Deutsches
Historisches
Museum
"Streikexzesse" -
Zur öffentlichen Un-Ordnung im Kaiserreich
Thomas Lindenberger, Seite 2 3
"Streikexzesse" -
Zur öffentlichen Unordnung im Kaiserreich

Gemeinhin gilt der gewerkschaftlich organisierte Streik als die der "modernen" Industriegesellschaft entsprechende Form des sozialen Verteilungskampfes. Die bei den Konsumentenprotesten vor und während der Industriellen Revolution dominierenden Aktionsformen - öffentlicher Tumult, Marktunruhen mit Preisfestsetzungen sowie Plünderungen - werden hingegen als Zeichen einer "traditionellen" Gesellschaftsordnung interpretiert. Der Übergang vom unorganisierten "sozialen Protest" zum Streik scheint verbunden mit einem allgemeinen Rückgang von Störungen der öffentlichen Ordnung durch Verteilungskämpfe; dieses Bild wird durch die relative Friedlichkeit unserer heutigen gesellschaftlichen Zustände mit verfassungsmäßigem Streikrecht und "Sozialpartnerschaft" verstärkt. Streikende Arbeiter sind - in Deutschland jedenfalls - fast immer "ordentliche" Arbeiter, die eventuell demonstrieren, sich aber keine Straßenschlachten mit der Polizei liefern oder Läden stürmen.
Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung öffentlicher Un-Ordnung während des Kaisereichs, die hier am Berliner Beispiel beleuchtet werden soll, diesem Eindruck recht zu geben. Die letzten großen Nahrungsmittel-Revolten hatten 1847/48 stattgefunden. Vergleichbares gab es in Berlin und in Deutschland erst wieder unter den katastrophalen Versorgungsverhältnissen während und kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs; die Mehrheit der Bevölkerung lebte nach Jahrzehnten des langsamen, aber stetigen Aufschwungs noch einmal auf einem vorindustriellen Ernährungsniveau. Dennoch waren auch diese im Vergleich mit den vorrevolutionären Zeiten friedlichen Jahrzehnte von gewaltsamen Konflikten um die öffentliche Ordnung durchzogen, die vor allem von Arbeitskämpfen ausgingen.
Zunächst ist aber darauf hinzuweisen, dass es neben den vielen "modernen" Streiks auch im Kaiserreich immer noch Konflikte nach traditionellem Muster gab: Dazu gehörten generell Alltagskonflikte zwischen der Polizei und den Unterschichten, in Zeiten schlechter Konjunktur immer wieder kleinere oder größere Arbeitslosenunruhen oder auch kleine Quartierskrawalle, zum Beispiel anläßlich der Exmittierung eines Mieters. Gerade Arbeitslose blieben auch im prosperierenden Kapitalismus unter Wilhelm II. ein Unruhefaktor auf den Straßen der Großstadt. Das zeigen nicht nur die spektakulären dreitägigen Arbeitslosenkrawalle im Februar 1892 oder die nach sozialdemokratischen Arbeitslosenversammlungen in gewaltsamen Konflikten mit der Polizei endenden Straßendemonstrationen im Januar der Jahre 1908 und 1909. Zusammen mit anderen Untertanen, die nicht über das Privileg einer gesicherten, stetigen Existenz verfügten, bildeten die Arbeitslosen in der Vorstellungswelt der Obrigkeit eine breite, undifferenzierte Masse, die bei Konfliktsituationen auf der Straße abwechselnd als "Pöbel", "Rowdys", "Janhagel" oder "Mob" bezeichnet wurde. Dazu konnten vermeintliche oder wirkliche Zuhälter, ledige Arbeiter und Handwerker, "halbwüchsige Burschen" oder auch Penner und Ganoven gerechnet werden, je nach Bedarf aber auch "harmlose" Kneipenbesucher oder brave Familienväter, die versehentlich oder aus Neugierde in eine aufrührerische Menschenmenge geraten waren. Diesen "Pöbel" galt es zum Schutz des "besseren", also bürgerlichen Publikums ständig zu überwachen und im Sinne bürgerlicher Verhaltensstandards zu disziplinieren. Neben drakonischen und aus kleinlichen Anlässen verhängten Strafen wurde zu diesem Zweck vor allem die körperliche Gewalt an Ort und Stelle eingesetzt.

