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          BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE

1961 war das Jahr, in dem die Teilung der Welt in unüberwindlich scheinende Formen gegossen wurde. Der beiderseitige Konfrontationskurs zwischen Ost- und Westmächten hatte zu Mauerbau und einer vom US-amerikanischen Geheimdienst gestützten Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht geführt – zwei Ereignisse, die als bedrohliche Höhepunkte des Kalten Krieges gelten können. 1961 erstritt auch eine Reihe von nationalen Befreiungsbewegungen für ihre Länder die Unabhängigkeit von den alten Kolonialmächten. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle rief wegen des Algerienputsches, an dem überproportional viele bundesrepublikanische Fremdenlegionäre beteiligt waren, den nationalen Notstand aus. Die erste Erdumkreisung, die dem russischen Kosmonaut Jurij Gagarin gelang, ließ die Eroberung des Weltalls als unmittelbar greifbar erscheinen. Präsident John F. Kennedy, Hoffnungsträger für ein neues Amerika, proklamierte seine Politik der New Frontier, mit der die offizielle Beendigung der Rassentrennung in den USA eingeläutet wurde. Im Jahr 1961 wurde außerdem der erste deutsche Atomversuchsreaktor eingeweiht, das Wort „Trabantenstadt“ tauchte erstmals im Duden auf, und die Beatles starteten von Hamburg aus ihre Weltkarriere.
Dem Medium Film wohnt die wunderbare Möglichkeit inne, zwischen verschiedenen Einstellungsgrößen wechseln zu können – und von dieser Möglichkeit macht die Retrospektive BESTANDSAUFNAHME ’61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE ausführlich Gebrauch. Sie gewährt offene Blicke auf den Zustand der Welt in den Jahren 1960 bis 1962. Die Detailaufnahme erscheint dabei ebenso fruchtbar wie die Panoramaeinstellung. Sechs geografische und thematische Schneisen durchziehen den Dschungel der Ereignisse: sechs Programme, die auch die breite rhetorische Skala der Dokumentar- und Animationsfilme der beginnenden 1960er Jahre zur Anschauung bringen. Neben der Zentralperspektive stehen Seitenwege mit Nahaufnahmen auf die beiden damals aktuellen Krisenherde Algerien und Kuba zur Verfügung, Zeitskizzen, Pamphlete und Visionen. Die Retrospektive BESTANDSAUFNAHME ’61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE wurde von Ralph Eue und Grit Lemke kuratiert und erstmals Ende Oktober auf dem 54. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm präsentiert.

Eine Filmreihe in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm.
Gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Close-Up und Totale – Chronik eines Jahres

Hajnal után sötétség
Finsternis nach Morgendämmerung

H 1961, R: Róbert Bán, Sándor Sára, B: Robert Bán, K: Sándor Sára, 10’  35 mm, OF

Chronique d’un été (Paris 1960)
Chronik eines Sommers

F  1961, R: Jean Rouch, Edgar Morin, K: Roger Morillière, Raoul Coutard, Jean-Jacques Tarbès, Michel Brault, 85’ 35 mm, OmeU

Bewundert wird Jurij Gagarin, geschwärmt für Gina Lollobrigida und gesungen von Rum und Coca Cola auf Trinidad. Unterdessen überzieht der Ku-Klux-Klan die USA mit rassistischem Terror, de Gaulle und der Algerien-Krieg beherrschen die Aufmacher der internationalen Presse, und der Twist erobert die Dance-Floors der Welt. – Wenn es entsprechend der Wochenschau so etwas wie die Jahresschau gäbe, und wenn eine solche quer zu allen journalistischen Ressorts funktionierte, also die Absicht verfolgte, ein triftiges Bild von der Fülle einer Zeit zu geben mit ihren Berühmtheiten und Gebrauchsartikeln, Gesten und Haltungen, Parolen und Schlagzeilen, dann wäre Hajnal után sötétség dafür das Paradebeispiel. Ein Film, dessen Bilder und Töne einander wie in einem Magnetfeld anziehen oder abstoßen. Großartige Montagekunst, die fotografische Momentaufnahmen virtuos zueinander in Beziehung setzt und darüber den Zusammenhang eines vielfältigen Ganzen skizziert.
Chronique d’un été: Vorstellungen von Glück – wie sie gewöhnliche Leute im Pariser Sommer von 1960, zur Zeit des ausgehenden Algerienkrieges, zu formulieren und zu praktizieren versuchen. Vorangegangene soziologische und psychologische Studien bildeten die Basis des Projekts – die Montage der dazu realisierten kurzen Interviews auf der Straße zeigt, wie umstandslos Umfrageergebnisse manipuliert werden können. In Chronique d’un été kam zum ersten Mal der Kamera-Prototyp Eclair Coutant KMT zum Einsatz, ein sehr leichtes Gerät mit synchroner Tonaufnahme. In direktem Zusammenhang mit diesem Film wurde der Name „Cinéma Vérité“ erfunden. Die Bezeichnung für diese Spielart des Dokumentarischen ist oft simplifiziert und gern missinterpretiert worden: Im Kern bedeutet sie gerade nicht das naive Aufzeichnen einer vermeintlich offen zutage liegenden Wirklichkeit oder gar Wahrheit, sondern die Entwicklung eines Sensoriums für die Fallen, in die solch naives Tun gern tappt. (re, gl)

