DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Am 31. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet und damit eine Rahmenbedingung geschaffen, die die Einwanderung von türkischen Arbeitskräften regeln und steuern sollte. Das deutsche Kino hat sich für die zunächst als „Gastarbeiter“ bezeichneten Migrantinnen und Migranten, die schon bald eine wahrnehmbare, eigene Bevölkerungsgruppe bildeten, nur am Rande – in Ausnahmefällen – interessiert, und erste Arbeiten türkischstämmiger Filmemacher blieben ohne einen durchschlagenden, anhaltenden Erfolg. Dies änderte sich erst Mitte der 1990er Jahre, als sich mit einem Mal eine Gruppe türkischstämmiger Regisseurinnen und Regisseure, die zweite Generation türkischer Einwanderinnen und Einwanderer, massiv zu Wort meldete. Sie hat dem deutschen Kino ein neues Gesicht verliehen und auch Fragen nach den Grenzen eines „deutschen“ Kinos aufgeworfen. Die Reihe DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO berücksichtigt vor allem diese zweite Phase eines von türkischstämmigen Filmemacherinnen und Filmmachern geprägten Kinos, das mittlerweile in derart vielen Stimmlagen spricht, dass es immer schwerer fällt von einem oder dem deutsch-türkischen Kino zu sprechen.
Eine Filmreihe in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Ein Fest für Beyhan
D 1994, R: Ayşe Polat, D: Berivan Kaya, Ipek Gök, Matthias Pimpler, Füsun Demirel, Tanh Duc Ha, 25’ 35 mm
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Nach dem Spiel
D 1997, R: Aysun Bademsoy, K: Sophie Maintigneux, 60’ 16 mm
Das 19-jährige türkische Mädchen Beyhan hat ihr Zuhause verlassen. Ihre Sehnsucht nach Veränderung ist unscharf, führt sie durch stereotype Landschaften. Sie trifft merkwürdige Menschen, von denen sie ihre eigenen Träume und Erinnerungen erzählt bekommt. Scheinbar gescheitert, entschließt sie sich zur Rückkehr. Ein fernöstlicher Poet tritt auf sie zu, lädt sie zum Fest für Beyhan. Der surreal angehauchte Kurzfilm der 1970 im türkischen Malatya geborenen Regisseurin Ayşe Polat wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem WDR-Förderpreis.
Türkische Mädchen aus Berlin Kreuzberg kämpfen in Nach dem Spiel gemeinsam mit ihrer Fußballmannschaft um den Aufstieg in die Bezirksliga. Sie geraten dabei unfreiwillig zwischen zwei Frontlinien: Zum einen sehen sie sich fremdenfeindlichen Angriffen ausgesetzt, zum anderen empfinden viele männliche Landsleute ihr Auftreten als Sportlerinnen als ehrenrührig. Zwar scheitert der Traum vom Aufstieg, doch in den Biografien wurden Weichen für ein mögliches Leben jenseits festgelegter Rollenmodelle gestellt. Nach dem Spiel ist nach Mädchen am Ball (1995) und vor Ich gehe jetzt rein (2008) der mittlere Teil einer Dokumentarfilm-Trilogie über türkischstämmige Berliner Fußballerinnen. Aysun Bademsoy, geboren 1960 im türkischen Mersin, hat Theaterwissenschaft und Publizistik an der FU Berlin studiert und bereits mehr als zehn Dokumentarfilme gedreht. (cl)
Die Kopie des Films Ein Fest für Beyhan entstammt dem Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen.
