Deutsches
Historisches
Museum
Der Kampf um das tägliche Brot -
Nahrungsmittelproteste im 19. Jahrhundert
Manfred Gailus, Seite 1 2 3 4
1848/49 erweiterte sich das Spektrum des Protests zu einer bisher ungekannten Breite. Zu den klassischen Hungerunruhen, die sich in beträchtlicher Zahl wiederholten, kamen andersgerichtete Subsistenzproteste wie Arbeitskonflikte, Arbeitslosenunruhen, Maschinenstürmerei, militanter Handwerkerprotest gegen die Konkurrenz großer Kaufläden und weiteres hinzu. Auch in "Katzenmusiken" (traditionelle Rügebräuche vor den Häusern unbeliebter Personen durch demonstratives, schrilles Lärmen), in Rathausbesetzungen und Volksversammlungen waren die Überlebensprobleme der unteren Volksschichten vielfach präsent. Bezogen auf die Gesellschaftsverhältnisse als Ganzes zeitigten die Proteste Wirkungen sehr unterschiedlicher und teilweise paradoxer Art. Zunächst erwiesen sie sich für einen längeren Zeitraum als das wirksamste, letztlich unverzichtbare Mittel populärer Selbsthilfe. Bei allen persönlichen Risiken, die das illegale Protesthandeln mit sich brachte, bewirkten die Aktionen fast immer unmittelbare, kurzfristige Lageverbesserungen: subventionierte, niedrigere Preise, unentgeltliche Nahrungsbeihilfen, vermehrte Anstrengungen der privaten und öffentlichen Fürsorge. Nur vor diesem Hintergrund eines permanenten und zeitweilig auch machtpolitisch schwer beherrschbaren Protestdrucks sind die 1848/49 gewährten sozialpolitischen Zugeständnisse zu verstehen. Alle größeren deutschen Städte sahen sich zu Arbeitsbeschaffungsprogrammen gezwungen. Allein in Berlin erhielten gut 6000 Arbeitslose vorübergehend Beschäftigung. Und so wenig diese an Tradition und Herkommen gebundenen Proteste im strengen Wortsinn als revolutionär zu bezeichnen sind, so trugen sie doch zweifellos maßgeblich zur Destabilisierung der "anciens regimes" bei. Sie offenbarten die schwindende Handlungskompetenz der alten, vorrevolutionären Eliten, den gesellschaftlichen Problemdruck zu bewältigen. Allerdings war der Sozialprotest, jene sozial und kulturell der Lebenswelt der "kleinen Leute" angemessene politische Ausdrucksform, unvereinbar mit der politischen Kultur demokratischer und liberaler Reformbewegungen. Strikte Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols sowie des Privateigentums hätte das Ende jener wirksamen Formen der Selbsthilfe bedeutet. Ohne dies zu beabsichtigen, vertieften die Proteste die politische Kluft zwischen Mittel- und Unterschichten. Indirekt förderten sie das Zusammenrücken traditioneller Eliten und bürgerlicher Mittelklassen und verfestigten die Position der unteren Schichten als die des ausgeschlossenen Dritten im bürgerlichen Gesellschaftsprojekt des 19. Jahrhunderts.


Anmerkungen

1 Roger A. E. Wells, Wretched Faces. Famine in Wartime England 1793-1801, Gloucester 1988, Tabellen 1-12, S. 420-440.  [zurück zum Text]

2 Guy Lemarchand, Troubles populaires au XVIIIe siècle et conscience de classe: une prèface à la Revolution francaise, in: Annales Historiques de la Revolution francaise 297, S. 32-48 (1990). - Cynthia A. Bouton, L' "economie morale" et la guerre des farines de 1775, in: Florence Gauthier und Robert Ikni (Hgg.), La Guerre du blé au XVIIIe siècle, Montreuil 1988, S. 93-110.
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3 Arno Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988, S. 22 ff., 47ff. (der Nahrungsmittelprotest nach 1850 ist bislang nur punktuell erforscht).  [zurück zum Text]

4 Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg-Berlin 1974, S. 200-251.  [zurück zum Text]

5 Herzig (wie Anm. 3), S. 22 ff. (dort auch das Beispiel Altona, S. 53 f., 101 ff.).
Für das Nürnberger Beispiel: Rudolf Enders, Die Rolle der Kaufmannschaft im Nürnberger Verfassungsstreit am Ende des Alten Reiches, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 45, S. 125-167, 161 f. (1985).
Über Flensburg: Silke Göttsch, '. . .weil all hier in Flensburg kein Getrayde fürs Geld zu bekommen war ...' in: Grenzfriedenshejte 3/4, S. 205-214 (1984).  [zurück zum Text]

6 Herzig (wie Anm. 3), S. 47 f. und 101 ff.  [zurück zum Text]

7 Die komprimierteste Krisenanalyse bietet Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafsgeschichte, Bd 2, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen 'Deutschen Doppelrevolution' 1815-1845/49, München 1987, S. 641-659.
Zum Hungerprotest: Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens,1847-1849, Göttingen 1990, S. 138-142, S. 201-349.  
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8 Das Folgende nach: Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 77, Tit. 502, Nr. 2, Bd. 1, Bl. 134-139.   [zurück zum Text]

9 Gailus (wie Anm. 7), S. 240-246.  [zurück zum Text]

10 Hans-Heinrich Bass, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Münster, Diss. phil. 1990, S. 213-224.  
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11 Voßische Zeitung, Nr. 107, 10. 5.1847. - Nr. 110, 14. 5. 1847. - Nr. 115, 20. 5. 1847.   [zurück zum Text]

12 Für das Folgende mit ausf. Belegen: Gailus (wie Anm. 7), S. 262-282.  
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13 Ebenda, S. 304-327.   [zurück zum Text]


Literatur

Einen ersten, repräsentativen Überblick, der die wichtigsten Erscheinungsformen des Sozialprotests im 19. Jahrhundert behandelt, liefert der Aufsatzband von Heinrich Volkmann und Jürgen Bergmann (Hgg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984. - Eine erschöpfende monographische Gesamtdarstellung existiert bislang nicht. Nützlich zur Einführung ist die insgesamt jedoch zu knappe Darstellung von Arno Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988. - Eine ausführliche Untersuchung der protestreichsten Jahre des 19. Jahrhunderts bietet Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göttingen 1990.
 
Erstürmung einer Baumwolldruck-Fabrik bei Wien 1848
Erstürmung einer Baumwolldruck-Fabrik bei Wien 1848.
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Arbeiterunruhen in Breslau 1847

Arbeiterunruhen in
Breslau 1847.
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Bekanntmachung des Volks-Vereins unter den Zelten

Bekanntmachung des Volks-Vereins unter den Zelten.
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Bekanntmachung des Berliner Magistrats, 27. Mai 1848

Bekanntmachung des Berliner Magistrats,
27. Mai 1848.
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