Einführung am 1.11.: Ralph Eue
am 1.11. um 20.00 Uhr
am 5.11. um 21.00 Uhr

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Nahaufnahme: Algerien

Algérie, année zéro
Algerien im Jahre Null

F/ALG 1962, R: Marceline Loridan, Jean-Pierre Sergent, 35’ 35 mm, OF

J’ai huit ans
Ich bin acht Jahre alt

F/ALG 1961, R: Olga Baïdar-Poliakoff, René Vautier, Yann le Masson, 12’ 35 mm, OF

Peuple en marche
ALG 1963, R : René Vautier, Ahmed Rachedi, Nacer Guenifi, 45’ Beta SP, OF

Algérie, année zéro: Die algerische Bevölkerung durchlebt in den ersten Monaten der Unabhängigkeit Tage der Euphorie, in die sich immer wieder Schmerz mischt, wenn Verdrängungen aus 30 Jahren Kolonialherrschaft und sieben Jahren bewaffnetem Kampf an die Oberfläche der Erinnerung gespült werden. Auch Zweifel werden geäußert, ob die Zukunft wirklich so strahlend werden könne, wie man es sich trotz allem erhofft. 1965 erhielt Marceline Loridan für Algérie, année zéro den Großen Preis des Leipziger Festivals.
J’ai huit ans betrachtet das damalige Besatzungs- und Kriegsgeschehen in Algerien allein durch die Aussagen und Zeichnungen von geflüchteten algerischen Kindern, die in Tunesien Zuflucht fanden. Viel Feind, viel Ehr: J’ai huit ans, ebenso militant wie anrührend, gilt als frühes Meisterwerk eines „Parallelen Kinos“. Mit ihrem kleinen Film sahen sich die Filmemacher unversehens als Feinde der französischen Armee und des französischen Staates angeklagt. J’ai huit ans wurde am 10. Februar 1962 erstmals heimlich vorgeführt, die Kopie danach beschlagnahmt. Die Zeitschrift Partisans wurde konfisziert, weil sie den Kommentartext abgedruckt hatte, das Filmmagazin Positif abgemahnt, weil es eine Kritik veröffentlichen wollte. Der Film sollte zur Nicht-Existenz verdammt werden. Das strikte Verbot jeglicher öffentlichen Vorführung bestand bis 1974 fort.
Peuple en marche: Der bretonische Filmemacher René Vautier, der seit den frühen 1950er Jahren in Nordafrika antikolonialistische Filme drehte und produzierte und von 1961 bis 1965 Direktor des Centre Audiovisuel d'Alger war, initiierte dieses Projekt zusammen mit einer Gruppe junger Filmemacher, deren Arbeit darin bestehen sollte, einen Dialog der Bilder zwischen der französischen Armee und algerischen Widerstandskämpfern zu führen. Erhebliche Teile der Aufnahmen wurden von der französischen Polizei konfisziert und zerstört. Dennoch verlieb den Filmemachern eine hinlängliche Menge Material, sodass sie eine erneute Montage in Angriff nehmen konnten. Was ursprünglich darauf angelegt war, Nachrichten im Wochenschau-Format zusammenzustellen und kontinuierlich auszuliefern, wurde nun zu einem in sich geschlossenen Film verarbeitet, der zum zentralen Dokument und Monument einer jungen Nation auf der Suche nach sich selbst wurde. Eine hoffnungsvolle filmische Vision auf den Trümmern von Alpträumen. (re, gl)


