über 20 Staaten ihren Niederschlag fand, brachte den
Mächten folgende Vorteile:
- Einrichtung ausländischer Niederlassungen in chinesischen
Städten und diplomatischer Vertretungen in der Hauptstadt sowie Überlassung
von Konzessionen und Pachtgebieten mit fremder Rechtshoheit
- Zugeständnisse an ausländische Bahn- und Bergbaugesellschaften
- Einschränkung des chinesischen Zollsystems zur Erleichterung
des Absatzes ausländischer Waren
- Freizügigkeit ausländischer Schiffe in chinesischen Gewässern
- Unterstellung der Ausländer unter ihr jeweiliges Heimatrecht
- Sonderrechte für christliche Missionen im gesamten Land
Anders als die Sicherung von Hafenstädten durch die Mächte bzw. deren
Handelskompanien beim Aufbau ihrer weltweiten Handelsnetze, aber auch
anders als die Schaffung flächengroßer Kolonien etwa bei der Aufteilung
Afrikas durch die untereinander konkurrierenden imperialistischen
Staaten, entsprach die Begrenzung der chinesischen Souveränität eher
einem halbkolonialen Zustand. Bei dieser Ausprägung informeller Interessenssicherung
dominierte die Fremdbestimmung, gegen die sich die chinesische Politik
wehrte, eine Totalbeherrschung des Landes lag aber nicht vor. Allerdings
entsprachen die räumlich eng begrenzten europäischen Herrschaftsenklaven
wie das britische Hongkong, das russische Dalni oder das deutsche
Tsingtau eher dem Typus der Stützpunktkolonien mit eigenem Rechtssystem.
Das chinesische Kaiserreich war auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit
mit dem Westen gar nicht angewiesen, da es sich als autark verstand.
Im Bewußtsein des Reiches der Mitte hatten die Europäer im frühen
19. Jahrhundert eine den tributpflichtigen Randstaaten Chinas vergleichbare
periphere Bedeutung. Um so mehr schockierte deren militärische Stärke
die Qing-Dynastie (1644-1911) und trug zu ihrem Untergang im frühen
20. Jahrhundert bei.
Eingeleitet wurde die Politik der Souveränitätsbegrenzung Chinas von
der größten Industriemacht des 19. Jahrhunderts, nämlich Großbritannien,
das sich nach dem Verlust seiner Siedlerkolonien in Nordamerika auf
den Aufbau eines weltweiten Stützpunktsystems konzentrierte. Die britische
East India Company handelte - über Guangzhou (Kanton), den bis dahin
einzigen für Ausländer nutzbaren Hafen Chinas - mit preiswerten europäischen
Gebrauchsgütern und mit Waren aus Indien. In China wurden überwiegend
Rohseide, Tee, Gewürze und Porzellan gekauft. Britische Händler sahen
im Opiumhandel das lukrativste Betätigungsfeld, doch verbot die chinesische
Regierung die Einfuhren aus Indien, weil die Bezahlung durch Edelmetalle
zu Handelsbilanzproblemen führte und das Opium Teile der Bevölkerung
abhängig machte. Da es den britischen Händlern durch Bestechung chinesischer
Beamter dennoch gelang, das Opium abzusetzen, ließ Chinas Regierung
1839 illegale Opiumvorräte in Kanton (20000 Kisten) vernichten. Großbritannien
sandte - nach einem knappen Votum des Parlaments in London - Kriegsschiffe,
blockierte den Hafen von Kanton und ging militärisch gegen chinesische
Küstenbefestigungen vor. Der Vertrag von Nanjing (Nanking) beendete
diesen »Ersten Opiumkrieg« zu Lasten Chinas (29. August 1842). Großbritannien
setzte darin und in Folgeabkommen die Abtretung der Insel Hongkong
auf ewig durch, errichtete ein Zollsystem und löste das chinesische
Handelsmonopol auf. Vier weitere chinesische Hafenstädte wurden für
den internationalen Handel zugänglich: Fuzhou, Xiamen (Amoy), Shanghai
und Ningbo (Ningpo). Dort betreuten fortan britische Konsuln britische
Bürger nach britischem Recht. Darüber hinaus hatte China Kriegsentschädigungen
zu zahlen.
