Deutsches
Historisches
Museum
Der Kampf um das tägliche Brot -
Nahrungsmittelproteste im 19. Jahrhundert
Manfred Gailus, Seite 1 2 4
Rebellischer Überschwang in der großen Stadt

Die sogenannte Berliner "Kartoffelrevolution", die in Wirklichkeit eher eine "Brotrevolution" war, begann am Morgen des 21. April1847 mit gewöhnlichen Marktunruhen.13 Um die Mittagszeit griffen die Aktionen auf einzelne Straßen über. Zahlreiche Geschäfte, insbesondere Bäcker- und Schlachterläden, wurden von umherziehenden Volkshaufen angegriffen. Schlüsselszene war die Belagerung und Demolierung eines Bäckerladens in der Charlottenstraße, nachdem der dort ansässige Bäckermeister Blumberg einer Marktfrau, die wegen überhöhter Kartoffelpreise von einer empörten Volksmenge verfolgt worden war, Zuflucht gewährt hatte. Gegen Abend konzentrierten sich die Unruhen, inzwischen von einer nach Tausenden zählenden Menschenmenge getragen, auf Angriffe unterschiedlichster Orte des Reichtums, des Luxus und der Macht im Stadtzentrum: berühmte Konditoreien wie Kranzler und Spargnapani, mehrere Hotels, Oper und Schauspielhaus sowie das Palais des Kronprinzen. In einigen Straßen, besonders in der Friedrich- und Wilhelmstraße, wurden die Gaslaternen zertrümmert. Polizeikräfte und Militär hatten sich als unfähig erwiesen, dieser Eskalation Einhalt zu gebieten. Am darauffolgenden Tag wurden die Ladenerstürmungen in mehreren Stadtteilen fortgesetzt. Erst gegen Ende des zweiten Tages gelang es einem unter Leitung des Kronprinzen stehenden militärischen Sonderkommando, das die gesamte Stadt generalstabsmäßig besetzen ließ, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.
Mit Abstand am häufigsten wurden Bäckerläden angegriffen. Annähernd 30 Fälle sind bekannt. Im Nachhinein bezifferte das Bäckergewerk die Schäden auf 1376 Taler, was einem durchschnittlichen Verlust von knapp 50 Talern pro Laden entsprach. Das war eine beträchtliche Summe, die nahe legt, dass nicht allein einige Brote entwendet wurden. Vielmehr handelte es sich um eine generelle Strafaktion gegen das Bäckergewerbe, an der sich Tausende von Konsumenten beteiligten und in deren Verlauf Fenster, Türen, Mobiliar, Werkzeuge und Gerätschaften zerstört wurden. Wiederholt rissen die Angreifer Ladenschilder herunter, Symbole zünftigen Bäckerstolzes und relativen Wohlstands, und zerstörten sie demonstrativ.
Die Berliner Bäcker gehörten zu den wohlhabendsten Handwerkern der Stadt. Unter den Bedingungen des geltenden, vormarktwirtschaftlichen Brottaxensystems, das feste Preise bei variablen Gewichten für die Backwaren vorschrieb, war es verbreitete Praxis im Bäckergewerbe, durch Untergewicht oder Verarbeitung minderwertiger Rohstoffe Sondergewinne zu erwirtschaften. Ohne Zweifel resultierte der allgemeine Sturm auf die Bäckerläden nicht allein aus den aktuellen Bedrängnissen der Mangelkrise, sondern glich einer generellen Abrechnung für weitzurückreichende negative Erfahrungen beim täglichen Broteinkauf.

