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Ganz grob lassen sich schon in dieser Zeit vier Kategorien von
Streikforderungen unterscheiden. Einmal ging es darum, sich einen
Ausgleich für die allgemein stark angestiegenen Lebenshaltungskosten
zu erstreiken. Nicht selten wollten die Arbeiter mit ihren Lohnforderungen
aber auch mehr als nur ihre frühere relative Position auf der
gesellschaftlichen Stufenleiter behaupten. Sie erhoben Anspruch auf die
Befriedigung neuer, "zeitgemäßer" Bedürfnisse, auf bescheidene Teilhabe
an dem auf- und sinnfällig gesteigerten gesellschaftlichen Reichtum in der
Glanz- und Pomp-Periode der Gründerjahre. Das bedeutsamste Ziel aber
dieses Verlangens nach materieller Besserstellung war, dass die Arbeiter
mit den höheren Löhnen endlich in die Lage kommen wollten, ihre
betriebsalltäglichen "größten Kraftanstrengungen durch eine kräftige
genügende Kost zu ersetzen".4 Diese Verweise auf die "steigende Überbürdung mit
Arbeit" und auf die "härtesten Entbehrungen", unter denen die
Arbeiter gezwungen seien, "für die Arbeitgeber ihre Kräfte zu
opfern", begegnen uns immer wieder als Begründungsmusters.5
In der Beziehung verband sich ein Zweckelement der Lohnbewegung eng mit
den Zielen, denen ein zweiter Komplex von Arbeiterforderungen verpflichtet
war, jener um Fragen der Arbeitszeitregelung. Zehn- bis elfstündiger
Normalarbeitstag, Garantie ausreichender Arbeitspausen, drastische
Einschränkung des Überstundenwesens, vor allem der Nacht- und
Feiertagsarbeit, durch hohe Extravergütung - so und ähnlich lauteten die
Zielsetzungen. Hier tauchte zum ersten Mal die Gefährdung der
Arbeitergesundheit als Argument für eine Arbeitszeitverkürzung auf, die
nun nicht mehr allein vom einzelnen Unternehmer, sondern darüber hinaus
auch vom Gesetzgeber verlangt wurde. In ihr sah man das entscheidende
Mittel zur Befreiung von dem Fluch, dass der Arbeiter, zumal als
Familienvater, "seinen Lohn oft höher als sein Leben in Anschlag zu
bringen hat".6
Ein dritter Komplex von Forderungen zielte auf die Abschwächung bzw.
Humanisierung der mehr oder weniger autokratischen Befehls- und
Disziplinargewalt der Fabrikherren. Kritisiert wurden vor allem die
selbstherrlich erlassenen Fabrikordnungen und die aus ihnen abgeleitete
betriebliche Strafjustiz, die Anmaßungen der vorgesetzten Betriebsbeamten,
die Willkür bei der Bestimmung von Akkordtaxen, der fehlende
Kündigungsschutz sowie die dubiose Verwaltung und die Geschäftspraktiken
betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen. Sich derartigen Privatrechtsformen
zu unterwerfen, wie es die gesetzliche Fiktion vom freien Arbeitsvertrag
vorsah, empfanden viele Arbeiter als schmachvoll, entehrend und unwürdig.
Weil sie eine unbedingte Gehorsamspflicht nicht länger akzeptieren wollten,
beanspruchten sie verbriefte Mitsprache- und Schutzrechte, jedenfalls eine
Reform der nach eigenherrlichen Kriterien gebauten Betriebsverfassung.
Der vierte Typus von Forderungen schließlich drehte sich um die Anerkennung
demokratisch gewählter Deputationen als legitime Interessenvertretungen
der Arbeiter zur Ausarbeitung und Aushandlung von Lösungsvorschlägen im
Arbeitskonflikt. Wo berufsverbandliche Organisationen existierten,
erhielten zumeist diese ein entsprechendes Mandat. Dem Verlangen nach
kollektiven Unterhandlungen und tarifähnlichen Regelungen entsprach schon
die fast überall erhobene Forderung: Keine Maßregelung der
Vertrauensleute!