Einführung: Claus Löser
Gäste: Ayşe Polat, Aysun Bademsoy
am 4.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Mach die Musik leiser
D 1994, R: Thomas Arslan, D: Andreas Böhmer, Marco Germund, Andy Lehmann, Miguel Buschhauer, Laura Tonke, 87’ 35 mm
In seinem ersten Spielfilm nach Abschluss der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) entwarf Thomas Arslan das Gruppenporträt einer Handvoll Jugendlicher in Essen, die mehr oder weniger ratlos vor der Schwelle ihres Erwachsenseins stehen. Arslan kehrte für den Film in jene Stadt zurück, in der er aufgewachsen war, die Rollen besetzte er mit Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern. Seine mit viel Musik (u.a. von Mutter, Biohazard, Pantera und Sepultura) durchsetzte Milieustudie bezieht eine beobachtende Position, hält sich mit Wertungen zurück. „Eine Alltags-Chronik, in der es um Teenager-Depressionen, Distanz und Unbeholfenheit zwischen 16-jährigen Jungen und Mädchen geht, um den Zwang, sich Arbeit suchen zu müssen, um kleine Fluchtversuche, Herumhängen, Zigaretten rauchen, Musik hören. Der Film zeigt diese Gruppe junger Menschen, die in einer entscheidenden Umbruch-Phase ihrer Entwicklung stehen.“ (Berlinale-Panorama 1994). Lange vor der durch das Feuilleton ausgerufenen „Berliner Schule“ hat Thomas Arslan, geboren 1962 in Braunschweig, in seinem Spielfilmdebüt zu jenen Stilmitteln gefunden, die ihn bis heute als einen der wichtigsten deutschen Filmemacher auszeichnen. (cl)
Einführung: Ralph Eue
Gast: Thomas Arslan (angefragt)
am 5.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Mein Vater, der Gastarbeiter
D 1994, R: Yüksel Yavuz, 52’ BetaSP
Anfang der 1960er Jahre wurde der bereits während des Nationalsozialismus benutzte Begriff des freiwilligen „Gastarbeiters“ (im Gegensatz zu den zwangsweise in Deutschland tätigen „Fremdarbeitern“) offiziell wie umgangssprachlich für jene Menschen gebräuchlich, die auf Grundlage der „Anwerbeabkommen“ unter anderem mit Spanien, Griechenland, Portugal oder der Türkei in die Bundesrepublik einreisten, um hier in der unter Personalmangel leidenden Industrie eingesetzt zu werden. Der 1963 im türkischen Kurdistan geborene Regisseur Yüksel Yavuz setzt sich mit seinem ersten Langfilm mit der Biografie seines eigenen Vaters auseinander, der 1968 den Werbungsangeboten nach Westdeutschland gefolgt war. Seine sehr persönliche Spurensuche spiegelt beide Seiten der Medaille: Die Verlockung des westlichen Wohlstands wird ebenso erzählt wie der Kulturschock nach dem Umzug sowie die latente Angst vor dem türkischen Militär, die den Vater bis 1984 abhielt, in seine geliebte Heimat zurückzukehren. Yüksel Yavuz drehte seinen Film sowohl in Deutschland als auch in Kurdistan. Seine Aufnahmen entwerfen ein beklemmendes, weil doppeltes Bild von Heimatverlust und Identitätssuche. (cl)
am 7.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Gölge – Zukunft der Liebe (Schatten)
BRD 1980, R: Sema Poyraz, Sofoklis Adamidis, D: Semra Uysal, Yüksel Topcugürler, Birgül Topçugürler, Fatos Alkan, Asil Basyildiz, 97’ 16 mm
Bereits sechs Jahre vor Tevfik Başers Sensationserfolg 40 qm Deutschland (1985) entstanden, gilt dieser dffb-Abschlussfilm als einer der frühesten filmischen Äußerungen des deutsch-türkischen Kinos. Daneben ist er der erste Spielfilm einer in Deutschland lebenden Türkin überhaupt. Erzählt werden die Orientierungssuche und das sexuelle Erwachen des Mädchens Gölge, das in Berlin-Kreuzberg zwischen Fremdheit und Integration pendelt. Zuhause leidet sie unter der klaustrophobischen Atmosphäre der Zweizimmerwohnung, in der ihre vierköpfige Familie lebt und die vor allem vom ständig laufenden Fernsehprogramm beherrscht wird. Wenn sie sich mit ihren deutschen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden treffen möchte, muss sie sich komplizierte Ausreden einfallen lassen. „Gölge versucht, sich aus dieser Enge in eine Traumwelt zu flüchten. Diese Phantasien werden aber immer wieder entweder durch den Lärm in der Wohnung oder durch ihre eigene Unfähigkeit, Sexualität zu erleben, gestört.“ (dffb). Zuletzt beschließt Gölge, aus den bedrückenden Zuständen auszubrechen; sie packt ihren Koffer und macht sich auf den Weg zu einem unbekannten Ziel. (cl)
