|
Warum und wofür im 19. Jahrhundert gestreikt
wurde
Die soziale Welt der Arbeiter im 19. Jahrhundert wäre höchst unvollständig
beschrieben, wollte man nicht auf eine Lebensäußerung hinweisen, die sich
wie ein roter Faden durch ihre Geschichte zieht: den Willen und die
Fähigkeit zum gemeinsamen Widerstand gegenüber den Zumutungen
fremdbestimmter Arbeits- und Lebensverhältnisse und auch dazu, für
selbstbestimmte Interessen beherzt in die Schranken zu treten. Schon in
der ersten Industrialisierungsphase erhoben Tausende Anspruch auf dieses
"natürliche" Widerstands- und Verweigerungsrecht, zwischen Jahrhundertwende
und dem Ende des Ersten Weltkriegs waren es bereits Millionen. All dies
ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland bis zum Zusammenbruch des
Kaiserreichs ein wirkliches Streikrecht nicht kannte und dass die
Gewerkschaften als legitime Vertretung der Arbeiterschaft nicht anerkannt
waren. Zwar gab es seit 1869 kein Koalitionsverbot mehr, aber die
obrigkeitsstaatlichen Ordnungshüter bemühten sich eifrig, diesen Zugewinn
an Bewegungsfreiheit den Arbeitern möglichst zu verleiden. Was sich
politisch trotz vielfältiger Anstrengungen nicht durchsetzen ließ, nämlich
eine generelle Einschränkung der endlich errungenen Koalitionsfreiheit
per Gesetz, das vollzog sich in Preußen-Deutschland ein Stück weit mit
polizeilichen Mitteln. Das Streiken wurde so für viele Beteiligte zu einem
Balance-Akt, hart am Rande der Legalität. Auch in anderer Hinsicht barg
es für die Teilnehmer hohe Risiken. Große Entbehrungen mussten selbst in
den Fällen in Kauf genommen werden, in denen Unterstützungsgelder den
Verdienstausfall eben zu überleben halfen; ohne Schulden und Pfandhaus
waren längere Ausstände für die Masse der Arbeiter auch dann nicht
durchzustehen, wenn die Möglichkeit zu Gelegenheitsarbeiten bestand.
Zu dieser Not gesellte sich die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes,
der durch Streiks notgedrungen aufs Spiel gesetzt werden musste.
Schließlich dürfen auch die streikinternen Reibungszonen nicht
übergangen werden: wie viele Familienzwistigkeiten mögen
Arbeitseinstellungen heraufbeschworen haben? Wie viele Freundschaften
und Bekanntschaften werden an den Herausforderungen einer solidarischen
Massenaktion zerbrochen, wie viel Hass und Niedertracht durch Uneinigkeit
und Kleinmut gesät worden sein?
Aber das war nur die eine Seite. Wer so viele Risiken und Unwägbarkeiten
in Kauf zu nehmen bereit war - und das waren zur Reichsgründungszeit schon
einige Hunderttausend -, dem sind Mut, Entschlusskraft und Behauptungswillen
wohl nicht abzusprechen. Und wer - wie sich im Betrachtungszeitraum immer
wieder beobachten lässt - den Ausstand als Fest mit Umzügen, Bier und
Musik, oft im Sonntagsanzug begehen zu dürfen glaubt, der verleiht diesem
Handeln die Weihe einer "feierlichen" Willenskundgebung, die auch in
moralischer Hinsicht einen tieferen Sinn gehabt haben muss. Zeitgenössische
Gedichte und Lieder legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
Der Streikkampf war in der Tat über Jahrzehnte hinweg eine
lebensgeschichtlich zentrale Erfahrung der Arbeiter, die deren
gesellschaftliches und politisches Bewusstsein nachhaltig prägte. Zwar
gab es auch im Zeitalter der Industrialisierung noch Arbeiter en masse,
die das Streiken nur vom Hörensagen kannten, aber mittelbar wurde auch
für diese die Aktion des Arbeitskampfs zu einem Emanzipationssymbol. Die
mit ihm verknüpften Hoffnungen auf eine Verbesserung der Arbeits- und
Daseinsbedingungen setzten jedenfalls allenthalben Kräfte frei, die
halfen, Selbstwertgefühle zu entwickeln, Grundlagen für interessenverbundene
Solidarität zu schaffen und diese dann organisatorisch zu verstetigen.
