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"Der Streik
Es gährte schon lange unter den Arbeitern; täglich fanden Versammlungen
statt, in einer Reihe von Gegenden hatten sie die Arbeit bereits
eingestellt, nun wurde es auch unter den Ladern unruhig. Das war nicht mehr
jenes fröhlich geschäftige Treiben in den Speichern, ein ernster mürrischer
Geist ging um und lähmte die Arbeit. Wenn zwei Arbeiter zusammenstanden,
hatten sie heimlich mit einander zu flüstern, und nahte der Aufseher, so
fuhren sie scheu auseinander. Des Abends war noch einmal große Versammlung;
dabei ging es sehr stürmisch her, ein sozialdemokratischer Agitator sprach,
und seinen Ausführungen gelang es, die Köpfe noch heißer zu machen. Unter
Geschrei und Lärm wurde, falls die Arbeitgeber nicht auf die Mehrforderungen
eingehen sollten, ein allgemeiner Streik beschlossen. Des andern Morgens
saß der Kaufherr im Komptoir über seinen Büchern, da wurde ihm gemeldet,
daß die Arbeiter die Speicher verlassen und sich vor der Wohnung versammelt
hätten, ihn zu sprechen. Kurz entschlossen trat er hinaus - und stand
seinen Arbeitern gegenüber, sein Blick sah halb trotzige halb scheue
Gesichter. Der Sprecher der Arbeiter trat vor, und während er die
Forderungen begründete, redete er sich mehr und mehr in Zorn. Auch von
den Andern wich die Spannung des ersten Augenblicks und mit zahlreichen
Zwischenrufen unterstützten sie den Redner. Ernst und streng war die
Antwort, die Forderungen wurden abgewiesen, der Streik war da. Als der
Kaufherr wieder bei seinen Büchern saß, rechnete er hin und her, und
schwere Sorgen machten ihm den Kopf heiß: Wie lange wird es bei den
vielen Verbindlichkeiten auszuhalten sein? Auch von den Arbeitern
rechnete mancher gewiß seine kleinen Ersparnisse zusammen und fragte
sich besorgt:: Wie lange wird es auszuhalten sein? Wochen, vielleicht
Monate voll Noth und Elend! Sorgen auf beiden Seiten; in die Hofwohnung,
vier Treppen hoch, ist die Sorge eingekehrt, aber auch in der Villa des
Arbeitgebers klopft sie an. Wer Schuld daran war? Vielleicht beide. Hier
ein wenig mehr freundliches Entgegenkommen, dort ein wenig mehr zufriedene
Willigkeit, dann hätte es sich machen lassen."
Diese Erzählung ist abgedruckt in der als staatstreu einzuordnenden
Kaiserzeitung von 1893.5 Als
Illustration des Textes dient ein Ausschnitt aus Robert Koehlers Der
Streik. Das Gemälde, im Mittelpunkt dieser Ausstellung und die wohl
bekannteste und verbreitetste Streikdarstellung, diente hier einer sehr
versöhnlichen Schilderung des Interessengegensatzes zwischen Arbeit und
Kapital. Der Konfliktstoff und die Lage der Arbeiter als auf den Unternehmer
angewiesene Lohnabhängige sind von dem Erzähler erkannt und akzeptiert.
