|
"Lächerlich und wirr" sollten nach Meinung der deutschen
sozialdemokratischen Kunstkritik die Künstler die soziale Lage nicht
schildern, so wie auch in der politischen Programmatik ein chaotischer
Aufruhr - wie ihn Luyten thematisiert - keine politische Basis finden und
somit auch nicht zur Darstellung kommen sollte, denn: "Die deutsche
Arbeiterschaft steht geistig viel zu hoch, als daß ihr Straßenkrawalle in
den Sinn kommen könnten; sie, voll von der Erhabenheit ihrer Kulturideale,
voll mannesstolzen Solidaritätsgefühlen, weiß ihre Riesenschaaren in
musterhafter Selbstordnung zu halten."15
In diese Selbstordnung sollte auch der Künstler eingebunden sein, denn
die "einzig richtige Auffassung der Gegenwart ist die sozialistische.
Der Künstler unserer Zeit muß Sozialist sein. Er muß Sozialdemokrat
sein".16 Der Künstler habe
eine "Tendenzkunst" zu schaffen, "die als Verbündete dem
wirthschaftlichen und politischen Befreiungskampfe sich zugesellt"17, "beseelt vom Herzschlag der
Arbeiterklasse"18. Sie solle
zwar die "unterdrückte Masse in Not und Elend, aber all' ihre Kräfte
anspannend im edlen Streben nach einer idealeren Gestaltung des
Lebens"19 schildern, aber - im
Gegensatz zum Naturalismus - nicht nur "Dürftigkeit, Brutalität und
Häßlichkeit", sondern "lebenskräftige Ideale"20 zeigen, eine Kunst sein, "die
dem klassenberußten Arbeiter jene Luft entgegenweht, in welcher er
[...] kämpft und strebt".21
Oscar Gräf war einer der Künstler, der für sozialdemokratische Publikationen
wie den Wahren Jacob arbeitete und versuchte, diesem Kunstideal
nahe zu kommen, das allerdings auch in der SPD nicht unumstritten war.
Seine Zeichnung Aussperrung die im Wahren Jacob 1893 als
Illustration zu einer Erzählung von Jacob Audorf mit dem Titel Der
Ausgesperrte erschien, zeigt eine deutlichere Zielrichtung als die
anderen beschriebenen Bildbeispiele. Der Betrachter ist direkt - die untere
Bildgrenze durchschneidet die Figuren, die Rückenfigur rechts führt ihn
in das Bild ein - mit der Wut des Arbeiters konfrontiert. Die Kopfwendung
des erregten Arbeiters führt den Blick in den Hintergrund, wo sich eine
Arbeitermenge vor der Bekanntmachung der Aussperrung sammelt. Die zeigende
Hand und der ebenfalls wütende Blick des Arbeiters in ihrer Mitte weisen
noch einmal deutlich auf die Ursache dieser Empörung hin. In diesem Bild
sind keine kontrastierenden Bewegungen unterschiedlicher Meinungen oder
Zweifelnde und Verzweifelte - wie bei Luyten oder Koehler - zu bemerken.
Die politische Richtung ist eindeutig.
Besonders eindringlich zeigt sich dieser Unterschied in einer Darstellung
Gräfs, die sich wie Luytens Werk auf die Lage und die Kämpfe der belgischen
Bergarbeiter bezieht. 1895 reproduzierte der Wahre Jacob Gräfs
Versammlung streikender Bergleute. Dargestellt ist eine
Massenversammlung auf einem von Bäumen umgebenen Platz. Die unübersehbare
Menge füllt zwei Drittel der Bildfläche aus. In ihrer Mitte stehen drei
Männer auf einem liegenden Baumstamm. Die zentrale Gestalt bildet ein
Arbeiter, der die Versammlung überragt. Mit erhobener Faust agitiert er
mit offensichtlicher Wut. Er hält einen alten, gebeugten Kollegen umarmt,
der seinen Zorn mit geballten Fäusten zum Ausdruck bringt. Der größte Teil
der Versammlung ist vom Agitator gebannt. Erhobene Fäuste, entschlossene
Mienen und starre Blicke zeugen von der Wirkung der Rede. Daneben finden
sich aber auch nachdenkliche und besorgte Mienen. Die gesamte Szene
verliert jedoch durch diese Reaktionsvarianten nicht an agitativer Kraft,
da Gräf die Aussage eindeutig auf die kämpferische Energie konzentriert,
die im Agitator kulminiert.
Der Künstler schildert in dieser Darstellung kein konkretes Streikgeschehen,
sondern eine Szene aus Emile Zolas Germinal, dem berühmtesten
Streikroman des 19. Jahrhunderts. Gräf bezieht sich auf eine bestimmte
Szene, in der der Arbeiterführer Stephan, einen alten Bergarbeiter umarmend,
von einem Baumstamm aus einer Arbeitermenge in heftiger Erregung das Leid
der Bergleute schildert. Beschreibt Zola aber "wütende Gesichter mit
offenem Mund, blitzenden Augen, die ganze Brunst des Volkes"22 und politisch konkurrierende
Arbeitergruppen, die die Versammlung stören, so zeigt Gräf diese Aspekte
kaum wahrnehmbar nur ganz am Rande. Zolas naturalistische und damit auch
die negativen Seiten einer Arbeiteraktion konstatierende Schilderung wird
also von Gräf zu einer grundsätzlich positiv ausgerichteten Streiksituation
verändert, die zwar zurückhaltende Positionen markiert, jedoch insgesamt
eine geschlossene Kampfkraft vorstellt. Er gestaltet die Streikversammlung
aus einer eindeutig parteilichen Haltung, die sich ebenfalls in der
Komposition der Menge ausdrückt: Im Unterschied zu Luytens Streik
ist sie hier nicht weitgehend bildparallel und bühnenhaft angelegt. Leerer
Raum im äußersten Vordergrund vermittelt nicht Distanz; Rückenfiguren im
Vordergrund und die Überschneidung von Figuren vom unteren Bildrand
suggerieren bildkompositionell, dass sich der Betrachter in der Menge
befindet.23 Gräf integriert den
Betrachter und bietet ihm zugleich eine optische Gasse zum Mittelpunkt
an: zum Agitator. Der Künstler spitzt die Szene pyramidenförmig auf den
Redner zu und bewirkt damit eine optische Sogwirkung, in der der
Arbeiterführer weniger als bewusst lenkender und anleitender Genosse,
sondern mehr als der konzentrierte Ausdruck der versammelten Wut und
Kampfkraft erscheint.
