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"Streikexzesse" - Zur öffentlichen Unordnung
im Kaiserreich
Gemeinhin gilt der gewerkschaftlich organisierte Streik als die der
"modernen" Industriegesellschaft entsprechende Form des sozialen
Verteilungskampfes. Die bei den Konsumentenprotesten vor und während
der Industriellen Revolution dominierenden Aktionsformen - öffentlicher
Tumult, Marktunruhen mit Preisfestsetzungen sowie Plünderungen - werden
hingegen als Zeichen einer "traditionellen" Gesellschaftsordnung
interpretiert. Der Übergang vom unorganisierten "sozialen Protest"
zum Streik scheint verbunden mit einem allgemeinen Rückgang von Störungen
der öffentlichen Ordnung durch Verteilungskämpfe; dieses Bild wird durch
die relative Friedlichkeit unserer heutigen gesellschaftlichen Zustände
mit verfassungsmäßigem Streikrecht und "Sozialpartnerschaft" verstärkt.
Streikende Arbeiter sind - in Deutschland jedenfalls - fast immer
"ordentliche" Arbeiter, die eventuell demonstrieren, sich aber keine
Straßenschlachten mit der Polizei liefern oder Läden stürmen.
Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung öffentlicher Un-Ordnung
während des Kaisereichs, die hier am Berliner Beispiel beleuchtet werden
soll, diesem Eindruck recht zu geben. Die letzten großen
Nahrungsmittel-Revolten hatten 1847/48 stattgefunden. Vergleichbares gab
es in Berlin und in Deutschland erst wieder unter den katastrophalen
Versorgungsverhältnissen während und kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs;
die Mehrheit der Bevölkerung lebte nach Jahrzehnten des langsamen, aber
stetigen Aufschwungs noch einmal auf einem vorindustriellen
Ernährungsniveau. Dennoch waren auch diese im Vergleich mit den
vorrevolutionären Zeiten friedlichen Jahrzehnte von gewaltsamen Konflikten
um die öffentliche Ordnung durchzogen, die vor allem von Arbeitskämpfen
ausgingen.
Zunächst ist aber darauf hinzuweisen, dass es neben den vielen "modernen"
Streiks auch im Kaiserreich immer noch Konflikte nach traditionellem
Muster gab: Dazu gehörten generell Alltagskonflikte zwischen der Polizei
und den Unterschichten, in Zeiten schlechter Konjunktur immer wieder
kleinere oder größere Arbeitslosenunruhen oder auch kleine
Quartierskrawalle, zum Beispiel anläßlich der Exmittierung eines Mieters.
Gerade Arbeitslose blieben auch im prosperierenden Kapitalismus unter
Wilhelm II. ein Unruhefaktor auf den Straßen der Großstadt. Das zeigen
nicht nur die spektakulären dreitägigen Arbeitslosenkrawalle im Februar
1892 oder die nach sozialdemokratischen Arbeitslosenversammlungen in
gewaltsamen Konflikten mit der Polizei endenden Straßendemonstrationen
im Januar der Jahre 1908 und 1909. Zusammen mit anderen Untertanen, die
nicht über das Privileg einer gesicherten, stetigen Existenz verfügten,
bildeten die Arbeitslosen in der Vorstellungswelt der Obrigkeit eine
breite, undifferenzierte Masse, die bei Konfliktsituationen auf der
Straße abwechselnd als "Pöbel", "Rowdys", "Janhagel" oder "Mob"
bezeichnet wurde. Dazu konnten vermeintliche oder wirkliche Zuhälter,
ledige Arbeiter und Handwerker, "halbwüchsige Burschen" oder auch Penner
und Ganoven gerechnet werden, je nach Bedarf aber auch "harmlose"
Kneipenbesucher oder brave Familienväter, die versehentlich oder aus
Neugierde in eine aufrührerische Menschenmenge geraten waren. Diesen
"Pöbel" galt es zum Schutz des "besseren", also bürgerlichen Publikums
ständig zu überwachen und im Sinne bürgerlicher Verhaltensstandards zu
disziplinieren. Neben drakonischen und aus kleinlichen Anlässen
verhängten Strafen wurde zu diesem Zweck vor allem die körperliche
Gewalt an Ort und Stelle eingesetzt.
