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Der Streik in der Kunst
La grève des mineurs, Der Streik, Arbeiterstrike, L'oratore dello
sciopero, The agitator, Strajk - die Bilder der Ausstellung belegen
die Verbreitung des Themas Streik in der europäischen Malerei des 19.
Jahrhunderts. Der Streik, in der damaligen gesellschaftlichen Realität
präsent und heftig diskutiert, aber auch gefürchtet, findet seinen
kulturellen und künstlerischen Ausdruck. Nicht nur in der Arbeiterkultur
durch spezifische Versammlungsformen und Verhaltensweisen, auch in der
Literatur und schließlich in der bildenden Kunst ist dieses Motiv und damit
die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem gesellschaftlichen
Konfliktstoff spätestens seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts
nicht mehr zu leugnen.
In den Zentren der Streikbewegungen - in Belgien, in Deutschland, in
Polen - fanden sich Künstler, die das Leben der Arbeiter abseits der
akademischen Normen künstlerisch beobachteten. Sie nahmen an diesem Leben,
an der Arbeit, an den sozialen und politischen Kämpfen insofern teil, als
sie diese künstlerisch und damit auch bewußt wahrnahmen. Das Ziel ihrer
Beobachtungen war die Weitergabe der bildnerischen Umsetzung ihrer
Erfahrungen an ein Publikum, an die Betrachter. Diese an sich einfache
Tatsache hat grundsätzliche Fragen zur Folge, die man sich für eine
Einschätzung des Bildes vom Streik stellen muß, denn das Motiv war nicht
selbstverständlich, mancherorts ging der Künstler ein politisches Risiko
ein: Wer waren die Künstler, und was waren ihre Absichten? Wer waren die
Betrachter oder welche sollten es sein? Was trägt die Analyse des Bildes
zur Beantwortung dieser beiden Fragen bei?
Die Künstler, von denen wir Streikbilder kennen, stammten in der Regel
aus bürgerlichen Kreisen. Sie fanden über die Genremalerei, den Realismus
und den Naturalismus zur Darstellung der Arbeiter. Nur wenige, wie z. B.
Theophile Steinlen oder Oscar Gräf, hatten eine direkte Verbindung zu
sozialdemokratischen Gruppen. Die selbständige Bildpropaganda der
europäischen sozialdemokratischen Parteien begann erst in den späten
achtziger und fand ihre künstlerische Ausformulierung in den neunziger
Jahren. Von den wenigen Künstlern, die direkt für die Publikationen der
Arbeiterbewegung arbeiteten - die also konkret parteilich gebunden waren,
da in der Regel die Redaktionen dieser Zeitschriften über Bildbeiträge
entschieden -, gibt es nur wenige nachweisbare Darstellungen über den
Streik. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, dass die uns bisher bekannten
Bilder vom Streik nicht unbedingt der Selbstdarstellung der organisierten
Arbeiterbewegung dienten.
Die Betrachterschichten der Streikbilder sind eingrenzbar. Die Gemälde -
d. h. die am eindringlichsten wahrnehmbaren Werke - waren in der Regel
im Atelier, in der Galerie, im Kunstsalon oder auf den großen
Kunstausstellungen in Berlin oder München zu betrachten. Daß an diesen
Orten das Bürgertum und der Adel das Publikum stellten, muß hier nicht
belegt werden. Die Gemälde wurden teilweise aber auch in Zeitschriften
verschiedenster politischer Couleur veröffentlicht; diese fanden ihre
Leser in kleinbürgerlichen und Facharbeiter- bzw. Gesellenkreisen. Die
Postkarte schließlich, auf denen sich jedoch nur sehr wenige Streikbilder
reproduziert fanden, hatte wegen ihres niedrigen Preises natürlich einen
großen Abnehmerkreis auch in Arbeiterschichten. Das Bild vom Streik war
also für diejenigen, die diese Streiks kämpften, nur sehr beschränkt
wahrnehmbar.
Die Streikbilder sind als narrativ strukturierte Ereignisbilder von der
Komposition her auf den Betrachterstandpunkt zugeschnitten. Den
Kompositionsschemata der Genre- und Historienmalerei entlehnt, bieten
sie in der Regel keine künstlerisch avantgardistischen Formneuerungen.
Umfassend neu ist allein das Thema, das die Künstler - gängige
Sehgewohnheiten einkalkulierend - für ein intellektuell nicht strapaziertes
Publikum gestalteten. Die Bilder sind auf Wirkung angelegt. Sie sind
Teil eines Kommunikationsvorgangs mit den jeweiligen Rezipienten. Sie sind
deutlich lesbar. Das Beziehungsgeflecht der einzelnen Bildteile und deren
Stellungen zum Betrachter - die "innerbildliche Handlung"1 - erscheinen interpretierbar wie
ein Theaterstück. Sie ergeben eine konzentrierte, teilweise typisierende
Darstellung, die kombinierbare Botschaften vermittelt. Deren
Entschlüsselung und rezeptionsästhetische Einordnung wiederum könnte
den politischen Stellenwert des einzelnen Streikbildes auch hinsichtlich
der oben aufgestellten Thesen deutlich machen. Denn "im Bild des
Dialogs Betrachter-Werk begreifen wir den spannungsvollen Ausgleich
von Kunst und Gesellschaft."2
Der norwegische Maler Theodor Kittelsen, der 1876-79 an der Münchner
Akademie studierte, malte im letzten Jahr seines Studiums eines seiner
bekanntesten Gemälde: Streik. Die Skizze zu dem großformatigen
Figurenbild, die in der Ausstellung zu sehen ist, verdeutlicht die
Grundaussage des Bildes. Der Betrachter ist mit einem Konflikt konfrontiert:
Links befindet sich eine Arbeitergruppe, angeführt von einem älteren
weißhaarigen Mann, der mit dem Unternehmer spricht; er wird direkt
unterstützt von einem Kollegen, der neben ihm steht und höflich seine
Mütze in den Händen hält. Der Rest der Gruppe verliert sich im dunklen
Hintergrund, der Betrachter kann den Raum nur erahnen. Ob sich eine
größere Menge angeschlossen hat, kann er nicht prüfen. In der rechten
Bildhälfte dominiert die Partei des Unternehmers. Dieser sitzt in
gepflegter Kleidung hinter einem mit rotem Stoff bezogenen Schreibtisch,
auf dem Papiere und Geschäftsunterlagen liegen. An seiner Seite sitzt
ein Kontorist, Zigarre rauchend und auf die Arbeiter blickend. Diese
rechte Szene ist von einer Deckenlampe hell erleuchtet. Die Arbeiter
verbleiben dagegen im Dunkeln; sie haben keinen Einblick in die Unterlagen,
auf die der Unternehmer mit seiner rechten Hand weist, und die ihm wohl
als Beleg dafür dienen, auf die Forderungen der Arbeiter nicht eingehen
zu können.
