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Nahrungsmittelproteste im 19. Jahrhundert
"Brod-Cravalle", "Kartoffelunruhen", "Theuerungs-Unruhen",
"Eigenthums-Verletzungen", "Markttumulte" - so oder ähnlich lauteten die
zeitgenössischen Ausdrücke in Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts für eine
weitverbreitete Form sozialen Protests, die in vielerlei Hinsicht
beanspruchen darf, als klassisches Pendant zum modernen Streik
industrialisierter Gesellschaften zu gelten. Ein befriedigender, knapper
Begriff analog zum englischen "food riot" fehlt im deutschen Sprachgebrauch.
Unter "Hungerunruhen" (auch: "Nahrungsmittelprotest" oder
"Subsistenzunruhen") sollen im folgenden kollektive Aktionen der unteren
Volksschichten in Stadt und Land verstanden werden, die durch Mangel oder
unverhältnismäßige Teuerung von Nahrungsmitteln hervorgerufen wurden und
deren Träger durch Selbsthilfe gegenüber privaten Eigentümern oder durch
Einwirkung auf Obrigkeiten auf die Sicherstellung ihrer Versorgungsansprüche
zielten. Hungerunruhen dominierten das weitgefächerte Spektrum des sozialen
Protests vieler frühneuzeitlicher Gesellschaften West- und Mitteleuropas
und reichten nicht selten bis in deren hochindustrialisierte Stadien
hinein.
In Großbritannien waren Hungerunruhen spätestens seit dem Krisenjahr 1740
eine periodisch wiederkehrende Massenerscheinung. Allein für die
konfliktreichsten britischen Krisenjahre 1795/96 und 1800/01 sind 269 bzw.
118 Nahrungsmittelproteste nachgewiesen worden.1 Als ähnlich prägend erwiesen sich Hungerunruhen in der
französischen Sozialgeschichte. In einer kürzlich zusammengestellten
Erhebung über "troubles populaires" zwischen 1661 und 1789 nehmen sie
unter 4495 Unruhen den ersten Rang ein. Insbesondere zwischen 1760-89
traten Nahrungsmittelproteste in den Vordergrund und machten etwa ein
Drittel aller Sozialkonflikte aus. Allein für 1775, das Jahr des sogenannten
"Mehlkrieges", der in den agrarischen Regionen um Paris tobte, sind ca.
300 Hungerunruhen dokumentiert.2
Verglichen mit Großbritannien und Frankreich, wo solche Konflikte die dort
frühzeitiger einsetzenden Prozesse agrarischer Kommerzialisierung und
gewerblich-industrieller Entwicklung über Zeiträume von 150 bis 200
Jahren intensiv begleiteten, erscheint die Zeitspanne, für die dieser
Konflikttyp in deutschen Territorien eine wesentliche Rolle spielte, mit
ca. 50-60 Jahren (1790-1850) stark zusammengedrängt. Doch auch nach 1850,
unter den gewandelten Verhältnissen einer zunehmend industrialisierten
Gesellschaft, tauchte der spektakuläre Nahrungsmittelprotest zeitweilig
in erstaunlicher Kontinuität und Dichte bis etwa 1930 wieder
auf.3
Schwere wetterbedingte Missernten der Jahre 1770 und 1771 in weiten Teilen
Deutschlands lösten die wohl gravierendste Mangelkrise des 18. Jahrhunderts
aus. Obwohl das Ausmaß sozialer Entbehrungen, von Arbeits- und
Nahrungsmittelmangel und auch akuten Hungererfahrungen, mindestens ebenso
einschneidend wirkte wie 1816/17 oder 1846-48, scheinen die Betroffenen
kaum zum probaten Mittel der gewalthaften Selbsthilfe gegriffen zu haben.
