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Die Erfahrungen der Streikwelle 1889/90 veranlassten die Unternehmer, nach
dem Auslaufen des Sozialistengesetzes als sicherstes Mittel der
"Streikverhütung" den Zusammenschluss in Verbänden zu sehen, die es
ermöglichten, Antistreikmaßnahmen branchenübergreifend zu koordinieren.
Auch in anderer Hinsicht lag das Ergebnis des Bergarbeiterstreiks in einer
grundsätzlichen Weichenstellung: Während des Streiks hatte die
sozialdemokratische Partei keinerlei Einfluss auf die Bergarbeiterschaft
gewinnen können, nach dem Zusammenbruch des Ausstands hingegen verzeichnete
sie deutliche Wahlerfolge; dieses war nicht zuletzt auf die Erfahrung
des Wortbruchs der Ruhrindustriellen und der Maßregelungen der
Bergarbeiterdelegierten zurückzuführen. Der Bergarbeiterstreik hatte also
eine Diskreditierung Wilhelms II. und des Staates zur Folge. Es war eine
der letzten Chancen vertan, die Arbeiterfrage mit sozialpolitischen Mitteln
zu entschärfen.
Die "Realgeschichte" des Streiks endet in der Ausstellung mit einem
Ausblick auf die Konsequenzen, die sich aus der Organisation der
Konfliktparteien ergaben. Trotz aller Gegenmaßnahmen der Unternehmer setzte
der Zusammenschluss der Arbeiter zu Gewerkschaften nach dem Auslaufen des
Sozialistengesetzes im Oktober 1890 in starkem Umfang ein. Als
Zentralvertretung der Freien Gewerkschaften wurde die Generalkommission
der Freien Gewerkschaften Deutschlands unter dem Vorsitz Carl Legiens
geschaffen. Die Arbeiter konnten durch die gewerkschaftliche Organisation
ihre Streikaktionen besser koordinieren und planen. Nicht zuletzt auf
Grund des rigoros vertretenen "Herr-im-Haus-Standpunkts" der meisten
Großindustriellen blieben Streiks in Deutschland jedoch ein vorwiegend
auf Klein- und Mittelbetriebe begrenztes Arbeitskampfinstrument.
Auf lange Sicht gesehen, führte die Streikerfahrung dazu, dass aus den
Kampfverbänden Regelungsverbände wurden, die sich bemühten, Arbeitskämpfe
nur noch als letztes Mittel einzusetzen und Lohn und Arbeitsbedingungen
durch Tarifverträge kollektiv auszuhandeln. In der Chronologie der
Ausstellung ist jetzt der Punkt erreicht, wo "Streik" sich in Bildzeugnissen
vielfältigster Art wiederfindet. Die Selbstdarstellung der Arbeiter, die
das neue Medium der Fotografie nutzten, steht hier der Sicht der
bürgerlichen Medien, der illustrierten Wochenzeitungen gegenüber.
Schließlich aber, und das ist für unsere Ausstellung das wichtigste
Ereignis, findet das Motiv Streik Eingang in die Salonmalerei. Der "Salon"
war als turnusmäßig wiederkehrendes Ausstellungsereignis wesentlich auch
Austragungsort des Kampfes nicht nur um die Durchsetzung von Sehweisen,
sondern auch um die Darstellung von Wirklichkeit, kurz: die Deutung der
Welt, in der der Salonbesucher lebte. Wir wissen, dass fast alle
Gesellschaften Tabuzonen errichten, die durch die bildende Kunst, die
Literatur, den Film oder andere Medien nicht betreten werden dürfen. Jede
Gesellschaft neigt dazu, sich ihrer selbst positiv zu vergewissern - das
heißt, sich auch auf der symbolischen Ebene mit Bildern oder Legenden zu
versorgen, die zeigen, wie wohlgeordnet die Welt ist, die sie sich
eingerichtet hat. Wagt jemand diese Grenzen zu überschreiten, verfällt
er gesellschaftlicher Ächtung oder wird, wie in autoritären Systemen,
Opfer strafrechtlicher Verfolgung. Wir sehen die Geschichte des Salons,
oder besser gesagt der großen Kunstausstellungen des 19. Jahrhunderts
auch als eine Geschichte der immer neuen Versuche, in die festgefügte
Phalanx derer einzubrechen, die Stil und Motive der symbolischen
Weltrepräsentanz verteidigen. Die "Herrschenden", die Inhaber von Macht
oder Funktionen, sollten dazu gebracht werden, einen bisher nicht
beachteten Aspekt der Gegenwart oder Vergangenheit
anzuerkennen. |
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Gedenkmedaillon an den Erlass Wilhelms II. zur Sozialpolitik. [größeres Bild]
Fahne des Central-Verbandes der Maurer Deutschlands -
Zahlstelle Erfurt. [größeres Bild]
Bildpostkarte der Gewerkschaften, Leipzig 1906-1914. [größeres Bild] |