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Schneller als erwartet bekamen die Gewerkschaftsorganisationen die Chance,
sich ihr so oft beschworenes politisches Verantwortungsbewusstsein
gegenüber dem Gemeinwesen honorieren zu lassen. Die Regierung war bereit,
ihnen gewisse Entscheidungsbefugnisse im Rahmen der Kriegswirtschaftspolitik
einzuräumen. Aber sie verlangte einen hohen Preis, indem sie die
Gewerkschaften verpflichtete, auf das Streikrecht vorläufig zu verzichten
und dem Staatsapparat bei der Kontrolle und Verhinderung von sozialer
Unruhe zur Hand zu gehen. Die Gewerkschaften willigten mehr oder weniger
deshalb ein, weil sie sich erhofften, nun endlich als gleichberechtigter
Sozialpartner anerkannt zu werden. Mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916,
das ihnen lohnpolitische und andere Mitspracherechte sicherte, kam die
Reichsregierung diesen Erwartungen ein Stück weit entgegen. Den
Gewerkschaften aber fiel es umgekehrt zusehends schwerer, die Hoffnung
der Regierung auf eine Kontrolle und Beschwichtigung der Arbeiter zu
erfüllen. Die schlechte Lebensmittelversorgung und die kräftezehrende
Arbeit in der Kriegswirtschaft bei gleichzeitig sinkenden Reallöhnen
erregten so starken Unwillen, dass trotz aller gewerkschaftlichen
Ausgleichsbemühungen ab 1917 Arbeitsniederlegungen wieder um sich griffen
und die Kriegswirtschaftspläne der Militärs in Mitleidenschaft zogen.
Ansprüche auf verbesserte Lebensbedingungen und Friedenssehnsucht vermengten
sich schnell zu einem unübersehbaren Protestpotential, das besonders im
Januar 1918, als Zehntausende von Arbeitern in den Ausstand traten, zu
einem Politikum ersten Ranges wurde.
Die Hoffnung der streikenden Arbeiter(innen) in Berlin, Hamburg und anderen
Zentren der deutschen Arbeiterbewegung jener Tage, eine vorzeitige
Beendigung des Krieges durch Massenstreiks erzwingen zu können, erfüllten
sich nicht. Zwar warf die Novemberrevolution bereits im Januar 1918
deutlich ihren Schatten voraus, aber es bedurfte erst einer dramatischen
Verschlechterung der militärischen Lage an der Westfront, um das politische
System des Wilhelminischen Kaiserreichs zum Einsturz zu bringen, den Krieg
zu beenden und zumindest einige derjenigen Rechte gesetzlich zu verankern,
die den Arbeitern in Deutschland jahrzehntelang vorenthalten worden waren.
Die zentrale Arbeitsgemeinschaft, zu der sich Gewerkschaften und Unternehmer
am 15. November 1918 die Hand reichten, hat diese Phase eingeläutet.
Bilanz
Misst man die ungezählten Anstrengungen, die die Arbeiter auf dem Wege der
gemeinsamen Arbeitsniederlegung zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen von
einem menschenwürdigen und achtbaren Dasein unternahmen, an den sogenannten
materiellen Erfolgen - man könnte fast meinen, die Mühen hätten sich nicht
gelohnt. Aber das ist vielleicht nicht einmal die halbe Wahrheit. Streik -
das war vor allem die Sprache des Protests; ohne ihn wäre kaum vernehmbar
(gewesen), wie die Arbeitergenerationen der Industrialisierungsphase zu
arbeiten und zu leben hatten, was viele von ihnen dachten, fühlten und
wollten. Man kann die These wagen, dass erst Streiks die Grundlagen für
eine (proletarische) Gegenöffentlichkeit schufen, die erstmals
gesellschaftliche Tabuzonen auszuleuchten und damit den Herrschaftsspielraum
selbsternannter Machteliten einzuengen verstand. Streiks erwirkten
gewerkschaftliche Organisationen und nicht umgekehrt, auch wenn sie sich
paradoxerweise gegen diese später erneut zu behaupten hatten. Und
schließlich dieses: erst durch die lange Kette ihrer Streiks brachten die
Arbeiter es zustande, den Umgang mit ihren Problemen zum alles
beherrschenden innenpolitischen Thema des ausgehenden 19. und frühen 20.
