Deutsches
Historisches
Museum
Warum und wofür im
19. Jahrhundert gestreikt wurde
Lothar Machtan, Seite 1 2 4 5
Wer hatte die Verantwortung? Den Arbeitern standen zwar ein ungebrochenes Vertrauen in ihre "gerechte Sache" und in die Stabilität ihrer Solidarität, aber noch kaum die finanziellen, organisatorischen und publizistischen Mittel zur Verfügung, um den Arbeitgebern ihre Forderungen tatsächlich aufzwingen zu können. Diese aber ließen vor allem im großindustriellen Bereich Arbeitskonflikte oft ganz bewusst eskalieren, indem sie das ganze Arsenal von sogenannten Abwehrmaßregeln ins Feld führten, über das sie als die wirtschaftlich und gesellschaftlich Mächtigeren verfügten. Rigorose Ablehnung von Verhandlungen mit Streikkomitees, Entlassung von "Rädelsführern", Kündigung von Werkswohnungen, systematische Anwerbung auswärtiger Streikbrecher, schwarze Listen, Aussperrungen, planmäßige Kooperation mit staatlichen Ordnungskräften etc. - das alles waren bestimmende Elemente unternehmerischer Streikpolitik in den Gründerjahren. Nicht zuletzt durch diese "Abwehr" drohte - wie allseits beklagt wurde - "das unselige System der Strikes sich immer mehr zu einem vernichtenden Klassenkampfe zuzuspitzen".17
Immerhin konnten die Unternehmer zur Rechtfertigung ihrer Konterstrategien anführen, dass sie schließlich die auf frivole Weise Angegriffenen - mithin Opfer einer Verschwörung gegen Ruhe und Frieden - seien, die sich schon um der "Erhaltung der Industrie" willen der Arbeiterbewegung erwehren müssten. Die Forderungen seien "nicht nur an sich unzulässig, sondern sogar unmöglich zu erfüllen".18 Die Gegenmaßnahmen, bei denen falsche Rücksicht gegenüber den Arbeitern unangebracht sei, dienten ja nicht zuletzt der Wiederbegründung des "guten Verhältnisses, welches zwischen Arbeiter und Principal bestehen muß, wenn nicht die Interessen beider leiden sollen."19 Diese Harmonie sei um so wichtiger, als die Streiks "meist von außen angeregt werden; denn gerade der schwerste Schaden, den sie stiften, die wachsende Erbitterung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ist den Anstiftern willkommen."20 Diese Benutzung von Streiks als ein politisch eingeführtes "Mittel, den Klassenkampf immer mehr zu verschärfen und zu vertiefen"21, wurde dann namentlich der deutschen Sozialdemokratie immer wieder zum Vorwurf gemacht. Deren bösartige und frevelhafte Agitation sei in erster Linie Schuld an der "Steigerung und Vergiftung des Klassenzwiespalts". Es gelte mithin, den "gesunden Sinn unserer Arbeiterbevölkerung von dem terroristischen Drucke ihrer Verführer zu befreien".22

