|
Dass diese Befürchtung gänzlich unbegründet war, wird niemand, der die
Streik- und Volksbewegungen jener Jahre studiert, ernstlich behaupten
können. Einen nationalliberal oder konservativ denkenden Bürger musste
die Aufbruchstimmung der arbeitenden Klassen zu Beginn der siebziger
Jahre in der Tat tief beunruhigen. Und es ist sicherlich höchst
charakteristisch für das sozialpolitische Klima jener Zeit, wenn
bürgerliche und Arbeiter-Blätter sich in ansonsten seltener Übereinstimmung
angewöhnten, in ihrer Berichterstattung über soziale Konflikte von
"Kriegsschauplätzen" zu reden. Die Welle elementarer Arbeiter- und
Volksbewegungen über nahezu ein halbes Jahrzehnt hinweg hat die anfängliche
Euphorie der endlich errungenen "definitiven Staatszustände" sehr schnell
auf den Boden der Tatsache zurückgebracht, dass die "innere Reichsgründung"
noch bevorstand. Aber wie sollte die angesichts so großer sozialer Unruhe
bewerkstelligt werden?
Die sozialpolitische Konstellation der Gründerjahre änderte sich in der
zweiten Hälfte des Jahrzehnts insofern, als die Arbeitskampfwelle deutlich
abebbte, tumultartige Massenbewegungen fast gänzlich verschwanden und auch
die Leistungsbereitschaft und die Disziplin der Arbeiter im Betrieb nach
Meinung der Unternehmer deutlich weniger zu wünschen übrig ließen. Diese
Erscheinungen waren aber keineswegs Ergebnis einer grundsätzlichen
Umorientierung der handarbeitenden Schichten in weltanschaulicher und
interessenspolitischer Sicht, vielmehr Resultate von Zwangsmechanismen,
zu deren Handhabe die schwere Wirtschaftskrise Gelegenheit bot, die
Deutschland 1874/75 mit voller Wucht erfasste. Ihre betriebs- und
gesellschaftspolitische Herrschaft haben die deutschen Industrieunternehmer
in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zweifellos festigen können,
während die Arbeiterbewegung - nicht zuletzt auf Grund der nun verstärkt
einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen - an Kampfbereitschaft und -stärke
einbüßte. Die sozialen Konfliktpotentiale aber wirksam zu entschärfen,
das haben die Krisenjahre nicht vermocht, wie die verbittert geführten
Abwehrkämpfe der Bergleute im Ruhrgebiet oder in Oberschlesien am Ende
der siebziger Jahre beispielhaft zu erkennen geben. Da kaum eines der
seit 1869 so nachhaltig thematisierten Probleme im Verhältnis von Lohnarbeit
und Kapital allgemein-verbindlich geregelt war, hatten die sozialen
Gegensätze nichts an Schärfe eingebüßt. Das Ausmaß sozialer Unruhen ging
zurück; aber nicht durch Befriedung, durch materielle Hebung oder durch
positive Integration der Arbeiterbevölkerung, die unterprivilegiert
blieb. Von sozialer Ruhe konnte deshalb nicht die Rede sein, von
sozialem Frieden schon gar nicht. Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn
am Ende der ersten mächtigen Streikwelle in Deutschland ausgerechnet
jenes "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Socialdemokratie" steht, das die deutschen Arbeiter für mehr als ein
Jahrzehnt ihrer gewerkschaftlichen und politischen Interessenvertretung
weitgehend beraubte.
Aber die Hoffnung der Sozialistengesetzgeber auf eine Bekehrung und
Läuterung der durch Partei und Gewerkschaften "verhetzten" Arbeiter erwies
sich als falsch. Was sich diese während der Sturm- und Drangperiode der
siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts an Erfahrung angeeignet hatten, um
Probleme ihrer Interessenwahrung anzugehen, vergaßen sie nicht. Und so
wird nach einer kurzen Zeit des Zögerns und Sich-neu-Zurechtfindens trotz
ausnahme- gesetzlicher Bestimmungen schon Mitte der achtziger Jahre im
Deutschen Reich wieder kräftig gestreikt, wobei die Streikenden zugleich
gegen das Sozialistengesetz demonstrieren. 1889/90 - den Jahren der
vielbeachteten Massenausstände der Bergleute in allen Revieren - nimmt
die Arbeitskampfbewegung angesichts der günstigen Wirtschaftskonjunktur
schließlich Ausmaße an, die die der Gründerjahre noch einmal weit
übertreffen.