Er stellt sie nicht in Frage, sondern verlangt einen - modern ausgedrückt -
sozialpartnerschaftlichen Umgang zwischen diesen beiden gesellschaftlichen
Gruppen. Das Bild war ihm - so ist anzunehmen - Inspiration zu dieser
Erzählung und deren politischem Standpunkt. Koehler gab ihm Stoff für
seine politische Einschätzung, zeigt doch das Gemälde keine absolut
geschlossene Front zwischen Arbeitern und dem "Kaufherrn". Koehler bietet
dem Betrachter, der sich in deutlicher Distanz zum Geschehen befindet,
ein Kaleidoskop von Verhaltensweisen und damit auch
Entscheidungsmöglichkeiten über das Für und Wider von Streikmaßnahmen und
Protestverhalten an. In dem Bild wird heftig diskutiert, nicht nur zwischen
dem Unternehmer und dem anführenden Arbeiter, sondern auch in der
Arbeitergruppe selbst. Im Bildmittelpunkt findet eine Auseinandersetzung
zwischen einer Frau und ihrem Mann statt. Sie scheint ihn zurückhalten zu
wollen. V-förmig ist von dem Paar aus die Arbeiteransammlung in den
Hintergrund komponiert. Aus diesen Kompositionslinien fallen eindeutig
der Mann im rechten Vordergrund, der einen Stein aufheben will, und als
sein Gegenpart die Mutter mit zwei Kindern in der linken Bildhälfte heraus,
die zum Unternehmer aufblickt. Das neben ihr stehende Kind schafft mit
seinem Blick die Verbindung zum gewalttätigen Mann. Koehler zeigt
Lernprozesse auf: Lernprozesse zwischen Arbeiter und Unternehmer, zwischen
Arbeiter und Arbeiter, zwischen Arbeiterin und Arbeiter. Seine realistische
Gestaltung der Charaktere, die Lebendigkeit der Komposition und damit
des Geschehens vermitteln dem Betrachter ein gesellschaftliches Schauspiel
voller Dramatik, aber auch nachfühlendem Mitleid. Die Beliebtheit und
Verbreitung dieses Bildes ist in dieser Offenheit der Teilnahme begründet -
sowohl für den Betrachter aus der Arbeiterschicht, der diskutierend
rezipieren konnte, als auch für den bürgerlichen Betrachter, der seinerseits
Schlüsse ziehen konnte, wie die Erzählung aus der Kaiserzeitung
belegt. Viele Jahre später schrieb auch der Schriftsteller Peter Weiss:
"Unzählige Male, schon als Kind, hatte ich dieses Bild betrachtet und
mit meinen Eltern drüber gesprochen, und immer wieder regte es die Phantasie
zu neuen Auslegungen an. In der Gruppe der auf dem freiem Platz vor dem
Haus versammelten Arbeiter schienen alle Entwicklungsmöglichkeiten des
entstandenen Konflikts enthalten zu sein."6
Diese Offenheit riskiert, auch den bürgerlichen Betrachter statt zu
erschrecken zu animieren. Dass Konflikte zwischen Arbeiter und Kapitalist
mit "freundlichem Entgegenkommen" und "ein wenig mehr zufriedener
Willigkeit" gelöst werden könnten, bleibt in diesem Bild, trotz seiner
außerordentlichen Bedeutung in der Geschichte der Streikdarstellungen, als
Möglichkeit bestehen. Eine Lösung deutet sich in diesem Bild nicht an,
geschweige denn eine bildnerische Formulierung politischer Programmatik.
Seine Wirkung beruht einzig und allein auf der deutlich gestalteten,
physisch unruhigen Übermacht der Arbeiter. Doch dies war noch kein
Programm, wie es der sozialdemokratische Arbeiter August Siegel in der
zugespitzten Phase des großen Ruhrbergarbeiterstreiks von 1889 formulierte:
"Kameraden! Ihr wißt, wie brutal wir die langen Jahre von unseren
Arbeitgebern behandelt worden sind. Nun, daß der Streik ausgebrochen ist,
ersuche ich euch, in aller Ruhe den Dingen entgegenzusehen, die jetzt
kommen. Mag die Macht entscheiden, aber vor allem: haltet euch ruhig.
Unruhe kann unsere Sache nur schädigen."7 |
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Der Streik, Robert Koehler 1886. [größeres Bild]
Robert Koehler, um 1886. [größeres Bild]
Der Sozialist, Robert Koehler 1885. [größeres Bild]
Strajk, Stanislaw Lentz 1910. [größeres Bild]
Arbeiteraufstand - Rote Fahne, Jakob Steinhardt um 1920. [größeres Bild] |