Jahrhunderts zu machen. Das, was die deutschen Arbeiter bis zum Ende des
2. Reiches an Verbesserungen ihrer Lage hatten erreichen können, war
wahrlich nicht sehr viel; aber es wäre mit Sicherheit noch weit weniger
gewesen, wenn es am sozialen Druck unablässiger Arbeitskämpfe gefehlt
hätte. Eine "schöne neue Welt" haben sich die Arbeiter trotz aller
Auflehnungs- und Opferbereitschaft nicht zu erstreiken vermocht; ihre
Lebensumstände waren zu unsicher, ihre Einigkeit oft zu brüchig, ihre
Organisationen zu schwach und schwankend und ihre Gegner zu stark. Aber
immer wieder den gemeinsamen Versuch gemacht zu haben, den zahlreichen
Widrigkeiten ihres Daseins zu trotzen, darin lag mehr als "nur"
(Über-)Lebenswillen: darin äußerte sich auch ein Stück Lebensbejahung,
Selbstachtung und Zuversicht.
Anmerkungen
1 Vgl. Deutsche
Arbeiter-Zeitung Nr. I, 8.4.1848. [zurück zum Text]
2 Vgl. hierzu im einzelnen
Lothar Machtan, Streiks im frühen deutschen Kaiserreich, Frankfurt am
Main-New York 1983 sowie Ders., Streiks und Aussperrungen im deutschen
Kaiserreich. Eine sozialgeschichtliche Dokumentation für die Jahre
1871-1875, Berlin 1984. [zurück zum Text]
3 Streikaufruf Berliner
Metallarbeiter, zit. nach Neuer Social-Demokrat Nr. 104, 8.9.1872.
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Text]
4 STA Dresden KH Zwickau
Nr. 1998 (Immediat-Eingabe eines sächsischen Bergarbeiters vom 22.11.1870).
[zurück zum
Text]
5 Vgl. Machtan 1983 (wie
Anm. 2), S. 17, S.82. [zurück zum Text]
6 Wie Anm. 4.
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Text]
7 So der Liegnitzer Geheime
Regierungsrat Jacobi in einem Aufsatz für die Zeitschrift Concordia, Nr. 39,
26.9.1872. [zurück zum Text]
8 Jahresbericht der
Handelskammer Halle pro 1875, Halle 1876, S. 7. [zurück zum
Text]
9 Arbeitgeber Nr. 758,
11.11.1871. [zurück zum Text]
10 Zeitschrift für Gewerbe,
Handel und Volkswirtschaft IX, 1870, S. 25. [zurück zum
Text]
11 Berggeist Nr. 54,
4.7.1872. [zurück zum Text]
12 Aus einem Leitartikel
im Chemnitzer Tageblatt vom 19.11.1871, in dem seitens der Unternehmer
ein Fazit aus den vorhergehenden Streikauseinandersetzungen in der
Metallindustrie gezogen wurde. - Dort auch die beiden nachfolgenden
Zitate. [zurück zum Text]
13 Deutsche
Industrie-Zeitung Nr. 13, 27.3.1873. [zurück zum Text]
14 Essener Zeitung vom
29.6.1872 mit Bezug auf den großen Ruhrbergarbeiterstreik vom Sommer 1872,
wobei ausdrücklich betont wurde, dass diese Gegensätze "nicht ungestraft
wachgerufen werden können". [zurück zum Text]
15 Schlesische Zeitung vom
9.9.1871. [zurück zum Text]
16 Aus dem Quartalsbericht
des Magdeburger Regierungspräsidenten vom 22.4.1873, in: Staatsarchiv
Magdeburg, Rep. C20 Ib, Nr. 833, Bd. 5, Bl. 76. [zurück zum
Text]
17 Mittheilungen des Vereins
für die Wahrung der Wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen
Nr. I (November 1872), S. 9. [zurück zum Text]
18 Aus einem
Arbeitgeber-Plakat An die Metallarbeiter Berlins!, zit. nach:
Machtan 1984 (wie Anm. 2), S. 243. [zurück zum Text]
19 Aus einer Petition des
Vereins deutscher Maschinenbaufabrikanten an den Reichstag vom Mai 1873
(Bundesarchiv, Abt. Potsdam 14.01, Nr. 245. [zurück zum
Text]
20 H. Hickmann, Der soziale
Krieg, Dresden 1872, S. 11. [zurück zum Text]
21 Concordia Nr. 1,
1.10.1871. - Ebd. Nr. 4, 18.11.1871, auch das nachfolgende Zitat.