Einführung am 2.11.: Ralph Eue
am 2.11. um 20.00 Uhr
am 6.11. um 19.00 Uhr

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Schwarz-weiß – Die „Rassenfrage“

Ciganyok
Zigeuner

H 1962, R/B: Sándor Sára, K: Istvan Gaál, 17' 35 mm, OmU

Crisis: Behind a Presidential Commitment
USA 1963, R: Robert Drew, Richard Leacock, K: Richard Leacock, James Lipscomb, D.A. Pennebaker, Hope Ryden, 52’ DigiBeta, OF

Zigeuner, die mit ihren Familien in ärmlichen, unhygienischen Erdhütten wohnen, beklagen sich über unzureichende Arbeitsmöglichkeiten und ihre mangelnde gesellschaftliche Gleichstellung. Ärzte besuchen das Lager und stellen fest, dass ein hoher Prozentsatz der Bewohner unterernährt und krank ist. Kinder gehen in abgerissener Kleidung zur Schule und sind beim Zurückgehen in die Trostlosigkeit des Lagers von der Hoffnung auf ein besseres Leben erfüllt. – Eine Beobachtung von Mechanismen der Diskriminierung in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der doch wesentlich auf Abschaffung solcher Ungleichbehandlung gründet, und zugleich eines der ersten osteuropäischen Dokumente mit den Methoden des Direct Cinema.
Crisis: Behind a Presidential Commitment: Mit beachtlichem Produktionsaufwand wird dem Konflikt zwischen der Kennedy-Regierung und dem wahnwitzigen Südstaaten-Demokraten George C. Wallace, Gouverneur von Alabama, filmisch nachgespürt. Zentraler Konfliktpunkt: die Zulassung zweier schwarzer Studenten zur Universität. Es geht um Mechanismen der Macht hinter den Kulissen, um den jeweiligen politischen Stil und die zur Verfügung stehenden Alternativen. Dokument und Monument des politischen und medialen Erregungsklimas der frühen 1960er Jahre. (re, gl)

Einführung am 3.11.: Ralph Eue
am 3.11. um 20.00 Uhr
am 5.11. um 19.00 Uhr

 

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Nahaufnahme: Kuba

¿Por qué nació el Ejército Rebelde?
Warum wurde die Revolutionsarmee geschaffen?

C 1960, R: José Massip, K: Arturo Agramonte, 18’ DVD, OF

Muerte al invasor
Tod den Invasoren

C 1961, R: Tomás Gutiérrez Alea, Santiago Álvarez, K: Mario Ferrer, Pablo Martínez, Julio Simoneau, 16’ 35 mm, DF