Ihre gesellschaftspolitische Tiefenwirkung ist enorm. Der Kampfkurs
des Sozialistengesetzes erlebt endgültig Schiffbruch. Gewerkschaftliche
Verbände schießen wie Pilze aus dem Boden und verhelfen modernen
Massenorganisationen mit zentralem Leitungsstab - die Generalkommission
der Gewerkschaften entsteht - zum Durchbruch. Der Zulauf, den die
Sozialdemokraten allenthalben verzeichnen können, scheint unaufhaltsam.
Die staatliche Sozialpolitik der Nach-Bismarck-Ära durchzuckt
ein Wetterleuchten; mit dem zügigen Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung
und der staatlichen Fabrikaufsicht sowie der Schaffung schiedsgerichtlicher
Formen der Konfliktregulierung bemüht sich die Regierung, den massiven
Unmutsäußerungen der Arbeiter Rechnung zu tragen.
Doch die einflussreiche Klasse der Kapital- und Fabrikbesitzer sorgt
dafür, dass sich die Sozialreformmaßnahmen und auch die materiellen
wie organisatorischen Erfolge der Arbeiterbewegung von 1889/90 in
wirtschaftsverträglichen Grenzen halten. Mit allen erlaubten und
halberlaubten Mitteln versuchen sie insbesondere zu verhindern, dass
sich die neuentstandenen Gewerkschaftsverbände zu einer Art Gegenmacht
mausern und als solche Ansprüche auf echte Tarifpartnerschaft erheben
konnten.
Bereits das Absacken der Konjunktur zu Beginn der neunziger Jahre bietet
ihnen einen willkommenen Anlass, Arbeitern und Gewerkschaften die Zähne
zu zeigen und über Aussperrungen, schwarze Listen und branchenübergreifende
Sperren deren Streikelan zu bremsen. Im Winter 1891/92 wird dem
außergewöhnlich finanzkräftigen und mitgliederstarken Buchdruckerverband
in einem aufwendigen Arbeitskampf, der mit einer totalen Niederlage der
Arbeiter endet, die Grenzen seiner Macht geradezu lehrstückhaft vor Augen
geführt.
Ähnliche Erfahrungen gab es in anderen Produktionsbereichen. Die
Gewerkschaften versagten sich daraufhin zusehends dem Risiko eines in
seinen Erfolgsaussichten nur schwer kalkulierbaren Arbeitskampfes und
verschrieben sich nun verstärkt einer Strategie der Streikvermeidung
durch Organisationsausbau und Tarifverträge. Verbunden mit dieser
strategischen Neuorientierung (die allerdings seitens der Unternehmer
nicht honoriert wurde) war eine notorische Skepsis, ja Distanz gegenüber
all jenen Arbeiterbewegungen, die einem wohlüberlegenden und abwägenden
Kampfkalkül nicht gebührend Rechnung zu tragen schienen. Neue Konfliktlinien
zeichneten sich ab. Als beim großen Hafenarbeiterstreik im Winter 1896/97
das Zentrale Streikkomitee und prominente Sozialdemokraten die Arbeiter
nach vierwöchigem Ausstand zu einer bedingungslosen Wiederaufnahme der
Tätigkeit bewegen wollten, weil sie einen Erfolg für aussichtslos hielten,
wurden sie auf Streikversammlungen lautstark des Verrats bezichtigt und
der Streik wurde gegen den Willen der Führer noch zwei Wochen fortgesetzt.