Darüber hinaus haben die Wortführer der Streikenden den Unternehmern immer
wieder klarzumachen versucht, wie sehr ihren Kollegen an einer Überwindung
der Rechtsebene ausschließlich privatvertraglicher und individueller
Vereinbarungen, positiv ausgedrückt: an der Einführung kollektiver
Arbeitsverträge gelegen war.
Fasst man diese Bestrebungen verallgemeinernd zusammen, so lässt sich
zweierlei erkennen: Zum einen entrollten die Forderungen - und mehr noch
deren nähere Begründung - ein sehr detailliertes und plastisches Bild von
den Arbeits- und Lohnverhältnissen in der gewerblichen Wirtschaft, von den
Existenzrisiken, den diese dem Arbeiter auferlegten sowie von den in ihnen
angelegten Konfliktpotentialen. Dieses Bild mit seinen vielfach sehr
grellen Farben war vielen Zeitgenossen aus bürgerlichem Milieu bis dato
weitgehend unbekannt. Es erregte Aufsehen, ließ es doch bei nur einigermaßen
nüchterner Betrachtung auf erhebliche Miss-Stände schließen, auf zum Teil
inhumane und unwürdige Zustände in den Gewerbebetrieben. Das wichtigste
aber war, dass erst durch die Streikbewegung eine breitere Öffentlichkeit
die Arbeiter als eine gesellschaftliche und politische Problemgruppe "an
und für sich" wahrnahm. Das Wort "Arbeiter" - so bemerkte ein kompetenter
Mann 1872 - sei "in der deutschen Sprache erst kürzlich und [...]
zugleich nur mit dem Worte 'Strike' aufgenommen worden".7
Das war vielleicht etwas übertrieben. Fest steht aber, dass dem Arbeits-
und Lebenszusammenhang proletarischer Schichten keineswegs solche Beachtung
zuteil geworden wäre, wenn sie ihre Ansprüche nicht auch demonstrativ auf
dem Wege "massenhafter Widersetzlichkeiten" einzuklagen versucht hätten;
erst die Initiative gesellschaftsöffentlichen Handelns mit dem Ziel einer
wirklichen Lageverbesserung erregte Aufmerksamkeit und erweckte Teilnahme.
Zum anderen steckte in den Arbeitererhebungen eine große politische Brisanz,
insofern als sie das Ende der Hinnahmebereitschaft gegenüber bestimmten
Zumutungen des Arbeitslebens signalisierten. Vernehmbar war vielmehr
ein unüberhörbares Veto gegen die Auswirkungen einer vorzugsweise
privatwirtschaftlichen Interessen der Unternehmer verpflichteten
Gewerbeverfassung; gegen die Vorherrschaft eines Regelungssystems, in dem
die Arbeiter hauptsächlich als Objekte von Ausbeutungs-, Erziehungs- und
Herrschaftsansprüchen vorkamen und das insofern auf eine Zementierung
sozialer Ungleichheit zielte. In den Streiks wurde somit ein offenkundiger
Mangel, ja ein Dilemma der real existierenden Wirtschafts- und
Sozialverfassung im deutschen Kaiserreich offenbar. Diesem Mangel sollte
abgeholfen werden, denn der massive Arbeiter-Protest gegen Bedingungen
des materiellen und sozialen Daseins war ja nicht allein negativ, er
zeigte vielmehr auch bereits deutlich auf ein Programm positiver Abhilfe.
Die in und mit den Streiks artikulierten Arbeiterforderungen, die bis in
das 20. Jahrhundert hinein das soziale Alltagsgeschehen in Deutschland
beherrschten, wurden so nicht zuletzt auch die programmatische Grundlage
gewerkschaftlicher und sonstiger vereinspolitischer Reformarbeit, die in
den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte. Sie verlieh den
proletarischen Bestrebungen einen breiten Resonanzboden in der öffentlichen
Meinung.