Letztlich, das verdeutlicht dieser Krisenverlauf einmal mehr, war nicht
das absolute Maß erlittenen Mangels entscheidendes Kriterium für die
Protestbereitschaft, sondern vielmehr die Art und Weise, wie eine
Mangelsituation öffentlich wahrgenommen und verarbeitet wurde: die Frage,
ob der gesellschaftliche Umgang mit den extrem knappen Nahrungsressourcen
als gerecht oder ungerecht empfunden wurde. Und ganz offenkundig erfüllten
die scharf reglementierenden Maßnahmen städtischer und territorialer
Obrigkeiten zu dieser Zeit noch weithin die Erwartungen ihrer besorgten
Untertanen. Das gesamte Instrumentarium traditioneller Krisenpolitik wurde
eingesetzt - etwa Ausfuhrverbote für Nahrungsmittel, strenge Kontrolle des
Binnenhandels, Vorkaufsrechte für den örtlichen Eigenbedarf, statistische
Bestandsaufnahmen aller im Lande befindlichen Fruchtvorräte und im
Extremfall Anordnung des Zwangsverkaufs von
Überschüssen.4
Anders verhielten sich die Dinge zur Zeit der Französischen Revolution:
Knapp 30 Hungerunruhen, wohl nur ein Bruchteil des tatsächlichen Umfangs,
sind inzwischen für das Jahrzehnt 1790-1800 belegt. Sie konzentrierten sich
vor allem auf das Teuerungsjahr 1795 und geographisch auf die norddeutschen
Küstengebiete und deren agrarisches Hinterland. Diese Regionen waren
Schauplatz eines intensiven Agrarexports nach Westeuropa, besonders nach
England und Frankreich, der die ohnehin knappen Nahrungsmittel zusätzlich
verteuerte. Einige Beispiele: Am 12. Oktober 1794 stürmte eine Volksmenge
das Haus des wohlhabenden Metzgers Lanz in Altona, nachdem dieser
angekündigt hatte, die Preise seiner Waren, die er offenbar mit gutem
Gewinn ins Ausland exportierte, weiter heraufzusetzen. Die Menschenmenge,
die im Kern aus Handwerksgesellen und Frauen bestand, bemächtigte sich der
Fleischvorräte und ließ sie unter das Volk verteilen. Nachdem im März 1795
die Brot- und Bierpreise in Nürnberg eine für die ärmeren
Handwerkerschichten unerschwingliche Höhe erreicht hatten, griffen die
Betroffenen zur Selbsthilfe und brachten ganze Wagenladungen auswärtigen
Brots und Biers in die Stadt, die sie zu niedrigeren Preisen verkauften.
Daraufhin weigerten sich die Bäcker, die traditionell üblichen "Eyerkuchen"
zur Osterzeit zu backen. Folge war die in der Nacht vom 2. auf den 3. April
einsetzende und mehrere Tage anhaltende "EyerkuchenRevoluzion", in deren
Verlauf 26 Bäckerläden gestürmt wurden. Daraufhin nahmen die Bäcker ihre
Boykottandrohung zurück, und die Bierbrauer reduzierten den Bierpreis um
zwei Pfennige. Schließlich Flensburger Handwerksgesellen und Tagelöhner:
Sie rebellierten Anfang Juni 1795 erfolgreich gegen hohe
Nahrungsmittelpreise und zwangen die örtlichen Kornhändler, Markthöker und
Schlachter, ihre Waren gegen einen von den Aufständischen festgesetzten
Höchstpreis zu verkaufen. Zugleich verhinderten die Aufständischen durch
Bewachung der Stadttore vorübergehend die Ausfuhr von Lebensmitteln aus
der Stadt.5
Politische Fernwirkungen der Französischen Revolution dürften bei diesen
Unruhen kaum eine Rolle gespielt haben. Von den abstrakten Freiheits- und
Menschenrechtsdiskussionen deutscher Jakobinerzirkel wurden die hier
protestierenden Schichten sicherlich wenig tangiert. In mehreren Fällen wie
anlässlich der Erstürmung der Vorräte des wohlhabenden Fleischhändlers Lanz
in Altona oder im Verlauf zweier gravierender Aufstände in Rostock 1790 und
1800, die sich vor allem gegen den Export von Getreide, Butter und anderer
Nahrungsmittel richteten, gaben die Beteiligten ausdrücklich monarchische,
antirevolutionäre Sympathien zu erkennen.6
Niemals zuvor oder danach waren Hungerunruhen in Deutschland so sehr
verbreitet wie während der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Allein
für das Jahr 1847, den Höhepunkt einer letzten agrarischen Mangelkrise
des "alten Typs" in Teilen West- und Mitteleuropas, können ca. 200
Aufstände nachgewiesen werden. Von 189 Unruhen, deren Daten hinreichend
bekannt sind, konzentrierten sich 158 (83,6 %) auf die kritischen Monate
April und Mai, als die Preise für Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln und
Brotgetreide auf die zwei- bis dreifache Höhe von Normaljahren anstiegen.