[zurück zum
Text]
22 Zirkular der koalierten
Fabrikanten von Chemnitz an ihre Auftraggeber vom 29.10.1871, zit. nach:
Machtan 1983 (wie Anm. 2), S. 224. [zurück zum Text]
23 Concordia Nr. 25,
20.6.1872. - "Sehen wir von dem Schreckbild der Commune ab",
schrieb im Winter 1872 der einflußreiche national-liberale Politiker
Ludwig Bamberger, "so gründet sich der Allarm [der sozialpolitisch
engagierten Öffentlichkeit] wesentlich auf die Erscheinung der
Strikes" (Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkte
des Vereinsrechtes, Stuttgart 1873, S. 48). Und dem Sozialkonservativen
Karl Rodbertus schienen gar die Streiks "das einzige Mittel zu sein
[...], die endliche Intervention des Staates zur Verbesserung der
Lage der arbeitenden Klassen zu veranlassen" (Leserzuschrift an die
regierungsnahe Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 23.11.1871).
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Text]
24 Vgl. hierzu im einzelnen
Lothar Machtan und R. Ott, "Batzebier!" Überlegungen zur sozialen
Protestbewegung in den Jahren nach der Reichsgründung am Beispiel der
süddeutschen Bierkrawalle vom Frühjahr 1873, in: H. Volkmann und
J. Bergmann (Hgg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz
und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung,
Opladen 1984, S. 128-166. [zurück zum Text]
25 National-Zeitung Nr. 188,
23.4.1873. [zurück zum Text]
26 Badische Landes-Zeitung
Nr. 94, 23.4.1873. Ebenda auch das nachfolgende Zitat.
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27 Klassisch formuliert
von Ludwig Bamberger: "Gift destilliren, Haß schüren, Zwietracht
stiften, die chimäristischsten Aussichten eröffnen, das ist das
A und O" der Sozialdemokratischen Agitation (Arbeiterfrage [wie Anm.
23], S. 256). [zurück zum Text]
28 Wie Anm. 25.
[zurück zum
Text]
Literatur
Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland
England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19.-20. Jahrhundert,
Bonn 1992.
Dick Geary, Arbeiterprotest und Arbeiterbewegung in Europa
1848-1939, München 1983.
Leopold Haimson und Charless Tilly (Hgg.), Strikes, Wars
and Revolution in an International Perspective, Cambridge 1989.
Michelle Perrot, Jeunesse de la Grève. France 1871-1890, Paris
1984.
Klaus Schönhoven (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und
Revolution 1914-1919 [Quellen zur Geschichte der deutschen
Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. I), Köln 1985.
Klaus Tenfelde und Heinrich Volkmann (Hgg.), Streik. Zur
Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung,
München 1981.
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Schmuckblatt zum Jahrestag der Gründung der deutschen Sozialdemokratie,
1913. [größeres Bild]
Aufruf "Halt! 10-Stunden-Arbeiter", November 1871. [größeres Bild]
"An die Proletarier aller Länder", Oktober 1871. [größeres Bild]
Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900. [größeres Bild] |