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Der belgische Maler Hendrik Luyten verbrachte 1886/87 fünf Monate im
Borinage, dem wichtigsten Industriegebiet Belgiens. Ergebnis dieses
Aufenthaltes war das Werk Streik, das in der traditionell sakral
gedeuteten Form des Triptychons eine der eindrucksvollsten künstlerischen
Gestaltungen des Motivs Streik darstellt. Zeigt Koehler die unterschwellig
aggressive, aber doch noch offene, dem Betrachter auch deutlich
übersichtliche Konfrontation zwischen Arbeitern und dem Unternehmer, so
ist auf dem Mittelbild von Luytens Triptychon ein dramatisches Geschehen
zu beobachten. Der Gegner, das Kapital, bleibt unsichtbar. Lugten zeigt
die Opfer und ihre Erregung angesichts eines Konfliktes, der sie wohl in
den Hunger getrieben hat, wie es die Forderung auf dem Schild in der Menge
(Du Pain) belegt. Die ausgebrochene Wut ist als eine Reaktion auf
das Verhalten des Gegners deutbar. Im kompositionellen Mittelpunkt des
Gemäldes steht vor einer roten Fahne der die Versammlung aufrüttelnde
Redner mit dem Rücken zum Betrachter. Mit einem Fuß auf dem Tisch und
dem anderen auf einem halb zerstörten Stuhl stehend, scheint er mit
heftigen Gesten auf die Versammlung einzureden:
"Der Führer steht erhöht; wie schwarze Wolken
Ballt er Gedanken heiligen Zorns zusammen;
Und Spannung hält gefesselt die Gesichter,
Und Blitz auf Blitz durchzuckt die Männerherzen, -
Bis gleich dem Hagel wilder Beifall prasselt,
Und Rufen tönt und donnergleiches Grollen
[...]"8
Alles schreit aufeinander ein. Mit extremer, sich kreuzender und ausladender
Gestik sind die Meinungen miteinander konfrontiert. Im Hintergrund drängt
sich eine Menge mit hochgerissenen Armen, in den Fäusten Werkzeuge als
Waffen, wie eine Woge zum Redner: "Das war kein Beifall mehr, der da
den Saal durchbrauste, das war ein Rausch der Trunkenheit; das waren
entfesselte Leidenschaften, die einem Gewittersturm gleich das Meer der
Unzufriedenheit peitschten."9
Die Bildfläche ist vollkommen ausgefüllt, die Hände stoßen an die
Bildoberseite oder überschneiden sie; von rechts und links drängen weitere
Arbeiter in das Bild; eine Erfahrung des Raumes ist für den Betrachter
nicht möglich; ihm präsentiert sich eine dichte Masse von Menschen in
grau-blauer Arbeitskleidung; die Gesichter sind verzerrt, von heftiger
Leidenschaft gezeichnet:: "Der Lärm schwillt und schwillt, die Masse
wächst und wächst, schwarz und kribbelnd bis zum Hintergrund, in alle
Winkel."10 "Welch stickende,
unerträgliche Hitze drinnen, welch verpestete Luft!"11
Luyten gibt eine naturalistische Schilderung der Arbeiterversammlung,
vergleicht man sie - wie hier durch die Zitate - mit der gleichzeitig
entstandenen Literatur des Naturalismus. Dort mischt sich das literarische
Interesse des Schriftstellers und Intellektuellen an der Arbeiterproblematik
mit angstvollen Metaphern von der bedrohlichen, nicht kontrollierbaren Welt
des Proletariats. Dennoch, Luyten bewahrt Distanz durch die wohlausgewogene
Komposition, in der er diese Versammlung einbindet. Zentrierung der
Handlung auf die Mittelfigur, gleichgewichtige Aufteilung der Bildzonen
und die theatralische Ausdrucksgestik erinnern an die französische
Historienmalerei der Revolutionszeit, die aber in der Regel mit starken
Appellen an den Zuschauer verbunden ist, in der "jede Figur [...]
sich vor Zuschauern zu präsentieren" scheint.12 In Luytens Bild sind dagegen keine direkten Appellfiguren
zu erkennen. Der Redner steht mit dem Rücken zum Betrachter, seine Handlung
ist auf die Menge gerichtet, die der Betrachter nur beobachten kann. Im
Distanz schaffenden Bildvordergrund sind ihm dagegen die Zweifelnden,
Niedergeschlagenen und Toten präsentiert. Sie leiten das Bild kompositionell
ein.