Einführung: Madeleine Bernstorff
Gast: Sema Poyraz
am 11.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
40 qm Deutschland
BRD 1985, R: Tevfik Başer, D: Özay Fecht, Yaman Okay, Demir Gökgöl, Mustafa Gülpinar, Grit Mackentanz, 80’ 35 mm
Euphorisiert und auch verunsichert reagierte die bundesdeutsche Öffentlichkeit, als 1986 auf dem wichtigsten Filmfestival der Welt plötzlich ein 37-jähriger, in Hamburg lebender Türke wie aus dem Nichts auftauchte, um mit einem Low-Budget-Film weltweit für Aufsehen zu sorgen. Tevfik Başer hatte in Cannes das kleine Wunder vollbracht, einen packenden Film vorzulegen, mit dem niemand gerechnet hatte, zu einem Thema, das in seinem Entstehungsland bislang als kaum verfilmungswürdig galt. Die kammerspielartig erzählte Geschichte des Gastarbeiters Dursun, der sich die wesentlich jüngere Turna aus dem heimatlichen Anatolien nach Deutschland vermitteln lässt und sie in seiner Wohnung wie ein Möbelstück hält, öffnete Perspektiven auf ein unbekanntes Deutschland, das doch in jeder Großstadt gleich hinter der nächsten Wohnungstür zu finden gewesen wäre. Mit beneidenswerter gestalterischer Sicherheit schaffte es der Film, Aufklärungsarbeit zu leisten, ohne ins Didaktische abzugleiten. Dabei kam er ohne nahe liegende Opfer-Täter-Schemata aus. „Bei seiner eindringlichen Darstellung der Gefühle und inneren Erfahrungen verlässt sich Başer nahezu ganz auf die Bildersprache. So wird 40 qm Deutschland zu einem Film, der den Zuschauer still, aber voller innerer Spannung, ja, Dramatik, in das Geschehen hineinsaugt.“ (Heike Mundzeck, Frankfurter Rundschau, 18.1.1986). (cl)
am 12.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Abschied vom falschen Paradies
BRD 1988, R: Tevfik Başer, D: Zuhal Olcay, Brigitte Janner, Ruth Olafsdóttir, Barbara Morawiecz, Ayse Altan, 96’ 35 mm
Nach dem Erfolg seines Debüts 40 qm Deutschland wurde Tevfik Başer durch die Feuilletons und Talkshows gereicht, mit dem Bundesfilmpreis gekürt und 1989 mit der deutschen Staatsbürgerschaft ausgestattet. Dem Regisseur schienen alle Türen offen zu stehen; relativ schnell konnte er einen Nachfolgefilm realisieren. Abschied vom falschen Paradies, 1988 von Ottokar Runze nach einem Buch von Saliha Scheinhardt produziert, knüpfte künstlerisch an seinen Vorgänger an und stellt inhaltlich sogar so etwas wie eine Fortsetzung dar. Eine junge Türkin, die in einer Notsituation ihren Mann ermordet hat, erlebt ausgerechnet im Gefängnis die innere Befreiung, lernt Deutsch und knüpft Kontakte zu Mitgefangenen. Doch nach ihrer vorzeitigen Entlassung wegen guter Führung leiten die Behörden eine Abschiebung in die Türkei ein, wo ein nochmaliger Prozess mit weitaus höherem Strafmaß auf sie zuzukommen droht. „Başers erzählerisches Modell ist gleich geblieben. Wieder wird ein Mensch, der drinnen ist, eingekreist, umklammert, und vom Draußen bleiben nur Abstraktionen, Träume.“ (Andreas Kilb, Die Zeit, 5.5.1989). Nach Abschied vom falschen Paradies hat der Regisseur mit Lebewohl, Fremde (1991) nur noch einen weiteren Film drehen können. (cl)
am 14.10.2011 um 19.00 Uhr
am 16.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Aprilkinder
D 1998, R: Yüksel Yavuz, D: Erdal Yildiz, Inga Busch, Bülent Esrüngün, Senem Tepe, Serif Sezer, Cemal Yavuz, 88’ 35 mm
Eine kurdisch-türkische Familie in Hamburg: Während Cem in einem Schlachthof schwer arbeitet, zieht sein jüngerer Bruder Mehmet das sorglose Leben eines Kleinkriminellen vor. Der Vater liegt apathisch im Bett, die jüngere Schwester steckt in Pubertätsproblemen. Zusammengehalten wird die Familie von der Mutter, die sich auf die baldige Hochzeit ihres ältesten Sohnes mit einer Cousine aus Anatolien freut. Zu dumm, dass Cem sich gerade in eine Prostituierte verliebt hat und keineswegs den Plänen der Mutter folgen will.