Diese Kräfte wurzelten in gemeinsamen Erfahrungen des Arbeitens und Lebens
und insbesondere in der Überzeugung, dass den "Arbeitsbienen" seitens der
"Drohnen" etwas vorenthalten werde, auf das die ersteren berechtigte
Ansprüche hätten - schon allein auf Grund der großen Anstrengungen und
der Mühsal, unter denen sie ihr Dasein zu fristen hatten. Genauer
betrachtet, handelt es sich bei den Streikbewegungen allerdings um
einen höchst widerspruchsvollen Entwicklungs- und Erfahrungsprozess, der
als historischer Lernprozess im Grunde bis heute nicht abgeschlossen ist
und deshalb auch keine abschließende Wertung über "Sieger" und "Verlierer"
zulässt. Auf Seiten der Arbeiter wechselten Erfolge, Selbständigkeit und
Erkenntniszuwachs mit Niederlagen, enttäuschten Erwartungen, Entmutigung
und Unterdrückung. Und den gewerkschaftlichen Bemühungen um eine
Rationalisierung und Versachlichung der Konfliktregulierung gegen Ende
des 19. Jahrhunderts ist es nur zum Teil gelungen, dem Streik sein
rebellisches Flair und jene Unberechenbarkeit zu nehmen, die Besitzbürgertum
und Ordnungskräften noch stets Furcht eingeflößt und wiederholt bestimmt
hat, die sozialpolitische Tauglichkeit des Arbeitskampfes grundsätzlich
zu bezweifeln. Einige Streiflichter aus der deutschen Streikgeschichte
mögen verdeutlichen, wovon hier die Rede ist.
Der Streik im modernen Sinne des Wortes - als gemeinsame Arbeitsniederlegung
(lohn-)abhängiger Erwerbsgruppen zur Durchsetzung von Forderungen nach
einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen - ist eigentlich
eine "Erfindung" der Handwerksgesellen aus vor- bzw. protoindustriellen
Zeiten. Bereits die Gesellenstreiks des 18. und frühen 19. Jahrhunderts
weisen einen Großteil jener Verhaltensmuster und Handlungselemente auf,
ohne deren Ausprägung Arbeitskämpfe ohnmächtige Proteste geblieben wären.
Zu nennen sind die Meinungsklärung über die konkreten Ziele einer
Streikaktion, die an Konjunktur und Jahreszeit orientierte Planung und
organisatorische Vorbereitung einer Arbeitsniederlegung, die Koordination
und Leitung von Massenaktionen, die Ersinnung von Mitteln zur wirksamen
Bekämpfung von Streikbruch, die Anlage eines Fonds zur Unterstützung der
Verdienstlosen und vieles andere mehr. Der feste Glaube an die letztendliche
Rechtmäßigkeit auch solcher Akte der Selbsthilfe, die leicht in Widerspruch
zur vorgegebenen Ordnung geraten konnten, war schon damals als
Rückversicherung ebenso unverzichtbar wie das Einfordern dessen, was
die Gesellen eine "achtungsgebietende Stellung" gegenüber Prinzipal und
Meister nannten und was später dann "Ehre" hieß. All diese Grundelemente
eines erfolgsträchtigen Interessenkampfs sind also keine naturwüchsigen
Begleiterscheinungen der Konfliktaustragung unter den Bedingungen des
industriellen Kapitalismus, sondern waren bereits mehr oder minder
ausgeprägt, als letzterer noch in seinen Kinderschuhen steckte. Es traten
lediglich neue Erfahrungsmomente hinzu, die das Verhaltensrepertoire
streikender Arbeiter erweiterten und gewisse Veränderungen hergebrachter
Protest- und Widerstandsmuster bewirkten. Die Fabrikarbeiter hatten im
Umgang mit den Verhaltenszumutungen einer neuen und ungewohnten Organisation
des Produktionsablaufs Lernprozesse zu vollziehen. Ihre Forderungen