Die beiden Flügel des Triptychons - zeigen sie die Folgen oder die
Ursachen des Streiks? Links die Mutter mit ihren Kindern auf verlassener,
regennasser Straße, rechts die toten Frauen, Männer und Kinder, vor denen
ein Soldat in aufrechter, aber dennoch trauriger Haltung Wache hält. Ist
die Versammlung Folge dieser grauenvollen Niederlage, oder sind diese
Toten Folge des Aufruhrs, der sich im Mittelbild schon in den bewaffneten
Arbeitern und in den im Vordergrund liegenden Steinen und der Pistole
andeutet? Obwohl Luyten ein konkretes Streikerlebnis im Borinage vor
Augen hatte und auf dieses wohl Bezug nimmt; erhält das Werk durch die
überlieferte Form des Triptychons "als Pathosformel"13 und die von allen Hinweisen auf
ein konkretes Geschehen freie Erzählung des Bildes einen allgemeingültigen
Charakter. Der hier vermittelte Eindruck ist durch Not, Leid, unbändige
chaotische Wut und Verzweiflung der Arbeiter bestimmt, deren Bedrohlichkeit
dem Betrachter durch die dramatische Gestik und scheinbar unkontrollierbare
Dynamik offensichtlich wird. Diese Wahrnehmung des Arbeiterprotestes, ihre
Nähe zum Naturalismus, ließ zumindest die Kunstkritiker der deutschen
Sozialdemokratie auf deutliche Distanz zu Luyten gehen. Sie sahen ihre
"Ideale" in seinen Bildern nicht gespiegelt - im Gegenteil, der
Klassenfeind schien dort am Werke zu sein.
In der Großen Berliner Kunstausstellung von 1893 hing Luytens Gemälde
Kampf ums Dasein, das von Thema und Aufbau unserem Mittelbild
nahe kommt. In der Neuen Zeit, der theoretischen Zeitschrift der
deutschen Sozialdemokratie, wurde das Bild heftig als eine "grelle und
unschöne Schilderung" kritisiert, "die selbst der beste Inhalt nicht
retten kann": "Henry Luyten [...] will eine Arbeiterrevolte
veranschaulichen. Eine rothe Fahne ist aufgepflanzt und auf einer daneben
gestellten Tafel liest man die Forderung der Aufständischen: Du pain!
Darum gruppiert sich eine Schar wildbewegter blaublusiger Arbeiter. Alles
brüllt und wüthet sinnlos durcheinander. Am Boden liegen Verwundete, die
nothdürftig verbunden sind. Nirgends ein sympathischer Zug, überall
verthierte, grenzenlos gemeine Gesichter und Gestalten. So bringt das Bild
die völlige Unfähigkeit des Malers, zu individualisieren und naturwahr zu
charakterisieren, zu prägnantem Ausdruck; es erweckt den Anschein, als habe
der Maler der Bourgeoisie aus der Seele sprechen wollen: das sind unsere
Arbeiter, unsere Sozialisten und Revolutionäre. Hieraus erklärt es sich
auch hinlänglich, weshalb die Jury das Bild nicht zurückwies: es sollte
eben kompromittirend und erschreckend wirken. [...] Ein Arbeiter,
der die große Berliner Ausstellung besuchte, bemerkte [...] recht
treffend, daß diese Versuche nur zeigen, wie lächerlich und wirr die
soziale Frage in den Künstlerköpfen spukt."14 |
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De Werkstaking,
(Triptychon, linke Seite), Hendrik Luyten 1888. [größeres Bild]
De Werkstaking,
(Triptychon, Mitte), Hendrik Luyten 1888. [größeres Bild]
De Werkstaking,
(Triptychon, rechte Seite), Hendrik Luyten 1888. [größeres Bild]
Statschka (Streik), Nikolaj Alexejewitsch Kasatkin 1906. [größeres Bild]
Pogrzeb strajkujacego (Begräbnis eines Streikenden),
Stanislaw Poraj Fabijanski 1907. [größeres Bild] |