Infolge dieser britisch-chinesischen Verträge setzten auch die USA
und Frankreich Handelserleichterungen zu ihren Gunsten und zu Lasten
Chinas durch (1844). Durch die Meistbegünstigung, die China einräumen
mußte, erhielt das jeweilige Vertragsland in Zukunft auch alle Zugeständnisse,
die China einem dritten Staat gewährte.
Jahre später nahmen Großbritannien und Frankreich die chinesische
Durchsuchung eines englischen Schiffes zum Anlaß, erneut militärisch
gegen China vorzugehen. Im »Zweiten Opiumkrieg« (1857-1860) besetzten
britische und französische Truppen zuerst Kanton (1857) und die Forts
bei Dagu (Taku) (1858), die im weitesten Sinne dem Schutze der Städte
Tianjin (Tientsin) und Peking dienten. Dieses militärische Vorgehen
war zuvor mit den USA und mit Rußland abgestimmt worden. Im Vertrag
von Tientsin (1858) mußte China die Öffnung weiterer elf Hafenstädte
für den internationalen Handel zulassen. England und Frankreich erwarben
Schiffahrtsrechte auf dem Changjiang (Yangzi) und erpreßten Kriegsentschädigungen
sowie die Festlegung von Außen- und Binnenzöllen. Rußland und Amerika
setzten ähnliche Ansprüche für sich durch.
Die in Tientsin festgeschriebene Arbeitsaufnahme diplomatischer Vertretungen
in der Hauptstadt führte 1859 erneut zum Konflikt, weil sich die chinesische
Regierung dagegen sträubte. Daraufhin besetzten Briten und Franzosen
Peking und zerstörten den Sommerpalast, die kaiserliche Residenz westlich
der Hauptstadt. So unter Druck gesetzt, konnten sich die Chinesen
in einem weiteren Vertrag (1860) gegen die bislang diktierten und
neuen Forderungen nicht mehr wehren. Großbritannien sicherte sich
die der Insel Hongkong gegenüberliegende Halbinsel Jiulong (Kowloon).
Mit den Verträgen, die den »Zweiten Opiumkrieg« beendeten, erhielten
christliche Missionen Bewegungs- und Handlungsfreiheit in China. Die
Zahl der Missionare stieg bis Mitte der 1890er Jahre auf etwa 2500,
die der zum Christentum Konvertierten auf ungefähr 600000 (siehe
Beitrag Erling von Mende, Für Gott und Vaterland? Die christlichen
Missionen).
Während dieser Jahre hatte Rußland in Zentral- und Ostasien sein Kolonialreich
ausgebildet. Rußlands Einfluß hatte zeitweise sogar bis nach Nordamerika
gereicht. Zwischen 1841 und 1881 gliederte sich das Zarenreich Gebiete
im Westen Chinas ein. In Ostasien besetzten zaristische Truppen das
Amurgebiet (1858), die mandschurische Küste sowie Sachalin und gründeten
die Städte Chabarowsk (1858) und Wladiwostok (1860). China mußte 1860
die russische Präsenz am Pazifik vertraglich bestätigen. Die Klärung
der Grenzfragen zwischen beiden Ländern zog sich allerdings bis in
das Jahr 1881 hin.