Mit dieser - hier im zeitgenössischen Jargon wiedergegebenen - Positionsbestimmung war ein gesellschaftlicher Frontverlauf festgeschrieben, der das Verhältnis von Kapital und Arbeit in der Reichsgründungszeit entscheidend prägte. Er beinhaltete eine grundsätzliche und unnachgiebige Opposition der meisten Unternehmer gegenüber all jenen Ansprüchen der Arbeiter auf soziale Sicherung, Gleichberechtigung und Teilhabe, die sich auf Werte wie Selbstbestimmung, Demokratie und soziale Gerechtigkeit beriefen. War damit auch der Ausgang vieler Streikauseinandersetzungen mehr oder minder im voraus entschieden - fast alle größeren Arbeitskämpfe in der Fabrik- und Bergwerkindustrie endeten mit Niederlagen für die Arbeiter -, die gesellschaftliche Polarisierung wurde eher vorangetrieben als verlangsamt. Nicht zuletzt trug dazu die organisationsstiftende Wirkung bei, die die Streiks in beiden Lagern der Kontrahenten zeigten. Sie verstetigten gleichsam den schwelenden Sozialkonflikt durch eine, allerdings sehr ungleiche, "Bewaffnung" der Konfliktparteien. Die "Verhältnisse der sogenannten Arbeiterbevölkerung" wurden nun erst zum virulenten Problem, da angesichts ungelöster sozialer Probleme die Chancen für eine Integration des "vierten Standes" auf dem Wege eines tatsächlichen Interessenausgleichs zusehends schwanden. Mit diesem Erfahrungshorizont verstärkte sich in bürgerlichen Kreisen schon sehr früh "die Überzeugung von der Nothwendigkeit einer Intervention des Staates in dem gegenwärtigen Klassenkampf behufs Herstellung der Ordnung und des Friedens."23 Diese Intervention des Staates ist in Deutschland auch tatsächlich relativ frühzeitig erfolgt. Allerdings zunächst und vor allem in Gestalt von repressiven Maßregeln, denen erst später - zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts - ein Paket positiver Zuwendungen zur Seite gestellt wurde. Das kam vor allem daher, dass die Arbeiterfrage nicht allein als ein soziales Problem, sondern mindestens ebenso sehr als eine soziale Gefahr in das Bewusstsein der bürgerlichen Öffentlichkeit trat, mithin als ein furchterregendes Phänomen. Dies erleichterte nicht gerade die Suche nach angemessenen Problemlösungen: die möglichst unvoreingenommene Prüfung der tatsächlichen Berechtigung jener Forderungen, die die Arbeiter allerorts erhoben. Denn der Inhalt dieser Forderungen war schlechterdings kaum zu trennen von der ungestüm-kämpferischen Art seiner Artikulation und diese wiederum nicht von den gewerkschaftspolitischen Bestrebungen, jene Forderungen zu bündeln und in die eigene Strategie einzupassen. Das unternehmerische Verdikt von einer "krankhaften", von staatsfeindlichen Agitatoren geschürten Arbeiterbewegung gewann hierdurch eine gewisse Plausibilität. Eine solche Sichtweise von dem Bezugsfeld staatlicher Arbeiterpolitik wurde noch verstärkt durch den Erfahrungsdruck zahlreicher Volksunruhen, die nicht oder nur bedingt arbeitsweltbezogen waren, gleichwohl aber auf ihre Weise eine erhöhte Mobilisierungs- und Aktionsbereitschaft der Unterschichten anzeigten.

In mehr als zwanzig Städten des Reichs kam es zwischen 1871 und 1873 zu gewalttätigen Auftritten aufgebrachter Volksmengen.24 Sie richteten sich hauptsächlich gegen den inflationären Anstieg der Lebensmittelpreise und der Mieten. Bei diesen Massenaktionen mit jeweils einigen hundert, bisweilen auch mehr als tausend "Tumultanten" rückten die Ruhestörer dem Privateigentum von Lebensmittelhändlern und -herstellern sowie von Wohnungsvermietern mit Brachialgewalt zu Leibe. Wegen der als Wucher und Betrug empfundenen Preiserhöhungen wurden die vermeintlichen Verursacher zur Rechenschaft gezogen und "bestraft", etwa durch demonstrative Ruhestörungen, die zumeist mit Sachbeschädigungen und gezielten Ordnungsverletzungen einhergingen. Akte solcher "Volksjustiz" riefen natürlich die staatlichen Ordnungskräfte auf den Plan, so dass manche Auseinandersetzungen in Straßenschlachten mit einer meist beträchtlichen Zahl von Opfern auf beiden Seiten ausarteten. Die spektakulärsten "Krawalle" dieser Art in der Gründerzeit ereigneten sich im Juni 1872 in Berlin und im April 1873 in Frankfurt am Main. In der Reichshauptstadt gingen damals fast 5000 Menschen auf die Straße und gaben ihrem Zorn und ihrer Wut über die Explosion der Wohnungsmieten Ausdruck, die gelegentlich in der Tat an Wucher erinnerte. Der als Provokation gewertete Polizeischutz für Hauseigentümer, die zahlungsunfähige Mieter erbarmungslos "exmittieren" ließen, gab dann den Anstoß zu einer aufrührerischen Aktion, die - so die zeitgenössische Presse - "fast im Barrikadenkampf ausartete". Es bedurfte mehr als 600 Polizisten, zu deren Unterstützung ein mit scharfen Patronen versehenes Dragoner-Regiment 48 Stunden in erhöhter Alarmbereitschaft stand, um die Unruhen zu unterdrücken. Die offiziellen Stellen vermeldeten mehrere hundert Verletzte, einige Dutzend Verhaftete und Sachschäden in unbestimmter Höhe.
Der Bierkrawall in der Main-Metropole zog nicht viel weniger Beteiligte in seinen Bann. Hier wurde gegen Wirtshaus- und Brauereibesitzer zu Felde gezogen, weil man sie an unverhältnismäßigen Bierpreisaufschlägen "schuldig" glaubte. Dabei kam es zu so schweren Ausschreitungen und in deren Gefolge zu Auseinandersetzungen mit der bewaffneten Staatsmacht, dass sich diese nur noch mit dem Einsatz von Militär zu helfen wusste. Die Folgen waren verheerend: 18 Tumultanten blieben tot auf der Strecke, mehr als 40 wurden zum Teil schwer verwundet und fast 150 Personen verhaftet.