Angesichts der hohen Teilnehmerzahl ist es schwierig, exakte Angaben über die soziale Basis der Berliner Hungertumultanten zu machen. Vorliegende Daten von knapp 100 aktiv Beteiligten deuten darauf hin, dass "Arbeitsmänner" (ungelernte und unregelmäßig beschäftigte Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter) die stärkste Gruppe bildeten, daneben Handwerksgesellen aus den verarmten Massenhandwerken (Weber, Tischler, Schuhmacher). Von einer irgendwie koordinierten, disziplinierten Handlungsweise ist wenig zu bemerken; Ansätze zur "taxation populaire", einer Preisfestsetzung durch das Volk, sind ebenso wenig auszumachen. Vorrangig war das symbolische Bestrafen durch Demolieren. Backwaren, von vielen Bäckern in bedrohten Situationen unentgeltlich verteilt, wurden nur zum Teil nach Hause getragen. Ebenso häufig lagen sie zertreten auf der Straße. Anders als in der Kleinstadt Schwiebus, wo sowohl die Akteure sich untereinander gut kannten wie auch von ihren Gegenübern leicht identifiziert werden konnten, entfaltete sich im Schutz der großstädtischen Anonymität ein rebellischer Überschwang, den sich viele Beteiligte ohne größeres Risiko glaubten erlauben zu können. Ziel der Angriffe waren nicht allein Markthöker und Lebensmittelläden, auch ein Tabakladen, ein Porzellangeschäft, ein Uhrmacher und andere Kaufläden sowie öffentliche Gebäude wurden heimgesucht. Was als Rebellion auf Marktplätzen und vor Bäckerläden begann, war am Abend des 21. April im Begriff, in eine allgemeine Revolte gegen die Wohlhabenden und Mächtigen in der Stadt überzugehen.
Seit langem wussten die Machthabenden in den großen Haupt- und Residenzstädten um solche Gefahren. Daher waren Hungerrevolten in Metropolen wie London oder Paris im 18. Jahrhundert eher selten. Aus übergeordneten Erwägungen der Machtstabilität war die privilegierte Nahrungsversorgung der Machtzentren stets wichtige politische Maxime. In Berlin trugen gerade wesentliche Versäumnisse der (staatlichen) Obrigkeiten maßgeblich dazu bei, diese ausgedehnte Revolte in der Hauptstadt überhaupt zu ermöglichen. Dabei fehlte es weder an Finanzmitteln noch an Soldaten in der Stadt. Petitionen von Stadtverordneten sowie Anregungen des Bäckergewerks im Herbst 1846, angesichts einer drohenden Mangelkrise für zusätzliche Getreidelieferungen zu sorgen, wies Innenminister von Bodelschwingh arrogant zurück. Eine verspätet eingeleitete und dilettantisch durchgeführte staatliche Initiative, russischen Roggen zu importieren, brachte keinen Erfolg. Bemerkenswert unfähig erwiesen sich Polizei und Militär, indem sie den ausbrechenden Protest weder rechtzeitig wahrnahmen noch angemessen gegen ihn vorgingen. Überdies untersagte wiederum der Innenminister den kommunalen Behörden strikt, Bürgerwehren aufzustellen, da man hierin - zu Unrecht - einen höchst bedrohlichen Schritt in Richtung einer bürgerlichen Revolution sah.