Nach der Beendigung des »Zweiten Opiumkrieges« bemühte sich auch Preußen
um stärkeren Einfluß in China, nicht zuletzt, weil es sich durch die
jüngsten Handelsverträge der anderen Industriestaaten mit China benachteiligt
fühlte. Schon 1853 hatte der handelspolitische Vertreter Preußens
und Sachsens in Kanton, der Kaufmann und Konsul Richard von Carlowitz,
militärische deutsche Präsenz in China gefordert. Aber erst 1860/61,
vor dem Hintergrund einer Weltwirtschaftskrise und von Veränderungen
in der preußischen Regierung, wurde eine Gesandtschaft unter Leitung
des Grafen Friedrich zu Eulenburg nach Japan, China und Siam (Thailand)
entsandt. Die Verhandlungen zwischen den preußischen und chinesischen
Diplomaten in Tientsin zogen sich über viele Monate hin. Obwohl die
preußische Gesandtschaft militärisch begleitet wurde, konnte die junge
Marine - im Gegensatz zu den Streitkräften der anderen Westmächte
- keinerlei Druck ausüben. Letztlich überwand die preußische Delegation
auch ohne Militäraktionen den Widerwillen der chinesischen Verhandlungsdelegation,
was zum »Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag« von Tientsin
(1861) führte. Graf zu Eulenburg zeichnete dabei nicht nur für Preußen,
sondern für den Deutschen Zollverein, die beiden Mecklenburgs und
die Hansestädte. Den deutschen Staaten wurden darin ähnliche Vorteile
eingeräumt, wie sie die anderen Großmächte bereits zuvor durchgesetzt
hatten. Preußen dokumentierte mit diesem Vorgehen zugleich seinen
Führungsanspruch in der Deutschen Frage - die den chinesischen Verhandlungspartnern
sicherlich nicht sehr vertraut gewesen sein dürfte - und setzte für
sich das Recht durch, in Peking diplomatisch vertreten zu sein. Dem
Auftrag aus Berlin, in der Stützpunktfrage gegebenenfalls auf Taiwan
aktiv zu werden, folgte Eulenburg in Anbetracht der langen Verhandlungen
jedoch nicht. Allerdings wurde die Stützpunktfrage von nun an immer
wieder erneuert. Österreich-Ungarn schloß 1869 ebenfalls einen Handelsvertrag
mit China. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten deutschen Kriegsschiffe
in die Gewässer Ostasiens verlegt.
Als Folge der erzwungenen Öffnung des Landes ließen sich bis zur Mitte
der 1890er Jahre 361 britische, 92 deutsche, je 31 amerikanische und
französische sowie 13 russische Firmen in China nieder. Großbritanniens
Handelsvolumen machte zwei Drittel des chinesischen Außenhandels aus,
das Deutsche Reich wurde mit einem Anteil von sieben Prozent zur zweitwichtigsten
Handelsnation in China.
Fragt man nach den Gründen, warum es den Westmächten in relativ kurzer
Zeit gelang, ihre Handelsinteressen derart massiv durchzusetzen, so
sind es neben der militärtechnischen Rückständigkeit Chinas gegenüber
den Industriestaaten die internen Probleme des Landes gewesen. Nahezu
zeitgleich mit dem Auftreten der Westmächte breitete sich in Zentral-
und Südostchina der Taiping-Aufstand (1850-1864) aus, an dem über
100 Millionen Menschen beteiligt waren. Die revolutionäre sowie auch
intensiv religiöse Bewegung führte zur Bildung eines »puritanischen«
Gemeinwesens mit der Hauptstadt Nanking. Die Aufhebung des Privatbesitzes,
die Gleichstellung von Frauen und Männern und eine Lebensführung nach
streng moralischen Grundsätzen gehörten ebenso wie die Abschaffung
des mandschurischen Kaiserhauses in Peking zu den Forderungen der
Aufständischen.
Da sich sowohl die Qing-Dynastie als auch der grundbesitzende Landadel
(Gentry) - letzterer wegen der Forderung nach Aufhebung des Privatbesitzes
an Boden - durch die Taiping-Bewegung bedroht sahen, bildeten die
Truppen der Westmächte, die ab 1860 zum Einsatz kamen, eine willkommene
Hilfe im Kampf gegen die Aufständischen.