Carnet de viaje
Kubanisches Reisetagebuch

C 1961, R/B: Joris Ivens, 34’  35 mm, frz. OF

…Y me hice maestro
Und ich wurde Lehrer

C 1961, R/B: Jorge Fraga, 18’  35 mm, OF

¿Por qué nació el Ejército Rebelde?: Ein Rückblick auf die Lage der kubanischen Bauernschaft unter der Diktatur von Fulgencio Batista. Sabotagegruppen lehnen sich gegen die Zuckerbarone auf. Aus den isoliert operierenden Widerstandsgruppen heraus entsteht die Revolutionsarmee, die die Maßnahmen der Land- und Agrarreform stützt. – ¿Por qué nació el Ejército Rebelde? wurde wie auch Muerte al invasor und ...Y me hice maestro stumm gedreht, so dass der Filmmusik eine entscheidende erzählerische und kommentierende Funktion zukam.
Für die kubanische Wochenschau Noticiero ICAIC Latinoamericano unter der Leitung von Santiago Álvarez drehte Tomás Gutiérrez Alea 1961 den kurzen Dokumentarfilm Muerte al invasor über die gescheiterte Invasion der Exilkubaner in der Bahía de Cochinos (Schweinebucht) im April 1961. Ein parteiischer Film: Alea war als Freiwilliger bei der Verteidigung gegen die Invasoren beteiligt. In einem Interview kurz vor seinem Tod erzählte der Regisseur: „In den ersten Jahren nach der Revolution war unsere Wirklichkeit sehr bewegt, sehr reich an Ereignissen, an gewaltigen Veränderungen. Man brauchte nur die Kamera zu nehmen, auf die Straßen zu gehen und loszudrehen. Da konnte man ein vitales, direktes, organisches Kino machen. Die Wirklichkeit lieferte alles und forderte den Dokumentaristen heraus.”
1960 folgte Joris Ivens der Einladung, am Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos (ICAIC) in Kuba zu unterrichten und einen Film mit den Studierenden zu drehen. Dabei ist Carnet de viaje entstanden, ein filmischer Brief aus Kuba, der einen Eindruck von der ersten Zeit der Insel nach der Revolution zu geben versucht. Der Film zeigt das alltägliche Leben kubanischer Bauern, von Volksmilizionären, Arbeitern auf den Zuckerrohrfeldern und jungen Filmemachern der ICAIC. Ivens widmete den Film Charlie Chaplin, nach dem in Havanna der neue Filmclub benannt wurde.
…Y me hice maestro: die Ausbildung von jungen Leuten in den Bergen zu ambulanten Lehrkräften. Das Vorhaben, eine neue Art von Bildung für Alle zu installieren, ist kein einfaches Unterfangen. In Fragas Film geht es aber nicht um strahlende Helden, die eine große abstrakte Parole vertreten, um sie widerborstigen konkreten Gegebenheiten überzustülpen. Stattdessen: einfache Protagonisten, die in kleinen Schritten, nämlich provisorisch und in einem Prozess der ständigen Justierung, Fertigkeiten weitergeben, die aus dem Leben kommen und für das Leben taugen sollen. In einer zeitgenössischen Kritik schrieb der kubanische Filmkritiker Julio García Espinosa: „Was uns (wie offensichtlich auch die Autoren) an diesem Geschehen beeindruckt, ist, dass ganz gewöhnliche junge Leute ein solches Leben führen, dass sie nicht das grandiose Ideal einer neuen Gesellschaft wie einen Slogan vor sich hertragen, sondern dass sich Geschichte in ihnen verwirklicht wie eine klare und alltägliche Aufgabe.“ (re, gl)

am 4.11. um 21.00 Uhr
am 6.11. um 21.00 Uhr

 

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Neue Menschen, Kalte Krieger

Variációk egy témára
Variationen über ein Thema

H 1961, R/B: István Szabó, 11’ 35 mm, OF

Igraszki
Spielzeug

PL 1962, R/B/K: Kazimierz Urbánski, 7’ 35 mm, OF (ohne Dialog)

Každý den má svoje jméno
Jeder Tag hat seinen Namen

ČSSR 1961, R/B: Juraj Jakubisko, 14’ 35 mm, OF

Alarm
ČSSR 1962, R/B/K: Antonín Horák, 10’ 35 mm, DF

Wenn ich erst zur Schule geh’...
DDR 1961, R/B: Winfried Junge, Barbara Junge, K: Hans Dumke, 13’ 35 mm

Vášeň
Passion

ČSSR 1961, R/B: Jiří Trnka, Animation: Bohuslav Sramek, 8’ 35 mm, OF (ohne Dialog)

Don Kihot
Don Quichotte

YU 1962, R/B : Vlado Kristl, 10’ Beta SP, OF (ohne Dialog)

Domy z panelů
Prefabricated Houses

ČSSR 1960, R: Jiří Menzel, B: Jiří Menzel, Jan Svoboda, 6’ 35 mm, OF (ohne Dialog)

