Deutsches
Historisches
Museum
Einführung
Agnete von Specht, Seite 1 2 3
Gericaults Floß der Medusa machte aufmerksam auf einen politischen Skandal, Courbets große Bilder erzwangen die Anerkennung des Landvolks als bildwürdigen Gegenstand. Liebermann setzte in Deutschland einen ähnlichen Anspruch auf die Würde und Größe des einfachen, arbeitenden Menschen durch. Beispiele dieser Art ließen sich vermehren. Ein letzter Schritt auf diesem Weg war schließlich die Darstellung des Industrieproletariats, das erst relativ spät Eingang in das Medium des Salonbildes gefunden hat. Nicht, dass die Maler die soziale Frage erfunden hätten; wer Zeitung las, die Augen offen hielt, konnte das Elend sehen, wenn er wollte. Doch dass die Maler dieses Thema für bildwürdig erklärten, es in die Räume holten, in die das Publikum ging, um sich von den Widersprüchen der Wirklichkeit durch Bilder der im Grunde "geordneten" Welt zu erholen, trug mit dazu bei, die soziale Frage wirklich zu einem allgemein anerkannten Thema zu machen und den Arbeiter als eine geschichtsmächtige Kraft im Bewusstsein des Publikums zu verankern.
Deshalb versuchten wir in der Ausstellung etwas von der Salonatmosphäre des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren; in dieser Atmosphäre wurde zwar nicht der reale Kampf der Klassen ausgetragen, wohl aber der um die symbolische Anerkennung des Arbeiters. Es ging letztlich um die Frage, ob er in die Welt, die der Bürger als wichtig für sein Selbstverständnis ansah, Eingang finden sollte oder nicht. Die Avantgarde sorgte immer wieder dafür, dass der Bürger als idealtypischer Ausstellungsbesucher mit der Nase auf die Existenz von Phänomenen gestoßen wurde, denen er am liebsten aus dem Wege ging. Das Bild des streikenden Arbeiters zwang den Besucher, dem Streik nicht nur mit sozialpolitischen, polizeilichen oder lohnpolitischen Mitteln zu begegnen. Das Salonbild nötigte dazu - gerade wenn es den Arbeiter im Medium des Historienbildes vorstellte, das bislang nur den geschichtlich wichtigen Personen und Ereignissen vorbehalten war -, den Vierten Stand als Teil auch der symbolischen, der philosophischen, ethischen, moralischen Welt anzuerkennen. Mit dem Erscheinen im Salon wurde der Arbeiter erst wirklich zum Bestandteil des Weltbildes der Moderne.
Ein Epilog verdeutlichte in der Ausstellung, dass der Streik in der Tat den Arbeitern Handlungsmöglichkeiten eröffnet hat und damit zum wichtigsten Motor des sozialen Fortschritts wurde. Als Kampfmittel wurde er aber auch immer wieder mit wechselndem Erfolg zur Veränderung von systempolitischen Strukturen eingesetzt. In Belgien gelang es, das allgemeine Wahlrecht durch Massenstreiks durchzusetzen; die Streikkämpfe der polnischen Arbeiter in der Revolution von 1905 wurden dagegen blutig erstickt. In Deutschland führten Sozialdemokratie und Gewerkschaften 1904/05 die Massenstreikdebatte zwar intensiv, lehnten die politische Instrumentalisierung des Streiks aber ab; der Generalstreik wurde nur ein einziges Mal, 1920 gegen den Kapp-Putsch, erfolgreich angewendet. Erst während der Novemberrevolution von 1918 gelang es in Deutschland, ein Prinzip von Sozialstaatlichkeit festzuschreiben, das bis heute Gültigkeit hat: der gesetzliche Achtstundentag, die Einführung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen und die Anerkennung des Rechts von Gewerkschaftsorganisationen, Lohn und Arbeitsverhältnisse mit den Unternehmern auszuhandeln.
Der Mythos Streik hatte eine solche Kraft angenommen, dass ihn auch der Nationalsozialismus nicht mehr beseitigen konnte. Mit der Erhebung des 1. Mai, des internationalen Kampftages der Arbeiter, zum nationalen Feiertag übernahmen die Nationalsozialisten 1933 diesen Mythos, den sie für ihre Zwecke dann erfolgreich instrumentalisierten: Der 1.-Mai-Feiertag diente der Propagierung der mit sich selbst einigen Volksgemeinschaft, die Arbeitskämpfe zu erübrigen schien. In den realsozialistischen Staaten wurde an diesem Tag die Einheit von Arbeiterklasse, Partei und Staat zum Ausdruck gebracht.
Auch wenn der Mythos Streik durch solche Instrumentalisierungen unterging, bleibt unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft Streik für alle Lohnabhängigen ein unverzichtbares Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen.

Das Projekt wurde mit großem Engagement von den Mitgliedern der Sachverständigenkommission - den Professoren Lothar Gall, Thomas Gaehtgens und Gottfried Korff - beratend unterstützt. Bei der Bearbeitung des Themas verdanke ich wichtige Anregungen Lothar Machtan und meinen Kollegen Matthias Eberle und Hans Gerhard Hannesen aus dem Deutschen Historischen Museum. Die Ausstellung wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung von Leihgebern aus dem In- und Ausland. Allen, die an der Ausstellung mitgewirkt haben, gilt mein herzlicher Dank.
 
Demonstracja uliczna (Straßendemonstration),
                Wladyslaw Skoczylas 1905
Demonstracja uliczna (Straßendemonstration),
Wladyslaw Skoczylas 1905.
[größeres Bild]




Generalstreik! Kampforgan des Proletariats, 1904

Generalstreik! Kampforgan des Proletariats, 1904.
[größeres Bild]




Kampfgruppen im Demonstrationszug auf dem
                Marx-Engels-Platz, 1. Mai 1959

Kampfgruppen im Demonstrationszug auf dem Marx-Engels-Platz,
1. Mai 1959.
[größeres Bild]
Link: zurück Link: weiter
zurück zum nächsten Beitrag