Der Nahrungsmittelprotest des späten 18. und des 19. Jahrhunderts war keine sozialgeschichtliche Randerscheinung. Es waren zeitweilig Zehntausende, 1847 und 1848 wohl Hunderttausende, die sich in einer Fülle lokaler Selbsthilfeaktionen auf diese Weise artikulierten. Die Konflikte verweisen auf dauerhafte soziale Grundprobleme, die mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft sowie mit der Durchsetzung einer marktwirtschaftlich bestimmten, industriell-kapitalistischen Ordnung verknüpft waren. Man muss sich vor Augen halten, dass die potentiellen Trägerschichten von Hungerunruhen, jene Volksschichten, die an der Armutsgrenze oder darunter lebten, um die Jahrhundertmitte durchaus die Hälfte einer örtlichen Einwohnerschaft umfassen konnten. Sie repräsentierten jenen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rapide wachsenden unterständischen Bevölkerungsteil, der außerhalb einer vollwertigen agrarischen oder gewerblichen "Nahrung" (existenzsichernde Position) zu leben gezwungen war. Bestimmend für die dürftige Lebensweise war eine familienwirtschaftlich organisierte Erwerbs- und Überlebensgemeinschaft, die ihre spärlichen und unregelmäßigen Einkommen aus den unterschiedlichsten Erwerbsquellen bezog. Einkommen und Konsum waren in wachsendem Maße der Konjunktur von lokalen und überlokalen Märkten unterworfen. Die dauerhafte Knappheit sank besonders während der Mangelkrisen auf ein Niveau, das kaum das bloße Überleben erlaubte. Der kollektive Konsumentenprotest bewährte sich in solchen Grenzsituationen als ein zwar riskantes, aber zugleich wirksames Druckmittel, um legitime Ansprüche auf Nahrung und darüber hinaus auf eine halbwegs gesicherte soziale Existenz mit dem notwendigen Nachdruck zu erheben.
Im Unterschied zum Streik, einer relativ exklusiven Aktion erwachsener Arbeiter-Männer, wurde die Hungerrevolte überwiegend von einer gemischten Volksmenge getragen: neben Erwachsenen beiderlei Geschlechts waren durchweg Kinder, Jugendliche und Alte beteiligt. Das entsprach der Gemengelage unterschiedlichster Erwerbsformen im familienwirtschaftlichen Zusammenhang. Nachbarschaft und Wohnviertel waren Ausgangspunkt der Aktionen, und als politische Bühne kamen nur die Straße sowie die öffentlichen Plätze in Frage.
Hungerunruhen waren kommunale Machtproben. Ihre größten Erfolgschancen hatten sie in klein- und mittelstädtischen Marktzentren, vor allem, wenn relativ homogene, handwerklich geprägte Gruppen beteiligt waren. Dann war es möglich, dass eine eingespielte regelhafte Vorgehensweise - man hat von einem "Protokoll des Aufstands" (John Bohstedt) gesprochen - das Protesthandeln bestimmte. Insoweit war die Hungerrevolte ein bewährtes Mittel kommunalpolitischer Interessenvertretung für die "kleinen Leute". Anders auf dem flachen Land: Dort tendierten die Aktionen stärker zu direkten, hungergeleiteten Zugriffen auf Nahrungsvorräte. Sie waren Bestandteil eines dauerhaft und bisweilen sehr roh ausgetragenen sozialen Kleinkriegs zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Legitimationen im Sinne der "moralischen Ökonomie" wurden hier kaum bemüht. Vergleichsweise "nackte" Ansprüche eines Rechts auf Überleben und damit auf Nahrung in Notzeiten lagen den Aktionen zugrunde.
In Metropolen wie Berlin entwickelte das Aufstandsgeschehen eine Eigendynamik, die den Protest von den ursprünglichen Brot- und Butterfragen ein ganzes Stück weit forttrug und auf eine allgemeine, wenngleich sehr unbestimmte Machtprobe mit allen Wohlhabenden und Mächtigen zuspitzte. Gleichwohl sollte man sich hüten, den Aktionen vorrevolutionären oder revolutionären Charakter zuzusprechen. Auch hier, wo es an Keckheit, Respektlosigkeit und Widersetzlichkeit gewiss nicht fehlte, war von irgendwelchen Parolen gegen König oder Monarchie nichts zu vernehmen.
 
Der Sturm auf das Backhaus
                am Breslauer Heumarkt, Philipp Hoyoll 1846
Der Sturm auf das Backhaus am Breslauer Heumarkt,
Philipp Hoyoll 1846.
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Hungerunruhen in Stettin, 1847

Hungerunruhen in Stettin, 1847.
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Der revolutionaere Bock, Gustav Wilhelm Kraus 1844

Der revolutionaere Bock, Gustav Wilhelm Kraus 1844.
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Plünderung der Brauerei Pschorr in München 1848

Plünderung der Brauerei Pschorr in München 1848.
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