Daß es überhaupt zu einer so gewaltigen Protestbewegung kommen konnte,
hatte viele Ursachen. Zu ihnen zählten die Versorgungsprobleme infolge
der explosionsartigen Entwicklung der Bevölkerungszahlen (1740 : 143
Millionen, 1835 : 401 Millionen), aber auch die vom Kaiser legitimierte
Steuereintreibung der Beamtenschaft, die mehr und mehr außer Kontrolle
geraten war. Bei der Lösung von Problemen erwies sich die Zentralgewalt
als schwach; Proteste gegen Not oder Herrschaft konnte sie immer schwerer
unter Kontrolle bringen. In Konfliktsituationen kam es daher mehr
und mehr zur Verlagerung der militärischen Belastungen auf die regionale
und lokale Ebene. Die Gentry erwies sich dabei als wichtigste Stütze
des politischen Systems, während die kaiserliche Verwaltungsklasse,
das Mandariat, gerade in Krisensituationen immer weniger handlungsfähig
war.
Nach der erfolgten Niederschlagung des Taiping-Aufstandes durch Truppen,
die im wesentlichen von der Gentry aufgestellt waren, und bei der
über 20 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben sollen, begann
die chinesische Regierung, die Westmächte zur Revidierung der ungleichen
Verträge zu bewegen. Der Versuch der chinesischen Diplomaten in Europa
und in Amerika, »Barbaren gegen Barbaren«, also die Mächte untereinander
auszuspielen, scheiterte jedoch.
Allerdings wuchs in China die Einsicht, das Land militärisch stärken
zu müssen und gesellschaftliche Reformen nach westlichem Vorbild,
wenn auch in begrenztem Maße, zuzulassen. Unter dem Großsekretär Li
Hongzhang wurde der Kauf von Waffen in England und Deutschland forciert,
ebenso der Erwerb von Kriegsschiffen. Davon profitierten insbesondere
die Firma Krupp und die Vulcan-Werft, die 40 Prozent der Tonnage aller
Auslandsbestellungen lieferte. Marinebasen wurden angelegt, der Bau
von Fabriken gefördert. Im gleichen Zuge wurden neue Behörden eingerichtet,
die Verwaltung reformiert und die Wissenschaft gefördert. Auslandsaufenthalte
für Studenten und Soldaten wurden ermöglicht. Allerdings reichten
die Modernisierungseffekte dieser Jahre noch nicht aus, der nächsten
militärischen Herausforderung standzuhalten.
Mit Japan wuchs China ein weiterer expansiver Gegner heran. Obwohl
das Land selbst erst im Jahre 1854 für den internationalen Handel
»geöffnet« worden war (Vertrag von Kanagawa) und ebenfalls »ungleiche
Verträge« hatte akzeptieren müssen, doch von Besetzungen durch fremde
Mächte verschont geblieben war, erzwang Japan bereits 1871 einen Handelsvertrag
mit China und tat es damit den Westmächten gleich. Japan hatte sich
sehr schnell nach westlichen Maßstäben modernisiert, nicht zuletzt
deshalb, weil das schwache Shogunat entmachtet und das zu Reformen
bereite Kaiserhaus gestärkt worden waren (Meiji-Reformen). In weniger
als 20 Jahren entwickelte es bereits imperialistisches Verhalten,
intervenierte 1874 auf Taiwan und drängte zunehmend den chinesischen
Einfluß auf der koreanischen Halbinsel zurück. Nachdem es China nicht
gelungen war, die Westmächte, die eigene Wirtschaftsinteressen in
Korea verfolgten, gegen die japanischen Interessen in Korea zu gewinnen,
löste Japan durch die Versenkung eines chinesischen Nachschubschiffes
(1. August 1894) einen Krieg gegen China aus. Recht zügig brachte
es den chinesischen Streitkräften militärische Niederlagen bei und
setzte im Friedensvertrag von Shimonoseki (17. April 1895) Kriegsentschädigungen,
die Abtretung Taiwans an Japan und ein von China unabhängiges Korea
durch. Zehn Jahre später wurde Korea japanische Kolonie.
Doch Japan setzte China nicht nur an dessen Randbereichen unter Druck,
sondern erzwang auch die Öffnung von vier chinesischen Hafenstädten
für japanische Investitionen. Gegen die Überlassung der von japanischen
Truppen besetzten mandschurischen Halbinsel Liaodong (Liaotung) am
Gelben Meer intervenierten allerdings Rußland, Frankreich und Deutschland,
so daß Japan auf diese strategisch bedeutende Halbinsel nachträglich
verzichten mußte. Japan fühlte sich dabei insbesondere durch das deutsche
Auftreten brüskiert.