Das Streikgeschehen in Deutschland ist fortan von charakteristischen
"Ungleichzeitigkeiten" geprägt. Die unverändert hohe Konfliktträchtigkeit
der industriellen Arbeitsbeziehungen und die kategorische Weigerung der
meisten Industriekapitäne, die Arbeiter als gleichberechtigte Sozialgruppe
mit eigenständigen Interessen und entsprechenden Organisationen
anzuerkennen, rufen Jahr für Jahr Hunderte von Kampfaktionen hervor,
an denen allein zwischen 1896 und 1904 insgesamt fast eine Million
Arbeitnehmer beteiligt waren. Und dieser Trend entwickelte sich im
kommenden Jahrzehnt bis zum Kriegsausbruch alles andere als rückläufig.
Fast zwei Millionen Streikende/Ausgesperrte weist die nicht einmal
vollständige amtliche Streikstatistik für die Jahre 1905 bis 1914 auf -
ein unbestreitbares Zeichen dafür, dass der Glaube an die Wirksamkeit
des Streikkampfes nicht nur weiterhin verbreitet, sondern offensichtlich
auch durch Niederlagen nicht zu erschüttern war. Diese Konfliktfreudigkeit
hatte sich jedoch nicht allein gegenüber einem (besonders nach der
Jahrhundertwende) spürbar wachsenden und aggressiveren Gegendruck seitens
der hochorganisierten Unternehmerschaft zu behaupten, sondern auch
gegenüber gewerkschaftsbürokratischen Anstrengungen, das Protestverhalten
der Arbeiter weitestgehend zu zügeln und in die eigne Strategie des
Interessenausgleichs einzupassen.
Der Terraingewinn der Unternehmer bei Arbeitskonflikten nahm in den Jahren
bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegenüber den Organisationserfolgen
der Gewerkschaften stetig zu. Man denke nur an die Ruhrbergarbeiterstreiks
von 1905 und 1912, die erfolgreichen Aussperrungen der bayrischen und
Berliner Metallindustriellen 1905/06, die Bauarbeiteraussperrung von 1910
und anderes mehr. Diese misslichen Erfahrungen bestärkten die
Interessenverbände der Arbeiter in ihrer Strategie einer tunlichsten
Vermeidung von Konfrontationen, um einer vermeintlichen sozialpolitischen
Isolation zu entgehen. Es war nicht leicht, diese Orientierung als einzig
sinnvolle Perspektive proletarischer Interessenvertretung den Arbeitern
nahezubringen, da die Streikerfahrungen der letzteren auch andere
Schlussfolgerungen zuließen, z. B. die einer Jetzt-Erst-Recht-Haltung.
Beim Werftarbeiterstreik im Sommer 1912, als die Gewerkschaftsvorstände
die Unterstützung von einigen tausend "wild", d. h. statutenwidrig
streikenden Arbeitern kategorisch ablehnten, erreichte der
Entfremdungsprozess zwischen Mitgliederbasis und Verbandsführung einen
vorläufigen Höhepunkt. Viele Arbeiter fühlten sich von ihrer Organisation
im Stich gelassen und in ihren Erwartungen tief enttäuscht. So blieb es
bei einem Spannungsverhältnis zwischen den auf den Ausbau der Organisation
und staatliche Anerkennung fixierten Verbandsleitungen und Teilen einer
nicht wenig erbitterten Arbeiterschaft, auch als mit der Mobilmachung
1914 und der nachfolgenden allgemeinen patriotischen Kriegsbegeisterung
mit einem Schlag alle sozialen Konfliktherde ausgetreten schienen.
|
|
Schmuckhülse für eine Streichholzschachtel, um 1910. [größeres Bild]
Eine Versammlung streikender Bergleute im Wald, 1889. [größeres Bild]
Jugendliche Arbeiter bedrohen eine Militärpatrouille, 1889. [größeres Bild]
Plan der Truppenstationierung im Ruhrgebiet, Mai 1889. [größeres Bild]
Gendarmen vor der Zeche "Oberhausen", März 1912. [größeres Bild] |