Die nivellierende Wahrnehmung der Unterschichten lag auch den
Repressionsmaßnahmen zugrunde, wenn es bei Streiks zur direkten
Konfrontation zwischen Polizei und Arbeitern kam. Jeder Streik machte
sich mehr oder weniger stark auf der Straße bemerkbar, bot dort der
Polizei Ansatzpunkte zum Eingreifen und konnte daher zur öffentlichen
Un-Ordnung "ausarten". Zwar war das Streiken selbst nicht verboten, wohl
aber standen alle Mittel, mit denen streikende Arbeiter das solidarische
Verhalten ihrer Kollegen herbeiführen wollten, unter dem Verdacht des
strafbaren "Koalitionszwangs". Der politische Auftrag der Polizei bestand
darin, entsprechend dem obrigkeitlichen Verständnis vom "an und für sich
verwerflichen" Streik diesen in jedem Fall zu bekämpfen. Das fing schon
beim Streikpostenstehen an: "Jeder Belästigung nicht ausständiger
Arbeiter durch ausständige ist [...] durch tunlichste Verhinderung
des Streikpostenstehens [...] nachdrücklichst entgegenzutreten",
hieß es in einer Dienstvorschrift der Berliner Schutzmannschaft. Dabei
bediente man sich bevorzugt der Straßenordnung, indem Streikposten zum
Verkehrshindernis erklärt und weggewiesen wurden - auch wenn weit und breit
kein Mensch auf der Straße "verkehrte". Folgten die Streikposten nicht,
so wurden sie festgenommen und bekamen Strafmandate. Wesentlich energischer
wurde gegen den tatsächlichen Versuch, Streikbrecher zu beeinflussen,
eingeschritten. Der "Schutz der Arbeitswilligen" war der geläufigste
Vorwand, um Streikende wegen Nötigung, Beleidigung oder Körperverletzung
zu verhaften und vor Gericht zu zerren. Wer vor 1914 streikte, stand also
immer mit einem Bein im Gefängnis. Zugleich wurde den Arbeitswilligen
erlaubt, sich der Beeinflussungsversuche ihrer Kollegen mit Waffengewalt
zu erwehren, so dass im harmlosen Falle Prügeleien und Messerstechereien,
im schlimmsten Fall Schießereien zu den durchaus nicht seltenen
Begleiterscheinungen von Streiks gehörten.
Dass die Arbeiterbevölkerung im Kaiserreich mit der Polizei auf Kriegsfuß
stand, hatte viele Gründe - das fortwährende parteiliche Eingreifen in
Arbeitskämpfe zugunsten der Unternehmer war eine der Hauptursachen, stellte
es doch die faktische Rechtlosigkeit des vierten Stands in aller
Öffentlichkeit bloß. Aufgrund der immer besseren Gegenorganisationen der
Unternehmer, die zum Teil auf Streikbruch spezialisierte Arbeitswillige
einsetzten, nahm der Anteil von Arbeitskämpfen, bei denen die Polizei
einschritt und Strafverfahren eingeleitet wurden, kontinuierlich zu. Vor
allem bei Streiks von Verkehrs- und Transportarbeitern, bei denen die
Streikarbeit unter Polizeischutz ebenfalls auf der Straße stattfand, kam
es zu "Streikexzessen" - so der Ausdruck der bürgerlichen Zeitgenossen -,
an denen sich auch das "Straßenpublikum" der Arbeiterviertel zu Tausenden
beteiligte.
Als zum Beispiel am 19. Mai 1900 die Angestellten der Großen Berliner
Straßenbahn AG die Arbeit niederlegten, um höhere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen durchzusetzen, ergriffen die Straßenbahnkunden und
-kundinnen überwiegend für sie Partei. Im ganzen Stadtgebiet kam es zu
erregten Szenen, sobald sich eine von Streikbrechern gesteuerte Straßenbahn
näherte. Wagen wurden mit Steinen beworfen und aus den Gleisen gehoben,
Pferde der Pferdestraßenbahn ausgespannt, Kutscher blockierten die Gleise.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, verlagerte sich das Geschehen an das
Rosenthaler Tor, einem von Mietskasernen umgebenen Verkehrsknotenpunkt
nördlich der Stadtmitte, an dem eine Straßenbahnlinie endete. Von den sich
dort abspielenden Krawallen berichtete später der Polizeihauptmann Haccius,
dem die Polizeikräfte unterstanden: "Der Pöbel zerstreute sich
[...] in die Flure, Höfe, Wohnungen und Schanklokale des Platzes am
Rosenthaler-Thor und dessen Umgebung und wurde bei der allgemeinen
Parteinahme der Häuserbewohner gegen die Polizei und gegen die
Straßenbahn-Gesellschaft bereitwilligst aufgenommen und beschützt. Die
wiederholt versuchte und auch durchgeführte Räumung der Höfe und Flure
hatte auch nur geringen Erfolg, weil die befohlene Aufrechterhaltung des
Straßenbahnverkehrs auch die Absperrung des Fußgängerverkehrs ausschlof.
Höfe, Flure und Lokale füllten sich daher immer wieder mit Personen, welche
unter der Marke harmloser Passanten sich versteckt und bereit hielten, im
gegebenen Augenblicke zu Gewaltthätigkeiten überzugehen. Dieser Augenblick
trat jedesmal ein, wenn ein Straßenbahnwagen in rascher Fahrt sich dem
Platze näherte und vor der Weiche einige Zeit halten mußte. Dann kamen aus
allen Häusern des Platzes und der 5 einmündenden Straßenzüge Hunderte von
Personen im Laufschritt, die dünnen Postenketten durchbrechend, mit Steinen,
Stöcken und Eiern werfend, auf die Stelle zu, wo der Straßenbahnwagen
hielt."
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Karikatur, August 1872. [größeres Bild]
Helm für Offiziere der Berliner Schutzmannschaft. [größeres Bild]
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