Das Deutsche Reich trug in dieser Phase erneuter Schwächung Chinas
immer intensiver den Wunsch nach einem Stützpunkt, der an der Kiautschou-Bucht
liegen sollte, vor. Es erwartete dieses Zugeständnis quasi als Gegenleistung
für den 1895 gewährten diplomatischen Druck auf Japan in der Liaotung-Frage.
China lehnte diese Forderung weiterhin ab, ließ aber deutsche Handelsniederlassungen
in Tientsin und Hankou (heute Wuhan) zu. Das deutsche Interesse an
der Bucht von Kiautschou hatte der Geograph Ferdinand Freiherr von
Richthofen geweckt, der bereits der preußischen Gesandtschaft von
1860/61 angehört und auf sieben Reisen in den Jahren 1868 bis 1872
insgesamt 13 der 18 Provinzen Chinas kennengelernt hatte. Seine Exkursionsberichte
aus den Jahren 1877 bis 1912 und seine Atlanten über China haben neue
Kenntnisse über dieses Land vermittelt (siehe
Beitrag Lothar Zögner, Ferdinand von Richthofen - Neue Sicht auf ein
altes Land).
Richthofen, der zwar die Kiautschou-Bucht persönlich nicht in Augenschein
genommen hatte, aber Schantung kannte, empfahl die Bucht für die Anlage
eines Hafens und einer Kolonialstadt. Unter Abwägung alternativer
Standorte wies er auf die Gunstfaktoren der Region hin: Die ganzjährig
eisfreie Bucht schien ihm ein guter Ausgangspunkt für Infrastrukturmaßnahmen
zur Erschließung des Hinterlandes zu sein. Als Voraussetzung für den
wirtschaftlichen Erfolg einer deutschen Kolonie an der Kiautschou-Bucht
nannte von Richthofen die Anlage einer Bahntrasse durch die Halbinsel
Schantung, um Anschluß an die wichtigsten Hauptverkehrswege Chinas
zu gewinnen. Dabei riet er, auch die kohleführenden Gebirgszüge Schantungs
um den Industrieort Boshan (Poshan) durch die Bahn zu erfassen, um
der Selbstversorgung der Kolonie und Industrieansiedlungen in der
Region eine Basis zu geben. Auch mußten gegebenenfalls deutsche Schiffe
versorgt werden.
Der alten chinesischen Handelsstadt Kiautschou bzw. deren Hafen Tabutou
in der Kiautschou-Bucht wurden wegen der abseitigen Lage und der Versandungssituation
keinerlei Chancen eingeräumt, Ansatzpunkt für deutsche Investitionen
zu werden.
Kaiser Wilhelm II. soll auch aufgrund der Berichte Richthofens die
Kiautschou-Bucht favorisiert haben. Zudem ließen sich andere Standorte
an der chinesischen Küste, insbesondere das wirtschaftlich viel aussichtsreichere
Yangzi-Tal, aus politischen Gründen nicht realisieren. Allerdings
war die Kiautschou-Bucht zu diesem Zeitpunkt kein militärisches Niemandsland,
denn die chinesische Regierung hatte dort seit 1892 im Zuge ihrer
Küstensicherungsmaßnahmen Militär stationieren lassen. Die Stadt Qingdao
wertet dieses Datum heute als Stadtgründung.
Im Sommer 1896 besuchte der kurz zuvor zum Chef des ostasiatischen
Kreuzergeschwaders ernannte Alfred Tirpitz die Kiautschou-Bucht, um
sie in Augenschein zu nehmen (siehe Beitrag Michael
Salewski, Die preußische und die Kaiserliche Marine in den ostasiatischen
Gewässern: Das militärische Interesse an Ostasien). Tirpitz empfahl,
sich auf die Bucht zu konzentrieren, und stützte sich dabei auch auf
die Argumente Richthofens. Der Kaiser stimmte zu und ließ militärstrategische
Pläne für eine Besetzung ausarbeiten. 1896 war auch das Jahr, in dem
das deutsche Kanonenboot »Iltis« bei einer Fahrt vor der Halbinsel
Schantung in einen Sturm geriet und unterging. Dieses Ereignis ist
in der Folgezeit mythisiert worden, was auch in dem 1898 errichteten
Iltis-Denkmal in Shanghai zum Ausdruck kam.