Ausgangspunkt waren Missernten 1845 und besonders 1846, aber auch die
intensivierte Nachfrage nach Nahrungsmitteln aus westeuropäischen Ländern
trug zu dieser extremen Verknappung bei. Geographisch häufte sich der
Hungerprotest vor allem in Nordostdeutschland. Zwei Drittel aller Unruhen
entfielen auf Preußen, betroffen waren nahezu ausschließlich die mittleren
und vor allem östlichen Provinzen. Andere Schwerpunktregionen des
Hungerprotests lagen im Raum Franken/Obermain und in
Württemberg.7
Streifzüge auf dem Lande
Am 12. Mai 1847 begab sich ein leitender Beamter des Kreises Ückermünde
(Pommern) in Begleitung von fünf Gendarmen in die Gemeinde Eichhof, um
eine Anzeige des Landrats des benachbarten Prenzlauer Kreises (Brandenburg)
wegen der "Angriffe der Einwohner von Eichhof, Rothemühl und
Heinrichswalde auf das Eigenthum der Gutsbesitzer im Prenzlauer Kreise"
zu untersuchen.8 Ab Weihnachten 1846,
so ergaben die Ermittlungen, hätten "Arme" die Kartoffelmieten des Gutsherrn
von Holzendorf auf Wilsekow heimgesucht, die dieser auf freiem Felde hatte
anlegen und nicht sorgfältig bewachen lassen. In einigen Dörfern des
Ückermünder Kreises habe sich das "Gerücht" verbreitet, Gutsbesitzer von
Holzendorf würde gegen die armen Leute nachsichtig sein, solange die Sache
nicht ausarte. Die Vernehmungen ergaben, dass sich insgesamt "86
Köpfe" aus den Ortschaften Eichhof und Rothemühl an mindestens fünf
nächtlichen Streifzügen zu den gut zehn Kilometer entfernten
Kartoffelvorräten beteiligt hatten. Der erste Zug fand etwa Mitte April
statt. An der zweiten Tour, eine Woche später, nahmen mindestens 18
Personen, Männer und Frauen, teil. Jeder füllte so viele Kartoffeln in
mitgebrachte Säcke, wie er die weite Strecke tragen zu können glaubte. Auf
dem Rückweg wurde der Trupp vom Gutsinspektor angehalten, der sich mit
Tagelöhnern auf Wache begeben hatte. Die Leute mussten mitsamt ihrer Beute
nach Wilsekow zurückkehren. Vor dem Dorf ließ der Inspektor Laternen
anzünden. Dann mussten die "Kartoffeldiebe" in einen durch die
Gutstagelöhner gebildeten Kreis treten, wo sie nacheinander schwere
Prügelstrafe erhielten, die der Inspektor persönlich verabreichte.
Während der Vernehmung schilderten die Beteiligten freimütig, dass sie
glaubten, für diese Strafe und als Ersatz für die ihnen abgenommenen Säcke
doch "etwas" beanspruchen zu dürfen. So zogen sie am darauffolgenden Abend
wieder los, mit mehr Erfolg, denn die Kartoffelmieten waren diesmal
unbewacht. Am letzten Streifzug, in der Nacht vom 2. zum 3. Mai, beteiligten
sich an die "100 Köpfe" - Männer, Frauen und Kinder - mit Säcken und Karren.
Erst allnächtliche militärische Patrouillen durch die Garnison Pasewalk
sowie zusätzlich stationierte Gendarmen in den Ortschaften setzten dieser
kollektiven Selbsthilfe ein Ende. |
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Der Obstverkauf in Nürnberg 1793. [größeres Bild]
Sturm auf die Bäckerhäuser in Nürnberg, um 1795. [größeres Bild]
Bekanntmachung, Nürnberg 1795. [größeres Bild]
Bemalte Schützenscheibe, 1817. [größeres Bild] |