Deutsches
Historisches
Museum
"Streikexzesse" -
Zur öffentlichen Un-Ordnung im Kaiserreich
Thomas Lindenberger, Seite 1 3
Diese Schilderung enthält die wichtigsten Elemente eines "Streikexzesses", der in einen Quartierskrawall "ausartet": Den gewaltsamen Angriff auf die von der Polizei geschützten Streikbrecher und deren Fahrzeuge, das Hin und Her zwischen Rückzug in die umliegenden Häuser und erneutem Angriff. In anderen Fällen bekräftigten die Anwohner ihre Unterstützung der "Tumultanten" noch durch das Bewerfen der Polizisten mit Blumentöpfen, Geschirr, Bierflaschen und anderem Haus- bzw. Unrat von den Balkons und Fenstern aus. Doch auch die Gegenaktion der Polizei war durchaus "repräsentativ": Nach mehreren Räumungen des Platzes, bei denen mit der damals üblichen Polizeiwaffe, dem Säbel, scharf eingehauen wurde, trat Ruhe ein. Zahlreiche zum Teil schwer Verletzte waren zu beklagen. Die Härte dieses Einsatzes, der auch völlig Unbeteiligte nicht verschonte, rechtfertigte der bereits zitierte Polizeihauptmann in einer für die Berufsauffassung der damaligen Polizei typischen Weise: "In der Presse und auch in den Gerichtsverhandlungen ist gegeißelt worden, daß Personen in den Rücken geschlagen seien als sie davonliefen und dadurch bewiesen hätten, daß ihnen jeder Widerstand fernlag. Ich vermag mit meinem Eide zu bekräftigen, daß der Pöbel nur dann und nur so lange lief, als er Prügel bekam, daß er aber sofort wieder Front machte und nachdrängte, wenn die Klinge in die Scheide gesteckt wurde. Die Schutzmannschaft ist am 20. Mai aufs Äußerste gereizt und verhöhnt worden [...] Allgemein kann ich versichern, daß an dem Tage Niemand Prügel bekommen hat, der sie nicht verdient hätte."

Zu unterscheiden zwischen denjenigen Arbeitern, die den Tumult veranstalteten, und denjenigen, die nur zufällig in ihn hineingeraten waren, paßte nicht in das Konzept eines Polizeihauptmanns; eine aufrührerische Ansammlung "schlechten" Publikums war nur durch Prügel gefügig zu machen. Dass Polizisten im Bedarfsfall bei der sozialen Einordnung des Straßenpublikums durchaus Unterschiede wahrnahmen, zeigte sich drei Jahre später beim Streik der Berliner Omnibusschaffner, der von ähnlichen Solidaritätsaktionen begleitet war. Ein besonders neuralgischer Punkt aus Polizeisicht war dabei die Kreuzung von Potsdamer und Bülowstraße. Bei den Ansammlungen herrschte nämlich in dieser damals ausgesprochen bürgerlichen Stadtgegend das "bessere Publikum" vor. Die Bushaltestelle, so berichtete der Berliner Polizeipräsident dem preußischen Innenminister, "bildete den Anziehungspunkt für viele Neugierige, die sich unter der gegenüberliegenden Hochbahn festsetzten und denen insofern schwer beizukommen war, als jeder ankommende Hochbahnzug dem Kreuzungspunkte neue Menschenmassen zuführte. Bei einem Vorgehen mit blanker Waffe wären dann zweifellos viele unbeteiligte Personen aus den besseren Schichten betroffen worden. Der Bezirkshauptmann ordnete deshalb die Weiterfahrt der auf der Haltestelle ankommenden Wagen nach dem Depot in der Frobenstrasse an. Wenn auch langsam und scheinbar widerstrebend leistete die Menge, unter der sich namentlich viele Frauenspersonen befanden, der Aufforderung zum Weitergehen schließlich doch Folge und flutete auch allmählich ab."

"Schutz der Arbeitswilligen" oder "Schutz des besseren Publikums" - in diesem Fall wurde aus dem Polzeiauftrag, Ruhe, Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, ein Dilemma, das mehr Geschick und Improvisationskunst erforderte als die säbelschwingende Hatz auf den "Pöbel".

Zu strengem Durchgreifen sollte aber auch dieser Streik noch Gelegenheit bieten: Einige Tage später kam es im Norden Berlins auf dem Nettelbeckplatz im Wedding zu regelrechten Straßenschlachten und harten Polizeieinsätzen. Solche direkte Beteiligung von großen Menschenmengen an Arbeitskämpfen blieb jedoch seltenen, wenngleich äußerst spektakulären Ausnahmefällen unter den "Streikexzessen" vorbehalten. Im Normalfall war die Anwendung von Gewalt auf die unmittelbar am Arbeitskampf Beteiligten und die Polizei beschränkt. Unabhängig davon stellte Gewalt ohnehin sowohl zwischen Arbeitern (streikenden und arbeitswilligen) als auch zwischen Arbeitern und Polizisten nichts besonderes dar: Dass Männer der Unterschicht ihre Meinungsverschiedenheiten mittels Prügeleien austrugen, dass es dabei auch zum Einsatz von gefährlichen Hieb- und Stichwaffen kam, dass sich eine Menschenmenge auf einen Störenfried stürzte, der mit einem Revolver herumfuchtelte, und ihn tüchtig "durchgerbte" - solche Vorkommnisse waren beinahe täglich im Lokalteil der Tageszeitungen zu lesen. Das gleiche gilt für Aktionen gegen die Polizei: Immer wieder setzten sich Arbeiter gegen Bevormundungen durch Schutzmänner, die ihnen während der Freizeit, also abends und am Wochenende, das Singen auf der Straße oder auch nur das gemeinschaftliche Herumstehen als "groben Unfug" oder Verkehrsbehinderung verbieten wollten, handgreiflich zur Wehr. Für die "jungen Burschen" unter ihnen wurde daraus oft ein Katz-und-Maus-Spiel, dessen Reiz zur Unterstützung streikender Arbeiter motivieren konnte.
 
Streik der Straßenbahn-Angestellten
Das Rosenthaler Tor während des Streiks der Straßenbahn-Angestellten, 1903.
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Angriff auf einen fahrenden Omnibus, 1903

Vom Streik der Omnibusangestellten in Berlin. Angriff auf einen fahrenden Omnibus, 1903.
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