Nachdem ein deutsches Hafenbaugutachten von 1897 bestätigt hatte,
daß sich unmittelbar hinter der Einfahrt in die Kiautschou-Bucht die
Anlage eines Hafens lohnen würde, wurde die Absicht der deutschen
Regierung auch in China immer offensichtlicher. Die deutsche Diplomatie
bemühte sich darum, Englands und Rußlands Zustimmung für eine militärische
Besetzung zu gewinnen. Während Großbritannien die deutschen Absichten
befürwortete, versuchten Teile der russischen Regierung, eigene Nutzungsrechte
an der Kiautschou-Bucht für die Überwinterung der russischen Flotte
geltend zu machen.
So kam die Ermordung zweier deutscher Missionare der Steyler Mission
am 1. November 1897 in Südschantung (»Zwischenfall von Juye«) durch
Mitglieder einer chinesischen Geheimsekte den deutschen Stützpunktinteressen
nicht ungelegen. In den Jahrzehnten zuvor wäre es Frankreichs Aufgabe
gewesen, als Schutzmacht aller katholischen Missionare gegenüber China
vorstellig zu werden. Jedoch hatte das Deutsche Reich die Nationalisierung
des Missionsschutzes forciert und die seit 1881 in Süd-Schantung wirkende
Steyler Mission 1890 unter Reichsschutz gestellt. Kaiser Wilhelm II.
nahm die Mordfälle zum Anlaß, die Kiautschou-Bucht durch drei in Wusung
bei Shanghai stationierte Schiffe des Ostasiatischen Geschwaders unter
Konteradmiral Otto von Diederichs, dem Amtsnachfolger von Tirpitz,
am 14. November 1897 besetzen zu lassen. Das chinesische Militär vor
Ort - um 2000 Mann - wurde ultimativ aufgefordert, den Stützpunkt
zu räumen. Die chinesischen Soldaten zogen sich zurück, ihr General
wurde in deutschen Gewahrsam genommen. 700 deutsche Seeleute gingen
an Land und bezogen die dortigen Baracken. Die Bevölkerung wurde vom
deutschen Militär über die Besetzung durch Aushang informiert.
Die Reaktionen der chinesischen Seite auf die militärische Besetzung
der Kiautschou-Bucht durch deutsche Truppen waren nicht einheitlich.
Zum Teil gab es heftige Empörung, so in der Presse und bei Reformern
wie Kang Youwei. Dieser rief zum Protest und Widerstand gegen die
Deutschen auf, was der Gouverneur der Provinz Shandong, Li Binheng,
unterstützte. Das Auswärtige Amt Chinas (Tsungli Yamen) lehnte anfänglich
jede Verhandlung mit deutschen Repräsentanten ab, weil es in der Festsetzung
des chinesischen Generals an der Kiautschou-Bucht einen Bruch des
Völkerrechts sah. Der Kaiserhof reagierte dem gegenüber eher zurückhaltend:
Prinz Gong und der Reformpolitiker Li Hongzhang sprachen sich gegen
eine militärische Auseinandersetzung mit deutschen Streitkräften aus,
da dies ihrer Meinung nach den Bestand des chinesischen Reiches hätte
gefährden können. Größere Erfolgsaussichten wurden statt dessen in
der Gewinnung von Bündnispartnern gesehen, um so auf das Deutsche
Reich einwirken zu können. Es gab auch Stimmen, die Deutschen an der
Kiautschou-Bucht als Gegengewicht zu Rußland und Großbritannien zu
dulden.