Variációk egy témára – ein filmisches Essay in drei Teilen: „Objektiv“, „Mit Erschrecken“ und „Welch gellender Schrei“. Wie artikuliert sich Kriegslust, wie wird sie antrainiert und wie dringt militaristisches Gedankengut, einem schleichenden Gift gleich, erst unmerklich, dann immer massiver ins Innere einer eigentlich friedliebenden, aber überwiegend gleichgültigen Gesellschaft?
Igraszki – wenn die Entfesselung der Produktivkräfte zur Selbstermächtigung des menschlichen Destruktivpotentials wird: von Raubzügen mit Pfeil und Bogen über den Stellungskrieg von Blechbüchsenarmeen zur Explosion der Nuklearbombe und danach wieder in die Steinzeit. Sind Waffen des Menschen liebstes Spielzeug und Krieg nur ein Spiel? Ist jegliches Rüsten nur eine Reaktion auf die Rüstung des Feindes? Oder verschafft es einfach nur den großen Kick?
Každý den má svojé jméno: Das Pathos der viel beschworenen Geburt einer neuen Zeit mit ihrer Ikone Gagarin trifft auf eine Buñuelsche Bilderwelt jenseits des Realismus und erscheint schließlich so absurd wie diese. In freudiger Erwartung der Zukunft? Die Gegenwart jedenfalls befindet sich noch in eisiger Umklammerung der Vergangenheit. Surrealer Verweigerungsdiskurs gegenüber positivistischen Sirenengesängen.
Alarm: eine Strandidylle in der Sommerhitze. In Sichtweite davon ein Wachturm. Zwei Grenzsoldaten, die sich die Zeit vertreiben, indem sie das hübsche Treiben beobachten. Außerdem, draußen auf dem Wasser, ein Fischer und sein Sohn, die ihrem Handwerk nachgehen. Und schließlich: ein ebenso aufgeregter wie hochrangiger Militär. Er bringt ein bisschen Zackigkeit in die Sache: Friede? Ha! Das kann nur eine Provokation sein. Womöglich ein perfider Trick des Feinds? Und siehe da: plötzlich ragt ein rätselhaftes Teleskop aus dem Wasser auf...
Wenn ich erst zur Schule geh’...: 1961 war in der DDR nicht nur das Jahr des Mauerbaus, sondern auch der Einführung der zehnklassigen allgemeinen Schulbildung auf dem Land. Kameramann Hans Dumke dokumentierte beides, im Verlauf weniger Tage. Die „Kinder von Golzow“ sollten mit dem Schöpfer der gleichnamigen Langzeitbeobachtung Winfried Junge später Filmgeschichte schreiben. Hier begegnen sie sich zum ersten Mal.
Vášeň: Ein kleiner Junge traktiert sein Spielzeugauto mit technischem Ehrgeiz. Er baut ein Federwerk ein, damit es schneller fährt. Die Feder springt und landet auf seiner Nase. Später frisiert er auch Tretroller, Fahrrad und Motorrad. Der Geschwindigkeitsrausch hat ihn fest im Griff. All seine Basteleien aber enden schlimm und schlimmer. Ein Unfall folgt auf den anderen. Der letzte ist tödlich. Die Seele fliegt gen Himmel und versucht auf ihrer Bahn noch einen Sputnik zu überholen. Die Hybris des Homo technicus bis zum bitteren Ende durchdekliniert.
Don Kihot: Dem anonymen Massenmenschen droht (!) Rettung durch einen einzelnen Fantasten. Vlado Kristl zeigt ein Gewimmel motorisierter Massenmenschen, die er mit spitzer Feder, in Fahrzeugen unterschiedlicher Art und Größe, auf horizontalen, vertikalen und diagonalen Fließbändern unter fortwährendem Brummen und Tosen hin- und herschiebt, bis Don Kihot, ein blechern klapperndes Männlein, gegen das Heer der Motorisierten antritt.
Domy z panelů: Die Lösung des Wohnungsproblems war eine der Schlüsselfragen des „realen Sozialismus“. Wie eine Utopie verkommt, wurde in kaum einem Land schon so zeitig filmisch aufgearbeitet wie in der ČSSR: Neubautristesse, Impressionen aus der Vorstadt. Die Unwirtlichkeit der Städte ist nicht nur ein Phänomen kapitalistischer Urbanistik. Wohnblocks schauen dich an, niemand schaut zurück. Hier und da spielen Kinder. Der Wind trocknet Wäsche. Wenn es Abend wird, verschwinden auch die Kinder. Die Bettenburg rüstet sich für die Friedhofsruhe der Nacht. (re, gl)

am 8.11. um 20.00 Uhr
am 12.11. um 19.00 Uhr

 

 

BESTANDSAUFNAHME '61 – DIE WELT, ALS SIE SICH TEILTE
Die Zukunft – Euphorie und Menetekel

Wycieczka w kosmos
Ausflug in den Kosmos

PL 1961, R: Krzystof Dębowski, Stanisław Lem, 11’  35 mm, OF (ohne Dialog)

Kahl
BRD 1961, R/B: Haro Senft, K: Heinz Furchner, 12’ 35 mm

Sál ztracených kroků
Saal der verlorenen Schritte

ČSSR 1961; R: Jaromil Jireš, 11’ 35 mm, OmU

Actua Tilt
F 1960, R/B: Jean Herman, Kamera: Denys Slerval, 11’35 mm, OmeU

Labirynt
Labyrinth

PL 1963, R/B: Jan Lenica, K: Antoni Nurzynski, 14’ 35 mm, OF (ohne Dialog)