Was die bürgerliche Öffentlichkeit an den namentlich erwähnten wie an anderen Protestbewegungen, die auch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts immer wieder vorkamen, so schockierte, waren die in ihnen erkennbaren "Symptome einer ganz allgemein gegen Besitz und Eigenthum gerichteten Tendenz."25 Man sah die endlich etablierte bürgerliche Gesellschaft nunmehr im Begriff, in einen "gefährlichen Kriegszustand zu gerrathen"26, falls es nicht gelänge, der gedankenlosen Masse eine größere Achtung vor dem Eigentum, einen stärkeren Sinn für strenge Gesetzlichkeit und mehr Respekt vor der Autorität öffentlicher Ordnungshüter beizubringen. Umso mehr, als die Unruhen nichts anderes seien als die Resultate "einer planmäßigen Aufhetzung unserer Arbeiterbevölkerung durch die Reiseprediger des Aufruhrs", d. h. der Sozialdemokratie.27 So wurde diese zum klassischen Sündenbock, zum Hauptschuldigen an allen Störungen der öffentlichen Ordnung. Die Denunziation nahm deshalb einen so wütenden, ja aggressiven Charakter an, weil die spektakulären Massenaktionen die ganze Tragweite "der schroffen sozialen Gegensätze" enthüllten und damit interessenharmonischen Gesellschaftsbildern immer mehr das Wasser abgruben. So schrieb die renommierte liberale National-Zeitung auf dem Höhepunkt der "Konjunktur des Klassenkampfs" im Frühjahr 1873: "Die Elemente, mit denen man Kommuneaufstände macht, nehmen in Deutschland und namentlich in den großen Städten und ihrer Umgebung offenbar in rapider Weise zu, und es bedarf nur der Agitatoren, die diese Elemente sammeln und dirigiren, um Angriffe gegen die gesellschaftliche Ordnung herbeizuführen."28
 
Ehrendiplom der Firma Eisen- und Stahlwerk Hoesch AG
Ehrendiplom der Firma Eisen- und Stahlwerk Hoesch AG.
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Luppenzieher im Puddelwerk, um 1880

Luppenzieher im Puddelwerk, um 1880.
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Arbeitsordnung der Zeche 'Hörder Kohlenwerk Dortmund', 1888

Arbeitsordnung der Zeche "Hörder Kohlenwerk Dortmund", 1888.
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Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik, um 1900

Arbeiter in der Hartmannschen Maschinenfabrik,
um 1900.
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Aufruf zur 'Grossen Volksversammlung', Chemnitz 1871

Aufruf zur "Grossen Volksversammlung", Chemnitz 1871.
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