Die deutsche Politik war nicht daran interessiert, die Besetzung der
Bucht von Kiautschou nur als Faustpfand für eine noch auszuhandelnde
Sühneleistung für die ermordeten Missionare anzusehen, auch wenn dies
anfänglich zum Zwecke der Zeitgewinnung so erklärt worden war. Schon
Mitte November 1897 hatte sich der Kronrat auf eine dauernde Besetzung
festgelegt, und bereits im Dezember übermittelte Berlin der Gesandtschaft
in Peking den Entwurf eines Staatsvertrages über die Pacht des besetzten
Gebietes. Nachdem China keinen Bündnispartner gegen Deutschland hatte
finden können, willigte es notgedrungen in die Verhandlungen mit dem
Deutschen Reich ein, versuchte jedoch, Festlegungen zu vermeiden und
unterbreitete statt dessen Alternativen. Die deutsche Seite unterband
unter Androhung militärischer Gewalt jede Verhandlungsverzögerung,
so daß am 4. Januar 1898 der Vertragstext in Form eines Notenaustausches
gegenseitig bestätigt wurde. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt,
von Bülow, berichtete am 8. Februar 1898 dem Deutschen Reichstag über
dieses Ereignis. In der Folgezeit konzentrierten sich die Verhandlungen
auf die deutschen Wünsche, Bergbau- und Bahnbaukonzessionen in der
Provinz Schantung für deutsche Unternehmen festzuschreiben. Das Vertragswerk
wurde schließlich am 6. März 1898 in Peking unterzeichnet. Die Bewertungen
des erzwungenen, auf 99 Jahre befristeten chinesisch-deutschen Pachtvertrages
von Peking reichten von Nötigung und halbkolonialer Versklavung Chinas
bis hin zum Erfolg deutscher Diplomatie.
Das Pachtgebiet bestand aus einer etwa 550 qkm großen Landfläche und
einer ebenso großen Wasserfläche (Kiautschou-Bucht). Die Gebiete in
einem Umkreis von 50 km um die Kiautschou-Bucht wurden zur »neutralen
Zone« erklärt, in der die chinesischen Behörden keinerlei Maßnahmen,
wie etwa Truppenstationierungen, ohne das Einverständnis der deutschen
Behörden erlassen konnten. Die deutsche Seite erhielt ihrerseits das
Recht zur Flußregulierung und die Möglichkeit der militärischen Nutzung
(Durchgangsrecht). Das Pachtgebiet in China wurde auf kaiserliche
Verordnung vom 27. April 1898 zum Schutzgebiet bestimmt. Es war zuvor
verwaltungsmäßig dem Reichsmarineamt zugeordnet worden. Hierin unterschied
sich Kiautschou von allen anderen deutschen Kolonien. An der Spitze
der zivilen und militärischen Verwaltung standen Gouverneure, die
Marineoffiziere waren: Oskar Truppel (Februar bis April 1898), Carl
Rosendahl (April bis Oktober 1898), Paul Jaeschke (1899-1901), erneut
Oskar Truppel (1901-1911) und Alfred Meyer-Waldeck (1911-1914). Als
Beratungsorgane des Gouverneurs fungierten drei Vertreter der deutschen
Zivilgemeinde, ab 1907 ein Gouvernementsrat sowie ab 1902 ein Komitee
für chinesische Angelegenheiten.
Das deutsche Kaiserhaus stellte die neugewonnene deutsche Machtposition
in China durch einen Besuch des Bruders Kaiser Wilhelms II., des Prinzen
Heinrich von Preußen, heraus. Konteradmiral Prinz Heinrich war Befehlshaber
der 1897 gegründeten II. Kreuzerdivision, ab 1899 Geschwaderkommandant.
Er leitete quasi den Truppennachschub nach China und hielt sich von
1898 bis 1900 in Tsingtau, in den deutschen Niederlassungen anderer
chinesischer Städte, in Shanghai (Einweihung des Iltis-Denkmals) und
auch in Peking auf. Im Mai 1898 wurde er vom chinesischen Kaiser empfangen.