L’amour existe
F 1961, R/B: Maurice Pialat, K: Gilbert Sarthre, M: Georges Delerue, 21’ 35 mm, OF

Wycieczka w kosmos: eine durchtriebene Mischung aus Science und Fiction. Ein Fantasiestück darüber, was passiert, wenn man ein kleines Männlein mit solch elaborierten Phänomenen wie Transsubstantation, schwarzen Löchern und Leben aus der Retorte konfrontiert. Möglicherweise war Wycieczka w kosmos für Stanisław Lem das satirische Steckenpferd, das ihm die notwendige Erholung von seinem ebenfalls 1961 geschriebenen ernsten Roman Solaris verschaffte.
Kahl: Kurz nach der Gründung des bundesrepublikanischen Ministeriums für Atomfragen wurde die AEG mit dem Bau eines ersten deutschen Kernversuchsreaktors nahe dem unterfränkischen Kahl beauftragt. Kahl, der als Nebenprodukt eines doppelt so langen Auftragsfilms für das Unternehmen AEG entstand, ist zugleich eine Reportage über die Zeit von 1958 bis 1961, also die Frühzeit einer Technologie, die sich damals noch ohne gesellschaftlichen Gegenwind als saubere Zukunftslösung feiern konnte. Der allfälligen Euphorie begegnete Kahl mit skeptisch-distanzierter Anschauung des Bauprozesses. Kahl wurde 1961 als erster bundesdeutscher Kurzfilm für den Oscar nominiert.
Sál ztracených kroků: Der Holocaust und Hiroshima, ein junges Paar im Sommerglück, Leichenberge und Lili Marleen, ein Atompilz in der Sahara und die Stimmen lachender Kinder, Tickermeldungen und Zahlen. Eine Bahnhofshalle voller Menschen, von denen am Ende nur das Echo ihrer Stimmen bleibt – so wie die Schatten von Atombombenopfern noch zu sehen sind, wenn ihre Träger längst ausgelöscht sind. Das Trauma einer unvorstellbar zerstörerischen Kraft und einer realen Gefahr in einer expressiven Bild- und Toncollage.
Actua Tilt: ein Meisterwerk der Montage mit rasant wechselnden Bildern von Flipperautomaten, Reklamedarstellungen und melancholischen Einsamkeitsimpressionen. Ein Blick vom Anfang der 1960er Jahre in die Zukunft: „Anno 1965, oder auch früher“, so kommentierte der Regisseur Jean Herman seinen Film anlässlich der Uraufführung 1961 bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen: „Man verspricht uns, einen Menschen auf den Mond gelangen zu lassen. Man wird auch gewiss dort landen – der Mensch, der Wissenschaftler. Aber gehört nicht zu solchem sprunghaften Fortschritt, solchen monströsen Wagnissen auch der gelegentliche Gedanke an eine bevorstehende Katastrophe? Die Vor-Zeichen umgeben uns längst.“
Labirynt: Aus einem bedrohlich schwarzen Himmel stößt Ikarus, der letzte Mensch, auf die Stadt herab. Er entledigt sich seiner Flügel und beginnt, die Straßenschluchten zu erforschen, auf der Suche nach einem Wesen, das ihm gleicht. Aber wer dort lebt, hat kaum noch Menschenähnlichkeit: Eine Robbe mit Zylinder holpert hilflos des Wegs. Beine in Hosen tragen einen Reptilienrumpf, ein Zylinderhut sitzt auf einer Robbe und ein Professorenkopf auf einem kuriosen Roboter. Ikarus ist in die Welt der Körperfresser und alptraumhafter Mutationen geraten. Martin Ripkens in einer zeitgenössischen Kritik: „Kein Realfilm kann kräftiger vom Atem Kafkas durchweht sein, und das vor allem macht Lenicas Einmaligkeit aus: dass er den Zeichentrickfilm bedingungslos von jedem Odium der Behäbigkeit befreit hat.“ 1964 kam Labirynt als Vorfilm zu Andrej Tarkovskijs Iwans Kindheit in die bundesdeutschen Kinos.
L’amour existe beginnt als melancholische Erinnerung an eine Jugend in der Vorstadt, wandelt sich dann aber zu einer scharfen Beschreibung von Elend und Verfall in modernistischen Architekturklötzen: ein früher, großer Entwurf zur Gesellschaftskritik der 1960er Jahre. (re, gl)

am 11.11. um 21.00 Uhr
am 12.11. um 21.00 Uhr



 

 

 
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