Kittelsen schildert eine Situation, die im kompositionellen Aufbau dem
Gemälde Arbeiter vor dem Magistrat (1848) von Johann Peter
Hasenclever gleicht. Auch dort sind die Arbeiter auf der linken Bildhälfte
versammelt, rechts sind die Stadtverordneten als Gegenpartei dargestellt.
Hasenclever zeigt aber einen Massenprotest, der für den Betrachter durch
das Fenster des Rathauses wahrnehmbar ist. Kittelsen dagegen skizziert
die Konfrontation Arbeiter-Unternehmer nicht als Konflikt zweier
gesellschaftlicher Gruppen bzw. Klassen. Seine Arbeitergruppe hat
traditionellerweise wohl dem ältesten Gesellen die Aufgabe des
Fordernden übergeben. Deutliche Reaktionen der anderen Arbeiter - wie
bei Hasenclever - sind nicht zu erkennen. Der Unternehmer steht dem
Arbeitersprecher als Individuum gegenüber. Kittelsen zeigt mit diesem
Bild den Streik als Konfrontation in kleinen Betrieben, in denen die
handwerkliche Struktur noch überwiegt. Die Handwerker stellten bis 1880
einen wesentlichen Teil der Hauptverantwortlichen für Streikmaßnahmen.
Lohnforderungen spielten dabei eine erhebliche Rolle. In unserem Bild
könnten die Unterlagen auf dem Tisch auf diese Forderungen hinweisen. Aus
zeitgenössischen Berichten wissen wir von derartigen Situationen zwischen
Handwerkergruppen und Unternehmern. Der Arbeiter Wenzel Holek schildert
einen Lohnstreit von 1877: "Als wir mehrere Wochen gearbeitet hatten
und uns eines Samstags abends, wie üblich, den Lohn im Kontor holen
wollten, gab's keinen. Der Kassierer sagte uns, daß wir erst Montag
abend kommen sollten. [...] Auch Montag und Mittwoch gab es dann
wieder kein Geld sondern erst Samstag. Nun standen schon zwei Wochen Lohn.
Als ich dann am Samstag abends Lohn holte und zum Kontor [...] kam,
standen schon viele Arbeiter wartend da. Einer aber schaute zwischen
Vorhängen und Fensterwand ins Innere und ich hörte ihn leise sagen: 'Der
Herr Graf sitzt drin.' 'Na da können wir heute warten. So lange der drin
sitzt, zahlen die nicht aus.' [...] Bis doch ein Mutiger erklärte:
'Ach was, kommt! Was geht uns das an, holen wir unser Geld.' Alles drängte
hinein. Der Graf war da und saß rechts auf dem Stuhl. Aber wir standen
wohl schon eine halbe Stunde drin, da suchte der Kassierer [...]
noch immer in den Listen und Büchern herum. Wir wußten immer noch nicht,
ob wir Geld bekämen oder nicht."3
Der Betrachter des Gemäldes von Kittelsen ist mit beiden Konfliktparteien
gleichwertig konfrontiert. Auf der gleichen Sichthöhe wie die Arbeiter
blickt er mit auf den Schreibtisch des Unternehmers, gleichsam als
Beobachter des Interessenstreits. Eine Parteinahme ist ihm freigestellt.
Die Lichtführung und das kontrastreiche Hell-Dunkel heben die
Hauptkontrahenten hervor. Die Endfassung des Gemäldes wurde auf der
Internationalen Kunstausstellung in Wien 1882 präsentiert. Dort "erregte
es trotz seiner malerischen Schwächen gewisses Aufsehen durch die kraftvolle
Charakteristik der Figuren."4 Die
Konfliktparteien waren also dem Kunstpublikum als Charakterfiguren
erfahrbar. Keine der Parteien ist jedoch in irgendeiner Weise
unsympathisch dargestellt - das Bild entstand in einem Jahr, in dem die
Statistik auch nur drei Streiks in Deutschland verzeichnete. Das
Sozialistengesetz gegen die Sozialdemokratie war allerdings bereits wirksam.
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Der Streikredner, Emilio Longoni 1891. [größeres Bild]
Arbeiterstrike, nach einem Gemälde von Christian Ludwig
Bokelmann. [größeres Bild]
La Grève des Mineurs, Alfred Philippe Roll 1880. [größeres Bild]
Strike, Theodor Kittelsen 1879. [größeres Bild]
Arbeiter vor dem Stadtrat, Johann Peter Hasenclever 1848/49. [größeres Bild] |