Wie reagierten nun die industriellen Unternehmer, ihre
Interessenorganisationen und die ihnen verpflichtete Presse auf die
Herausforderungen, die durch die Arbeiterbewegungen an sie herangetragen
wurden? Lassen wir sie selbst zu Wort kommen. Zunächst und vor allem
beklagten sie, dass dem streikwilligen Arbeiter offenbar "die
Willenskraft, durch treue Pflichterfüllung und größere Arbeitsleistung
seine Lage zu verbessern, verloren gegangen" sei.8 Gleichzeitig verurteilten
sie dieses "wachsende moralische Defizit" als einen Verlust an
allgemeiner Gesittung, ja als vorsätzliche Pflichtverletzung.9 Sodann war der Streik ihrem
manchesterliberalen Weltbild entsprechend "ein ebenso gewalthsamer
als unverständiger Eingriff in den natürlichen Zusammenhang, in die
organische Entwicklung der gesellschaftlichen Grund- und der
wirthschaftlichen Naturgesetze".10 Beide Verdikte verschmolzen schließlich zu dem
Deutungsmuster, das "Strikefiber" sei eine Krankheit, die die
Arbeiterbevölkerung wie eine Seuche befallen habe und "das gesunde Blut,
das bisher dem industriellen Körper gegeben", vergiften müsse.11 Fazit: "der Strike ist
an und für sich verwerflich".12
Was die einzelnen Forderungskomplexe betraf, so verhielt sich die
Unternehmerseite - man kann hier durchaus von einem festgefügten Lager
sprechen - zumeist kategorisch ablehnend. Lohnforderungen wurden in der
Regel mit Verweis auf eine fehlende soziale Notlage der Arbeiter oder die
Zahlungsunfähigkeit der Betriebe zurückgewiesen, der zunehmende
Kräfteverschleiß als Argument der Arbeiter ignoriert. In der
Arbeitszeitfrage hielten namentlich die Industriellen alle
außerbetrieblichen Normierungsbestrebungen für "von Haus aus
verwerflich" und waren nicht bereit, Arbeitszeitverkürzungen anders
als in Gestalt gleichzeitiger Arbeitsintensivierungsmaßnahmen zu
akzeptieren. Das Definitionsmonopol über das hierbei zu beobachtende
"Maaß des Nothwendigen und Heilsamen" wollten sie auf keinen Fall
preisgeben. Und schon gar nicht kam es ihnen in den Sinn, Beschränkungen
ihrer Dispositionsfreiheit in der Unternehmensführung zuzulassen. Die
uneingeschränkte Befehlsgewalt über den technischen Betriebsablauf, die
Arbeitsorganisation sowie die Art, den Umfang und die Verwaltung
betriebsfürsorgerischer Maßnahmen galt ihnen geradezu "als das
unveräußerliche Recht des Capitals".13 Und die ausschließlich privatvertragliche Regelung des
Arbeitsverhältnisses schloss nach ihrer Ansicht eine Verhandlung mit
'unbefugten' Arbeiterkomitees von selbst aus.
Dass bei einer solchen Konfrontation von Interessengegensätzen "tief
principieller Art"14
wenig Terrain für einen friedlichen Ausgleich übrig blieb, kann kaum
verwundern. Was folgte, das waren ungezählte "Ausbrüche des organisirten
socialen Krieges der Lohnempfänger gegen die Unternehmer, der Vorrathslosen
gegen die Capitalisten"15, der zu einem "tiefen Riß zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern nicht selten bis zur offenen Feindschaft"16 führte. So jedenfalls nahm
die Öffentlichkeit damals diese Polarisierung wahr.
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Arbeitswillige werden gruppenweise durch Gendarmerie nach Hause gebracht,
März 1912. [größeres Bild]
Arbeits-Vertrag zwischen den Arbeitgebern des Baugewerbes
und dem Zentral-Verband der Maurer, 1907. [größeres Bild]
Bekanntmachung "An die Belegschaft", 1912. [größeres Bild]
Kündigungsschreiben wegen Streikbeteiligung, Januar 1905. [größeres Bild]
Legitimationskarte der königlichen Polizeidirection
Dresden, Juni 1893. [größeres Bild] |