|
Diese Schilderung enthält die wichtigsten Elemente eines "Streikexzesses",
der in einen Quartierskrawall "ausartet": Den gewaltsamen Angriff auf die
von der Polizei geschützten Streikbrecher und deren Fahrzeuge, das Hin und
Her zwischen Rückzug in die umliegenden Häuser und erneutem Angriff. In
anderen Fällen bekräftigten die Anwohner ihre Unterstützung der
"Tumultanten" noch durch das Bewerfen der Polizisten mit Blumentöpfen,
Geschirr, Bierflaschen und anderem Haus- bzw. Unrat von den Balkons und
Fenstern aus. Doch auch die Gegenaktion der Polizei war durchaus
"repräsentativ": Nach mehreren Räumungen des Platzes, bei denen mit der
damals üblichen Polizeiwaffe, dem Säbel, scharf eingehauen wurde, trat
Ruhe ein. Zahlreiche zum Teil schwer Verletzte waren zu beklagen. Die
Härte dieses Einsatzes, der auch völlig Unbeteiligte nicht verschonte,
rechtfertigte der bereits zitierte Polizeihauptmann in einer für die
Berufsauffassung der damaligen Polizei typischen Weise: "In der Presse
und auch in den Gerichtsverhandlungen ist gegeißelt worden, daß Personen
in den Rücken geschlagen seien als sie davonliefen und dadurch bewiesen
hätten, daß ihnen jeder Widerstand fernlag. Ich vermag mit meinem Eide zu
bekräftigen, daß der Pöbel nur dann und nur so lange lief, als er Prügel
bekam, daß er aber sofort wieder Front machte und nachdrängte, wenn die
Klinge in die Scheide gesteckt wurde. Die Schutzmannschaft ist am 20. Mai
aufs Äußerste gereizt und verhöhnt worden [...] Allgemein kann
ich versichern, daß an dem Tage Niemand Prügel bekommen hat, der sie nicht
verdient hätte."
Zu unterscheiden zwischen denjenigen Arbeitern, die den Tumult
veranstalteten, und denjenigen, die nur zufällig in ihn hineingeraten
waren, paßte nicht in das Konzept eines Polizeihauptmanns; eine
aufrührerische Ansammlung "schlechten" Publikums war nur durch Prügel
gefügig zu machen. Dass Polizisten im Bedarfsfall bei der sozialen
Einordnung des Straßenpublikums durchaus Unterschiede wahrnahmen, zeigte
sich drei Jahre später beim Streik der Berliner Omnibusschaffner, der von
ähnlichen Solidaritätsaktionen begleitet war. Ein besonders neuralgischer
Punkt aus Polizeisicht war dabei die Kreuzung von Potsdamer und Bülowstraße.
Bei den Ansammlungen herrschte nämlich in dieser damals ausgesprochen
bürgerlichen Stadtgegend das "bessere Publikum" vor. Die Bushaltestelle,
so berichtete der Berliner Polizeipräsident dem preußischen Innenminister,
"bildete den Anziehungspunkt für viele Neugierige, die sich unter der
gegenüberliegenden Hochbahn festsetzten und denen insofern schwer
beizukommen war, als jeder ankommende Hochbahnzug dem Kreuzungspunkte neue
Menschenmassen zuführte. Bei einem Vorgehen mit blanker Waffe wären dann
zweifellos viele unbeteiligte Personen aus den besseren Schichten betroffen
worden. Der Bezirkshauptmann ordnete deshalb die Weiterfahrt der auf der
Haltestelle ankommenden Wagen nach dem Depot in der Frobenstrasse an. Wenn
auch langsam und scheinbar widerstrebend leistete die Menge, unter der sich
namentlich viele Frauenspersonen befanden, der Aufforderung zum Weitergehen
schließlich doch Folge und flutete auch allmählich ab."
"Schutz der Arbeitswilligen" oder "Schutz des besseren Publikums" - in
diesem Fall wurde aus dem Polzeiauftrag, Ruhe, Ordnung und Sicherheit
aufrechtzuerhalten, ein Dilemma, das mehr Geschick und Improvisationskunst
erforderte als die säbelschwingende Hatz auf den "Pöbel".
Zu strengem Durchgreifen sollte aber auch dieser Streik noch Gelegenheit
bieten: Einige Tage später kam es im Norden Berlins auf dem Nettelbeckplatz
im Wedding zu regelrechten Straßenschlachten und harten Polizeieinsätzen.
Solche direkte Beteiligung von großen Menschenmengen an Arbeitskämpfen blieb
jedoch seltenen, wenngleich äußerst spektakulären Ausnahmefällen unter den
"Streikexzessen" vorbehalten. Im Normalfall war die Anwendung von Gewalt
auf die unmittelbar am Arbeitskampf Beteiligten und die Polizei beschränkt.
Unabhängig davon stellte Gewalt ohnehin sowohl zwischen Arbeitern
(streikenden und arbeitswilligen) als auch zwischen Arbeitern und Polizisten
nichts besonderes dar: Dass Männer der Unterschicht ihre
Meinungsverschiedenheiten mittels Prügeleien austrugen, dass es dabei auch
zum Einsatz von gefährlichen Hieb- und Stichwaffen kam, dass sich eine
Menschenmenge auf einen Störenfried stürzte, der mit einem Revolver
herumfuchtelte, und ihn tüchtig "durchgerbte" - solche Vorkommnisse waren
beinahe täglich im Lokalteil der Tageszeitungen zu lesen. Das gleiche gilt
für Aktionen gegen die Polizei: Immer wieder setzten sich Arbeiter gegen
Bevormundungen durch Schutzmänner, die ihnen während der Freizeit, also
abends und am Wochenende, das Singen auf der Straße oder auch nur das
gemeinschaftliche Herumstehen als "groben Unfug" oder Verkehrsbehinderung
verbieten wollten, handgreiflich zur Wehr. Für die "jungen Burschen" unter
ihnen wurde daraus oft ein Katz-und-Maus-Spiel, dessen Reiz zur Unterstützung
streikender Arbeiter motivieren konnte.
|
|
Das Rosenthaler Tor während des Streiks der Straßenbahn-Angestellten, 1903.
[größeres Bild]
Vom Streik der Omnibusangestellten in Berlin. Angriff auf einen
fahrenden Omnibus, 1903. [größeres Bild]
|