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Gericaults Floß der Medusa machte aufmerksam auf einen politischen
Skandal, Courbets große Bilder erzwangen die Anerkennung des Landvolks als
bildwürdigen Gegenstand. Liebermann setzte in Deutschland einen ähnlichen
Anspruch auf die Würde und Größe des einfachen, arbeitenden Menschen durch.
Beispiele dieser Art ließen sich vermehren. Ein letzter Schritt auf diesem
Weg war schließlich die Darstellung des Industrieproletariats, das erst
relativ spät Eingang in das Medium des Salonbildes gefunden hat. Nicht,
dass die Maler die soziale Frage erfunden hätten; wer Zeitung las, die
Augen offen hielt, konnte das Elend sehen, wenn er wollte. Doch dass
die Maler dieses Thema für bildwürdig erklärten, es in die Räume holten,
in die das Publikum ging, um sich von den Widersprüchen der Wirklichkeit
durch Bilder der im Grunde "geordneten" Welt zu erholen, trug mit dazu
bei, die soziale Frage wirklich zu einem allgemein anerkannten Thema zu
machen und den Arbeiter als eine geschichtsmächtige Kraft im Bewusstsein
des Publikums zu verankern.
Deshalb versuchten wir in der Ausstellung etwas von der Salonatmosphäre
des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren; in dieser
Atmosphäre wurde zwar nicht der reale Kampf der Klassen ausgetragen, wohl
aber der um die symbolische Anerkennung des Arbeiters. Es ging letztlich
um die Frage, ob er in die Welt, die der Bürger als wichtig für sein
Selbstverständnis ansah, Eingang finden sollte oder nicht. Die Avantgarde
sorgte immer wieder dafür, dass der Bürger als idealtypischer
Ausstellungsbesucher mit der Nase auf die Existenz von Phänomenen gestoßen
wurde, denen er am liebsten aus dem Wege ging. Das Bild des streikenden
Arbeiters zwang den Besucher, dem Streik nicht nur mit sozialpolitischen,
polizeilichen oder lohnpolitischen Mitteln zu begegnen. Das Salonbild
nötigte dazu - gerade wenn es den Arbeiter im Medium des Historienbildes
vorstellte, das bislang nur den geschichtlich wichtigen Personen und
Ereignissen vorbehalten war -, den Vierten Stand als Teil auch der
symbolischen, der philosophischen, ethischen, moralischen Welt anzuerkennen.
Mit dem Erscheinen im Salon wurde der Arbeiter erst wirklich zum Bestandteil
des Weltbildes der Moderne.
Ein Epilog verdeutlichte in der Ausstellung, dass der Streik in der Tat
den Arbeitern Handlungsmöglichkeiten eröffnet hat und damit zum wichtigsten
Motor des sozialen Fortschritts wurde. Als Kampfmittel wurde er aber auch
immer wieder mit wechselndem Erfolg zur Veränderung von systempolitischen
Strukturen eingesetzt. In Belgien gelang es, das allgemeine Wahlrecht
durch Massenstreiks durchzusetzen; die Streikkämpfe der polnischen Arbeiter
in der Revolution von 1905 wurden dagegen blutig erstickt. In Deutschland
führten Sozialdemokratie und Gewerkschaften 1904/05 die Massenstreikdebatte
zwar intensiv, lehnten die politische Instrumentalisierung des Streiks
aber ab; der Generalstreik wurde nur ein einziges Mal, 1920 gegen den
Kapp-Putsch, erfolgreich angewendet. Erst während der Novemberrevolution
von 1918 gelang es in Deutschland, ein Prinzip von Sozialstaatlichkeit
festzuschreiben, das bis heute Gültigkeit hat: der gesetzliche
Achtstundentag, die Einführung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den
Unternehmen und die Anerkennung des Rechts von Gewerkschaftsorganisationen,
Lohn und Arbeitsverhältnisse mit den Unternehmern auszuhandeln.
Der Mythos Streik hatte eine solche Kraft angenommen, dass ihn auch der
Nationalsozialismus nicht mehr beseitigen konnte. Mit der Erhebung des
1. Mai, des internationalen Kampftages der Arbeiter, zum nationalen Feiertag
übernahmen die Nationalsozialisten 1933 diesen Mythos, den sie für ihre
Zwecke dann erfolgreich instrumentalisierten: Der 1.-Mai-Feiertag diente
der Propagierung der mit sich selbst einigen Volksgemeinschaft, die
Arbeitskämpfe zu erübrigen schien. In den realsozialistischen Staaten
wurde an diesem Tag die Einheit von Arbeiterklasse, Partei und Staat zum
Ausdruck gebracht.
Auch wenn der Mythos Streik durch solche Instrumentalisierungen unterging,
bleibt unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft Streik für alle
Lohnabhängigen ein unverzichtbares Mittel zur Durchsetzung ihrer
Interessen.
Das Projekt wurde mit großem Engagement von den Mitgliedern der
Sachverständigenkommission - den Professoren Lothar Gall, Thomas Gaehtgens
und Gottfried Korff - beratend unterstützt. Bei der Bearbeitung des Themas
verdanke ich wichtige Anregungen Lothar Machtan und meinen Kollegen
Matthias Eberle und Hans Gerhard Hannesen aus dem Deutschen Historischen
Museum. Die Ausstellung wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige
Unterstützung von Leihgebern aus dem In- und Ausland. Allen, die an der
Ausstellung mitgewirkt haben, gilt mein herzlicher Dank. |
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Demonstracja uliczna (Straßendemonstration),
Wladyslaw Skoczylas 1905. [größeres Bild]
Generalstreik! Kampforgan des Proletariats, 1904. [größeres Bild]
Kampfgruppen im Demonstrationszug auf dem Marx-Engels-Platz,
1. Mai 1959. [größeres Bild] |