Die nivellierende Wahrnehmung der Unterschichten lag auch den Repressionsmaßnahmen zugrunde, wenn es bei Streiks zur direkten Konfrontation zwischen Polizei und Arbeitern kam. Jeder Streik machte sich mehr oder weniger stark auf der Straße bemerkbar, bot dort der Polizei Ansatzpunkte zum Eingreifen und konnte daher zur öffentlichen Un-Ordnung "ausarten". Zwar war das Streiken selbst nicht verboten, wohl aber standen alle Mittel, mit denen streikende Arbeiter das solidarische Verhalten ihrer Kollegen herbeiführen wollten, unter dem Verdacht des strafbaren "Koalitionszwangs". Der politische Auftrag der Polizei bestand darin, entsprechend dem obrigkeitlichen Verständnis vom "an und für sich verwerflichen" Streik diesen in jedem Fall zu bekämpfen. Das fing schon beim Streikpostenstehen an: "Jeder Belästigung nicht ausständiger Arbeiter durch ausständige ist [...] durch tunlichste Verhinderung des Streikpostenstehens [...] nachdrücklichst entgegenzutreten", hieß es in einer Dienstvorschrift der Berliner Schutzmannschaft. Dabei bediente man sich bevorzugt der Straßenordnung, indem Streikposten zum Verkehrshindernis erklärt und weggewiesen wurden - auch wenn weit und breit kein Mensch auf der Straße "verkehrte". Folgten die Streikposten nicht, so wurden sie festgenommen und bekamen Strafmandate. Wesentlich energischer wurde gegen den tatsächlichen Versuch, Streikbrecher zu beeinflussen, eingeschritten. Der "Schutz der Arbeitswilligen" war der geläufigste Vorwand, um Streikende wegen Nötigung, Beleidigung oder Körperverletzung zu verhaften und vor Gericht zu zerren. Wer vor 1914 streikte, stand also immer mit einem Bein im Gefängnis. Zugleich wurde den Arbeitswilligen erlaubt, sich der Beeinflussungsversuche ihrer Kollegen mit Waffengewalt zu erwehren, so dass im harmlosen Falle Prügeleien und Messerstechereien, im schlimmsten Fall Schießereien zu den durchaus nicht seltenen Begleiterscheinungen von Streiks gehörten.
Dass die Arbeiterbevölkerung im Kaiserreich mit der Polizei auf Kriegsfuß stand, hatte viele Gründe - das fortwährende parteiliche Eingreifen in Arbeitskämpfe zugunsten der Unternehmer war eine der Hauptursachen, stellte es doch die faktische Rechtlosigkeit des vierten Stands in aller Öffentlichkeit bloß. Aufgrund der immer besseren Gegenorganisationen der Unternehmer, die zum Teil auf Streikbruch spezialisierte Arbeitswillige einsetzten, nahm der Anteil von Arbeitskämpfen, bei denen die Polizei einschritt und Strafverfahren eingeleitet wurden, kontinuierlich zu. Vor allem bei Streiks von Verkehrs- und Transportarbeitern, bei denen die Streikarbeit unter Polizeischutz ebenfalls auf der Straße stattfand, kam es zu "Streikexzessen" - so der Ausdruck der bürgerlichen Zeitgenossen -, an denen sich auch das "Straßenpublikum" der Arbeiterviertel zu Tausenden beteiligte.

Als zum Beispiel am 19. Mai 1900 die Angestellten der Großen Berliner Straßenbahn AG die Arbeit niederlegten, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, ergriffen die Straßenbahnkunden und -kundinnen überwiegend für sie Partei. Im ganzen Stadtgebiet kam es zu erregten Szenen, sobald sich eine von Streikbrechern gesteuerte Straßenbahn näherte. Wagen wurden mit Steinen beworfen und aus den Gleisen gehoben, Pferde der Pferdestraßenbahn ausgespannt, Kutscher blockierten die Gleise. Am nächsten Tag, einem Sonntag, verlagerte sich das Geschehen an das Rosenthaler Tor, einem von Mietskasernen umgebenen Verkehrsknotenpunkt nördlich der Stadtmitte, an dem eine Straßenbahnlinie endete. Von den sich dort abspielenden Krawallen berichtete später der Polizeihauptmann Haccius, dem die Polizeikräfte unterstanden: "Der Pöbel zerstreute sich [...] in die Flure, Höfe, Wohnungen und Schanklokale des Platzes am Rosenthaler-Thor und dessen Umgebung und wurde bei der allgemeinen Parteinahme der Häuserbewohner gegen die Polizei und gegen die Straßenbahn-Gesellschaft bereitwilligst aufgenommen und beschützt. Die wiederholt versuchte und auch durchgeführte Räumung der Höfe und Flure hatte auch nur geringen Erfolg, weil die befohlene Aufrechterhaltung des Straßenbahnverkehrs auch die Absperrung des Fußgängerverkehrs ausschlof. Höfe, Flure und Lokale füllten sich daher immer wieder mit Personen, welche unter der Marke harmloser Passanten sich versteckt und bereit hielten, im gegebenen Augenblicke zu Gewaltthätigkeiten überzugehen. Dieser Augenblick trat jedesmal ein, wenn ein Straßenbahnwagen in rascher Fahrt sich dem Platze näherte und vor der Weiche einige Zeit halten mußte. Dann kamen aus allen Häusern des Platzes und der 5 einmündenden Straßenzüge Hunderte von Personen im Laufschritt, die dünnen Postenketten durchbrechend, mit Steinen, Stöcken und Eiern werfend, auf die Stelle zu, wo der Straßenbahnwagen hielt."
 
Karikatur, August 1872
Karikatur, August 1872.
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Helm für Offiziere der Berliner Schutzmannschaft

Helm für Offiziere der Berliner Schutzmannschaft.
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