änderten sich, die Kampfformen blieben weithin die hergebrachten -
anschaulich zu studieren in den Revolutionsjahren 1848/49, als Deutschlands
Wirtschaft von einer ersten Welle von Arbeitsniederlegungen erfasst wurde,
die allerdings in der Regel sehr harmlos verliefen und noch keine
gesellschaftliche Breitenwirkung entfalteten: Mindestlohn, Extrabezahlung
bzw. Einschränkung der Überstundenarbeit, zehnstündiger Normalarbeitstag,
Arbeitsausschüsse und regelmäßige Betriebsversammlungen, so lauteten etwa
die zentralen Forderungen, die die Berliner Maschinenbauer im März 1848
ihren Arbeitgebern "zur gefälligen Beachtung" unterbreiteten. Doch obwohl
dieses Interessenprogramm viel Konfliktstoff in sich barg, da es an
prinzipielle Fragen der neustrukturierten Arbeitsbeziehungen rührte, hat
es eine größere Streikauseinandersetzung nicht heraufbeschworen. Borsigs
Appell an seine Arbeiter, "ein[zu]sehen, daß nur durch
beiderseitiges kräftiges Zusammenwirken die Ordnung der Dinge
wiederhergestellt werden kann", traf nicht auf taube Ohren, nachdem
er und andere Fabrikanten ihre Bereitschaft zu Lohnerhöhungen zu verstehen
gegeben und in der Arbeitszeitfrage die Grenze bei 11 Stunden täglich zu
setzen versprochen hatten. Am Tag der Verkündigung dieser Konzessionen
feierten Arbeiter und Fabrikanten die Beendigung des Konflikts bei einem
gemeinsamen Festessen, zu dem die Unternehmer eingeladen hatten. Die
Maschinenbauer revanchierten sich und zogen mit klingendem Spiel und
Hochrufen auf ihre Arbeitgeber in einem mehrtausendköpfigen Umzug durch
das Brandenburger Tor.1
Rund 20 Jahre später gewann das Streikgeschehen in Deutschland dann eine
ganz neue Dimension. Zwar hatte selbst die reaktionäre Vereins-, Straf-
und Koalitionsgesetzgebung der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts es
nicht vermocht, Streikkämpfe gänzlich zu unterbinden - 1858/59 gab es
sogar wieder annähernd so viele Arbeitseinstellungen wie 1848/49 -, aber
die Größenordnungen von Streikhäufigkeit, -beteiligung und -dauer
veränderten sich nun schlagartig und tiefgreifend. Zwischen 1869 und
1874 wurde in Deutschland so viel und so intensiv gestreikt wie niemals
zuvor. Mit über 1250 Arbeitskämpfen, an denen insgesamt wohl 200 000 bis
300 000 Ausständige beteiligt waren, erreichte die Streikfrequenz damals
eine Höhe, die man bislang erst in Großbritannien, dem Mutterland des
Industriekapitalismus, hatte beobachten können. Die Konfliktfreudigkeit
der deutschen Arbeiter war umso erstaunlicher, als ihnen für die
Durchführung ihrer Aktionen noch keineswegs jener
gewerkschaftsorganisatorische Rückhalt zu Gebote stand, auf den sich
etwa die englischen Arbeiter damals schon stützen konnten. Kampfstarke
Berufsvereine existierten nur ausnahmsweise, als die Streikwelle mit
elementarer Kraft das Erwerbsleben des in Gründung begriffenen Reichs
erfasste. Und doch erreichte die Springflut dieser Welle nahezu alle
Berufsgruppen der gewerblichen Wirtschaft und nahezu flächendeckend einige
100 Orte in ganz Mitteleuropa. Überall gingen die Arbeiter jetzt daran,
konkrete Ansprüche und Interessen auf einem Wege einzuklagen, der die
Bahnen der Bittstellerei verließ und in relativ selbstbewusste und
zielgerichtete Demonstrationen gemeinsamer Willensstärke einmündete.
