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Zu diesen in der Lebensweise der Arbeiterschaft verankerten Verhaltensmustern
kam aber noch ein weiterer Beweggrund für spontanen Widerstand bei Streik:
Der Schutz der Arbeitswilligen bedeutete einen Eingriff der Polizei in
einen Normenkonflikt unter Arbeitern. Arbeitswillige stellten in der
Arbeiterklasse die Inkarnation der Ehrlosigkeit dar. Ihr Schutz wurde als
eine besonders massive Form der sozialen Diskriminierung seitens des
Staates erfahren; ehrlose, im schlimmsten Fall offenkundig kriminelle
Verräter erhielten hier eine Vorzugsbehandlung durch eine offiziell dem
Wohl der Allgemeinheit verpflichtete Institution.
Im Gegenzug artikulierten Streikkomitees und Gewerkschaftsfunktionäre ihre
rigorose soziale Abgrenzung von diesen "Schmeißfliegen am Leibe des
Proletariats". Die "Minderwertigkeit" von Arbeitswilligen wurde in der
Berichterstattung über die Streiks durch Reportagen über deren
Untauglichkeit, Primitivität und Brutalität herausgestellt. Dass dieselben
Gewerkschaftsfunktionäre mit der bisweilen nicht weniger brutalen Gegenwehr
der Streikenden ihre liebe Not hatten, läßt sich an den verharmlosenden
Darstellungen von "Streikexzessen" in der Arbeiterpresse ablesen. Gewaltsame
Konflikte wurden häufig ignoriert oder als aufgebauschte Nebensächlichkeit
abgetan. Auch vor fremdenfeindlichen Stereotypen scheute man nicht zurück,
wenn es galt, ausländische Arbeitswillige anzuprangern, kamen sie nun aus
Italien, Böhmen, Galizien oder Polen. Zugleich wurden bei Streiks immer
wieder eindringliche Ermahnungen an die Streikenden gerichtet, unter allen
Umständen die Disziplin zu wahren und sich nicht provozieren zu lassen.
Streikende Arbeiter waren also von zwei Ordnungsinstanzen mit Zumutungen
konfrontiert: Zum einen von der Staatsgewalt, die sich durch die Duldung,
ja Förderung der Gewalt Arbeitswilliger permanent selbst um ihr Ansehen
bei den Arbeitern brachte, zum anderen von der Gewerkschaft, die im
Arbeitskampf auch ihre gesellschaftliche Ordnungsfunktion, ihre Kompetenz
als alternative "Arbeiterpolizei" unter Beweis stellen wollte. Dass die
sozialdemokratischen Funktionäre mit diesem "Lernziel" bei ihrer Klientel
nur bedingt durchdrangen, hing paradoxerweise eng mit ihrem sonstigen
generellen Erfolg zusammen: In dem Maße, wie sich die Sozialdemokratie in
der Arbeiterschaft als legitime Vertreterin einer entrechteten Klasse
durchsetzen konnte, verbreitete sich unter Arbeiterinnen und Arbeitern
ein besonderes Ehrgefühl, das durch die fortwährende Diskriminierung im
Straßenalltag, aber insbesondere bei Konfliktsituationen wie Streiks, um
so mehr herausgefordert wurde.
Nach den Moabiter Unruhen im September 1910, bei denen sich aus Anlaß
eines Streiks die Bevölkerung eines ganzen Arbeiterquartiers über drei
Tage hinweg im Aufruhr gegen die Schutzmannschaft befand, versuchte der
sozialdemokratische Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine
den bürgerlichen Richtern mit folgenden Worten verständlich zu machen,
woraus sich der Widerstandsgeist der Arbeiterschaft nährte:
"Der überwiegende und führende Teil der Moabiter Bevölkerung ist
sozialdemokratisch. Wenn die Einwohner nicht durch die kulturellen Einflüsse
der Arbeiterbewegung ein Ehrgefühl hätten, wie man es in anderen Ständen
als selbstverständlich voraussetzt, so würden sie die von den Polizisten
ausgeteilten Prügel für selbstverständlich halten und sie ruhig hinnehmen.
Wenn es so wäre, dann würde die Sache glatter gegangen sein. Die Leute
würden dann mit dem blöden Lächeln eines russischen Muschiks die Säbelhiebe
dankend hingenommen haben."
Auch sein Kollege Heinemann plädierte dafür, das "Solidaritätsgefühl der
Arbeiter" mit der in höheren Schichten selbstverständlichen Standesehre
auf eine Stufe zu stellen. Die Arbeiter verfügten über keinerlei juristische
Mittel, um im Arbeitskampf ihre Interessen gegen unsolidarisches Verhalten
zu schützen. "Wo der rechtliche Zwang fehlt, entwickelt sich natürlich
das moralische Gefühl für die Interessen der Klassen um so
stärker."
Literatur
Klaus Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur
Innen- und Außenpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903-1914, Düsseldorf
1974 (nach wie vor die gründlichste Analyse der obrigkeitlichen und
unternehmerischen Maßnahmen gegen Streiks).
Ralph Jessen, Polizei im Industrierevier. Modernisierung und
Herrschaftspraxis im westfälischen Industriegebiet 1848-1914, Göttingen
1991 (hervorragende Regionalstudie zu Funktion und Ausbau der Polizei
während der Industrialisierung).
Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde, Lohnarbeit, Arbeiterleben und
sozialer Konflikt. Arbeiter im Kaiserreich 1871/75 bis 1914, Bonn 1992
(die den neuesten Stand der Forschung repräsentierende Darstellung zur
Arbeiterschaft im Kaiserreich).
Gudrun Fröba und Rainer Nitsche (Hgg.), Arbeitslose machen Geschichte,
Berlin 1983.
Soweit nicht anders angemerkt, beruht die voran gegangene Darstellung auf
den Ergebnissen der Untersuchung des Autors: Straßenpolitik. Zur
Sozialgeschichte öffentlicher Ordnung in Berlin, 1900-1914, Phil. Diss,
TU Berlin 1992.
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Plünderung einer Kolonialwarenhandlung am Engelufer in Berlin am Abend
des 25. Februar 1892.
Illustrierte Zeitung, Nr. 2541, 12. März 1892, S. 27.
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Die Unruhen in Berlin-Moabit, 1910.
London Illustrated News, 8. Oktober 1910, S. 551.
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