Gräfs Darstellung ist in der Publizistik der deutschen Sozialdemokratie
eine Ausnahme. Nach 1895 findet sich keine weitere Darstellung dieser Art,
zu sehr schien selbst den sozialdemokratischen Redakteuren das positive
Ideal, die deutliche Programmatik zu fehlen, die sich vorzugsweise in
allegorischen Darstellungen formulierte.24 Dennoch zeigt sich anhand dieses Bildbeispiels von Gräf
die Relativierung der politischen Positionen früherer Streikbilder. Erst
ab 1905 im Zusammenhang der Massenstreikdebatten finden derartige
Darstellungen in der sozialdemokratischen Publizistik ihre Fortsetzung
in Demonstrationsbildern unterschiedlichster Identifikationskraft.
Die geschilderte Entwicklung belegt, dass erst mit dem gestiegenen
Organisationsgrad der Arbeiterbewegung, ihrer Künstler und auch der
potentiellen Betrachter Bilder vom Streik entstehen, die "Beteiligung
verlangten"25 und zwar dadurch,
dass - neben der Parteilichkeit der Künstler - dem Bild eine Tendenz zur
Überschreitung seiner ästhetischen Grenze hin zum "Realraum"
inhärent ist. Es musste deutlich werden, "daß die Überschneidung der
ästhetischen Grenze als das aktive Heraustreten des Kunstwerks über den
eine eigene Welt darstellenden Kunstraum als eine tendenzerfüllte Attacke
auf den Beschauer angesehen werden kann. Dieser soll durch das in seinen
Raum übergreifende Kunstwerk, das einen Realitätszusammenhang mit ihm
selbst herstellt, in irgendeinem Sinne beeinflußt werden".26 Die Gegenwart des Betrachters wird -
bewusst oder unbewusst - mitgedacht, und als "politische Präsenz
formuliert. Der Betrachter ist nicht nur Augenzeuge, er ist
'Komplize'"27, noch deutlicher:
"Er wird zur Partei erklärt".28 Sein unparteiischer Standpunkt wie vor Kittelsens Bild
wird ihm nicht mehr gegönnt.
Am beeindruckendsten zeigt sich diese Entwicklung an dem Gemälde Der
Volksredner von Erik Henningsen. Auch wenn hier kein Streikbild, sondern
die Schilderung eines Erster-Mai-Festes gestaltet ist, wie überhaupt das
Streikbild gegen Ende des Jahrhunderts in Aufbau und Inhalt dem
Demonstrationsbild zu gleichen beginnt29, nimmt das Gemälde als Beispiel der veränderten Wahrnehmung
der Arbeiterbewegung eine herausragende Stellung ein.
Der Agitator in der linken Bildhälfte überragt die Arbeitermenge, die sich
auf die rechte Hälfte konzentriert. Sie rückt bis an den unteren Bildrand
heran, wird von diesem überschnitten. Der Betrachter befindet sich auf
Augenhöhe mit den Vordergrundfiguren. Das kleine Mädchen wendet sich
direkt zum Betrachter - er befindet sich gleichsam räumlich auf der Seite
der Arbeiter; die Absperrung am unteren Bildrand trennt ihn wie die
Arbeitermenge von den berittenen Polizisten, die die Versammlung
überwachen.
Der Wahre Jacob bespricht dieses Gemälde, das ein Jahr nach seiner
Entstehung auf der Großen Münchner Kunstausstellung 1900 im Glaspalast zu
sehen war, und lobt es als ein "den Beschauer fesselndes" Bild. Der
Maler habe "einen Griff ins Arbeiterleben getan. [...] Mit
überzeugender Kraft hat der Künstler die Massen gepackt und trotz der
scharfen Individualisierung des einzelnen das Persönliche ausgelöst und
die Klasse dargestellt, die ihre Kraft kennt und genau weiß, was sie will;
die Klasse, die auf dem einmal beschrittenen Wege nicht innehalten wird
bis das Ziel erreicht ist: die Erlösung der Menschheit aus den Fesseln
des Junker- und Pfaffentums und des Kapitalismus."30 Der Betrachter soll dabei Position
auf der richtigen Seite beziehen. |
|
Aussperrung,
Oscar Gräf 1893. [größeres Bild]
Streik der Hammerschmiede,
Holzstich nach Theodor Esser. [größeres Bild]
Versammlung streikender Bergleute
von Oscar Gräf. [größeres Bild]
En Folketaler, Erik Henningsen 1899. [größeres Bild]
Studie zu Fiumana, Giuseppe Pellizza da Volpedo 1895/96. [größeres Bild] |