Das deutsche Vorgehen der Jahre 1897/98 an der Kiautschou-Bucht wurde
zum Vorbild für andere: Rußland hatte sich bereits 1896 von der chinesischen
Regierung Eisenbahnrechte durch die Mandschurei gesichert sowie ein
Jahr später das Recht zur Überwinterung der Schiffe seiner ostasiatischen
Flotte in Port Arthur. Infolge des deutschen Vorgehens schlossen Rußland
und China am 27. März 1898 einen auf 25 Jahre befristeten Pachtvertrag
über die Liaotung-Halbinsel im Gelben Meer, in dem China seinen Marinehafen
Port Arthur abtrat. Die Besatzungsmacht begann daraufhin mit den Planungen
der russischen Handelsstadt Dalian (russ. Dalni). Allerdings mußte
Rußland die Halbinsel sieben Jahre später, nach dem verlorenen Krieg
gegen Japan (1904/1905), dem Kriegssieger überlassen.
Großbritannien sicherte sich 1898 den Hafen von Weihaiwei an der Nordküste
Schantungs auf 25 Jahre und damit eine marinestrategische Gegenposition
zum russischen Port Arthur am Gelben Meer. Gleichzeitig versicherte
Großbritannien dem Deutschen Reich, den Hafen nicht in Konkurrenz
zum Kiautschou-Pachtgebiet ausbauen zu wollen. China wurde in einem
Pachtvertrag vom 9. Juli 1898 gezwungen, die New Territories als Erweiterung
der vor Hongkong liegenden Halbinsel Kowloon auf 99 Jahre an Großbritannien
abzutreten. Das Auslaufen dieses Vertrages war der eigentliche Anlaß,
Hongkong im Jahre 1997 an China zurückzugeben.
Außerdem mußte China im Herbst 1898 das Pachtgebiet Guangzhouwan in
Südchina für 99 Jahre Frankreich überlassen und drei südliche Provinzen
als französisches Interessengebiet bestätigen.
Gegenüber Japan hatte China bereits am 22. April 1898 erklären müssen,
daß es die der Insel Taiwan gegenüberliegende Küstenprovinz Fujian
keinem anderen Land abtreten würde. Italiens Forderung nach einem
Pachtgebiet konnte China erfolgreich abwehren.
Die USA verfolgten eine »Open-Door«-Politik und achteten 1898 darauf,
daß sich die Gebietsnahmen unter den Mächten ausgewogen gestalteten,
auch um die eigenen Interessen in der Mandschurei (Öl, Bahnbau) nicht
zu gefährden. Zu diesem Zeitpunkt war Amerika nicht in der Lage, in
China militärisch einzugreifen, da es im Spanisch-Amerikanischen Krieg
gebunden war. Mit den nahezu zeitgleich erfolgten Erwerbungen von
Hawaii, Guam, den Philippinen und Teilen von Samoa entwickelten sich
die Vereinigten Staaten allerdings rasch zu einer pazifischen Großmacht.
Die dauerhafte Besetzung chinesischen Territoriums durch fremde Mächte
im Jahr 1898 löste in der chinesischen Innenpolitik einen erneuten
Reformschub aus: Kaiser Guangxu erließ, vom Reformer Kang Youwei angeregt,
eine Vielzahl von Verordnungen, die den Staatshaushalt, das Bildungs-
und Wissenschaftssystem sowie das Pressewesen betrafen, ohne jedoch
das politische System anzutasten. Dennoch gingen diese Reformen dem
konservativen mandschurischen Adel am Kaiserhof zu weit. Die Kaiserinwitwe
Cixi, die ein halbes Jahrhundert lang die eigentliche Regentin des
Landes war, beendete diese »Hundert-Tage-Reformen« durch einen Staatsstreich,
indem sie den Kaiser bis zu dessen Tode im Jahre 1908 unter Hausarrest
stellte, die Reformen aufhob und deren Anhänger verfolgen ließ oder
in die Flucht trieb (siehe Beitrag Xia Baige,
Ein jahrtausendealtes System zerbricht: Chinas Reform- und Modernisierungsbemühungen
und der Untergang des Kaiserreiches). |
|
zurück
zur Übersicht |
|
|
|