Deutsches
Historisches
Museum
"Streikexzesse" -
Zur öffentlichen Un-Ordnung im Kaiserreich
Thomas Lindenberger, Seite 1 2 3
Zu diesen in der Lebensweise der Arbeiterschaft verankerten Verhaltensmustern kam aber noch ein weiterer Beweggrund für spontanen Widerstand bei Streik: Der Schutz der Arbeitswilligen bedeutete einen Eingriff der Polizei in einen Normenkonflikt unter Arbeitern. Arbeitswillige stellten in der Arbeiterklasse die Inkarnation der Ehrlosigkeit dar. Ihr Schutz wurde als eine besonders massive Form der sozialen Diskriminierung seitens des Staates erfahren; ehrlose, im schlimmsten Fall offenkundig kriminelle Verräter erhielten hier eine Vorzugsbehandlung durch eine offiziell dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtete Institution.
Im Gegenzug artikulierten Streikkomitees und Gewerkschaftsfunktionäre ihre rigorose soziale Abgrenzung von diesen "Schmeißfliegen am Leibe des Proletariats". Die "Minderwertigkeit" von Arbeitswilligen wurde in der Berichterstattung über die Streiks durch Reportagen über deren Untauglichkeit, Primitivität und Brutalität herausgestellt. Dass dieselben Gewerkschaftsfunktionäre mit der bisweilen nicht weniger brutalen Gegenwehr der Streikenden ihre liebe Not hatten, läßt sich an den verharmlosenden Darstellungen von "Streikexzessen" in der Arbeiterpresse ablesen. Gewaltsame Konflikte wurden häufig ignoriert oder als aufgebauschte Nebensächlichkeit abgetan. Auch vor fremdenfeindlichen Stereotypen scheute man nicht zurück, wenn es galt, ausländische Arbeitswillige anzuprangern, kamen sie nun aus Italien, Böhmen, Galizien oder Polen. Zugleich wurden bei Streiks immer wieder eindringliche Ermahnungen an die Streikenden gerichtet, unter allen Umständen die Disziplin zu wahren und sich nicht provozieren zu lassen.
Streikende Arbeiter waren also von zwei Ordnungsinstanzen mit Zumutungen konfrontiert: Zum einen von der Staatsgewalt, die sich durch die Duldung, ja Förderung der Gewalt Arbeitswilliger permanent selbst um ihr Ansehen bei den Arbeitern brachte, zum anderen von der Gewerkschaft, die im Arbeitskampf auch ihre gesellschaftliche Ordnungsfunktion, ihre Kompetenz als alternative "Arbeiterpolizei" unter Beweis stellen wollte. Dass die sozialdemokratischen Funktionäre mit diesem "Lernziel" bei ihrer Klientel nur bedingt durchdrangen, hing paradoxerweise eng mit ihrem sonstigen generellen Erfolg zusammen: In dem Maße, wie sich die Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft als legitime Vertreterin einer entrechteten Klasse durchsetzen konnte, verbreitete sich unter Arbeiterinnen und Arbeitern ein besonderes Ehrgefühl, das durch die fortwährende Diskriminierung im Straßenalltag, aber insbesondere bei Konfliktsituationen wie Streiks, um so mehr herausgefordert wurde.

Nach den Moabiter Unruhen im September 1910, bei denen sich aus Anlaß eines Streiks die Bevölkerung eines ganzen Arbeiterquartiers über drei Tage hinweg im Aufruhr gegen die Schutzmannschaft befand, versuchte der sozialdemokratische Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine den bürgerlichen Richtern mit folgenden Worten verständlich zu machen, woraus sich der Widerstandsgeist der Arbeiterschaft nährte: "Der überwiegende und führende Teil der Moabiter Bevölkerung ist sozialdemokratisch. Wenn die Einwohner nicht durch die kulturellen Einflüsse der Arbeiterbewegung ein Ehrgefühl hätten, wie man es in anderen Ständen als selbstverständlich voraussetzt, so würden sie die von den Polizisten ausgeteilten Prügel für selbstverständlich halten und sie ruhig hinnehmen. Wenn es so wäre, dann würde die Sache glatter gegangen sein. Die Leute würden dann mit dem blöden Lächeln eines russischen Muschiks die Säbelhiebe dankend hingenommen haben."
Auch sein Kollege Heinemann plädierte dafür, das "Solidaritätsgefühl der Arbeiter" mit der in höheren Schichten selbstverständlichen Standesehre auf eine Stufe zu stellen. Die Arbeiter verfügten über keinerlei juristische Mittel, um im Arbeitskampf ihre Interessen gegen unsolidarisches Verhalten zu schützen. "Wo der rechtliche Zwang fehlt, entwickelt sich natürlich das moralische Gefühl für die Interessen der Klassen um so stärker."


Literatur

Klaus Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und Außenpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903-1914, Düsseldorf 1974 (nach wie vor die gründlichste Analyse der obrigkeitlichen und unternehmerischen Maßnahmen gegen Streiks).

Ralph Jessen, Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Industriegebiet 1848-1914, Göttingen 1991 (hervorragende Regionalstudie zu Funktion und Ausbau der Polizei während der Industrialisierung).

Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde, Lohnarbeit, Arbeiterleben und sozialer Konflikt. Arbeiter im Kaiserreich 1871/75 bis 1914, Bonn 1992 (die den neuesten Stand der Forschung repräsentierende Darstellung zur Arbeiterschaft im Kaiserreich).

Gudrun Fröba und Rainer Nitsche (Hgg.), Arbeitslose machen Geschichte, Berlin 1983.

Soweit nicht anders angemerkt, beruht die voran gegangene Darstellung auf den Ergebnissen der Untersuchung des Autors: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte öffentlicher Ordnung in Berlin, 1900-1914, Phil. Diss, TU Berlin 1992.
 
Plünderung einer Kolonialwarenhandlung
Plünderung einer Kolonialwarenhandlung am Engelufer in Berlin am Abend des 25. Februar 1892.

Illustrierte Zeitung, Nr. 2541, 12. März 1892, S. 27.
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Die Unruhen in Berlin-Moabit, 1910

Die Unruhen in
Berlin-Moabit, 1910.

London Illustrated News, 8. Oktober 1910, S. 551.
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