Sicherlich wurde der Streikelan stimuliert durch die enorme
Wirtschaftskonjunktur jener Zeit, durch den Zuwachs an legalen
Handlungsmöglichkeiten, den 1869 endlich die Aufhebung der Koalitionsverbote
bescherte, und nicht zuletzt durch die organisatorischen und
propagandistischen Hilfeleistungen, die sozialistische, christlich-soziale
und linksliberale Organisationen den "Arbeiterbewegungen" mehr oder
minder uneigennützig andienten. In der Hauptsache aber blieb die Streikwelle
eine massive Äußerung emanzipatorischer Entschlossenheit auf der Basis
einer von den Arbeitern im wesentlichen selbst entwickelten
Konfliktfähigkeit. Sie fand ihren beredtsten Ausdruck in der sprunghaft
gewachsenen Bereitschaft, für die Verwirklichung neunormierter Ansprüche
auch die Nöte einer schließlich selbst zu verantwortenden Mittellosigkeit
in Kauf zu nehmen - was die bürgerliche Öffentlichkeit damals nicht schlecht
in Erstaunen versetzte. Die vielen Wagnisse mehrwöchiger Massenstreiks mit
einigen tausend Teilnehmern, die in den Gründerjahren Furore machten,
sorgten im Verein mit all den ungezählten kleineren Arbeitskonflikten
dafür, dass das Innenleben der (industriellen) Arbeitswelt nunmehr in das
Blickfeld der Öffentlichkeit geriet und - darin blieb: Die Berliner und
Hamburger Bauhandwerkerstreiks, die Bergarbeiterstreiks in Waldenburg,
Königshütte und im Ruhrgebiet, die Metallarbeiterbewegungen von Chemnitz
und Berlin, der Werftarbeiterstreik in Danzig sowie schließlich der
nationale Arbeitskampf im Druckgewerbe waren in den Gründerjahren viel
und ausgiebig diskutierte Tagesthemen.2 Sie machten es fortan unmöglich, die zugrundeliegenden
Konfliktursachen einfach beiseite zu
schieben.
Für die beteiligten Arbeiter wurden die Streiks zu dem Mittel eigenständiger
Interessenfindung und der Interessenwahrung. Im Wege der gemeinsamen
Festsetzung konkreter Lebensbedürfnisse und -ansprüche wurden die Fundamente
für Interessenverbundenheit geschaffen, die dann im Streik ihre Probe aufs
Exempel zu bestehen hatten. Das Selbstvertrauen der streikenden Arbeiter
gründete hauptsächlich in sozialmoralischen Gerechtigkeits- vorstellungen
und Humanitätsgedanken, in der Wertschätzung der eigenen produktiven
Fähigkeiten sowie in (zum Teil handwerklich geprägten) Ehrbegriffen.
Getragen wurde es vielfach von dem festen Glauben, "daß guter Wille,
Gerechtigkeit und Menschenliebe unsere Forderungen sehr wohl zu erfüllen
vermögen".3
|
|
Der Unzufriedene, Ludwig Knaus 1877. [größeres Bild]
Maschinensaal der Firma Richard Hartmann in Chemnitz, um 1868. [größeres Bild]
Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900. [größeres Bild]
Zehnstundentagkämpfer aus Crimmitschau, Januar 1904. [größeres Bild]
Quittungs-Karte zum Streik-Fonds der Maurer, Berlin 1900. [größeres Bild] |