Yüksel Yavuz hat mit Aprilkinder ein stark autobiografisch geprägtes Spielfilmdebüt über die Identitätssuche der zweiten Generation türkischer Zuwanderinnen und Zuwanderer gedreht. (Vor seinem Filmstudium hat er selbst in einer Wurstfabrik gearbeitet, die Rolle des Vaters wird von seinem eigenen Vater gespielt.) Ihm ist ein intensives Gruppenporträt gelungen, in dem die Zerrissenheit zwischen Tradition und Selbstbestimmung glaubhaft beschrieben wird. „Warum fällt diesen jungen türkischen Regisseuren nur alles so leicht? Beinahe sieht es aus, als hätten sie irgendwo eine Kamera hingestellt, und die Geschichte sei dann ganz von selbst vorbeigekommen. So direkt ist das.“ (Kerstin Decker, Der Tagesspiegel, 28.1.1999). (cl)
am 14.10.2011 um 21.00 Uhr
am 15.10.2011 um 19.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Anam
D 2001, R: Büket Alakus, D: Nursel Köse, Saskia Vester, Audrey Motaung, Patrycia Ziolkowska, Leonard Lansink, 86’ 35 mm
Als die türkischstämmige Putzfrau Anam realisiert, dass ihr 20-jähriger Sohn Deniz zum Rauschgiftsüchtigen geworden ist, entfaltet sie ungeahnte Energien. Gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen – der lebenslustigen Deutschen Rita und der schwarzafrikanischen, esoterisch angehauchten Didi – macht sie sich auf den Weg in die Hamburger Unterwelt, um Deniz aus den Fängen der Drogenmafia zu befreien. Dass ihr Sohn ihre Hilfe gar nicht will, kann sie ebenso wenig abschrecken wie die Drohgebärden (des von Birol Ünel wunderbar fies gespielten) Dealers Hasan. „War etwa die Hauptfigur in 40 qm Deutschland noch ganz leidendes Opfer der Verhältnisse, so ist Anam eine Türkin mit Selbstbewusstsein, die sich im Lauf der Geschichte immer mehr von der traditionellen Rolle als Frau und Mutter und manchen falschen Illusionen entfernt. Auf den Trümmern ihres Familienlebens entwickelt sie ein neues Selbstbewusstsein. Gegen die der Thematik innewohnende Tendenz des Moralinsauren wirken die Dynamik der Handlung und die Natürlichkeit der Darstellerinnen.“ (Wolfgang M. Hamdorf, film-dienst, 9/2002). Die 1971 in Istanbul geborne Regisseurin Büket Alakus studierte in Hamburg Regie und realisierte mit Anam ihr Spielfilmdebüt. Den Film hat sie ihrer Mutter gewidmet. (cl)
am 15.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Deutsche Polizisten
D 2000, R: Aysun Bademsoy, K: Sophie Maintigneux, 60’ 16 mm
Drei Berliner Polizisten einer Hundertschaft aus Neukölln / Kreuzberg werden bei ihrem Berufsalltag beobachtet, zwei von ihnen stammen aus der Türkei, einer aus dem einstigen Jugoslawien. Sie eskortieren betrunkene Hertha-Fans, spüren polnische Schwarzarbeiterinnen auf oder verfolgen Drogendealer am Kottbuser Tor. Sie machen ihre Arbeit gern, werden aber auch schon mal von ihren Landsleuten als „Verräter“ beschimpft. Sie vermeiden deshalb, während der Arbeitszeit in ihren Muttersprachen zu reden, halten sich ans Amtsdeutsch. Und zur Betriebsweihnachtsfeier trägt einer von ihnen eine blonde Perücke und singt Wolfgang-Petry-Schlager. Sieht so die gelungene Integration aus? „Wie gehen türkisch- oder jugoslawischstämmige Menschen damit um, wenn sie plötzlich einen deutschen Pass in der Hand halten? Immerhin sind die jungen Männer, die Bademsoy fünf Wochen lang beobachtet hat, als Hüter des Gesetzes auch Diener des Staates. Der Film kommentiert nicht, sondern stellt klar: Einbürgerung ist keine Vergünstigung für bessere Menschen, sondern ein erstrebenswertes Grundrecht.“ (Harald Fricke, die tageszeitung, 12.2.2002). Die auf dem „Forum des jungen Films“ uraufgeführte Dokumentation wurde von Harun Farocki produziert, die dynamische Kamera führte Sophie Maintigneux. (cl)
am 16.10.2011 um 19.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Gegen die Wand
D 2004, R: Fatih Akin, D: Birol Ünel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck, Güven Kirac, Metlem Cumbul, 121’ 35 mm
Als Gegen die Wand im Februar 2004 auf der Berlinale mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet wurde, wurde Fatih Akin als Regisseur schlagartig bekannt. Sein Erfolg stand stellvertretend für das Phänomen eines neuen deutsch-türkischen Kinos, das sich ab Mitte der 1990er Jahre mehr und mehr bemerkbar gemacht hatte. Anders als bei Tevfik Başer, der sich 1985 mit 40 qm Deutschland als Einzelgänger durchsetzen musste, war der Triumph von Fatih Akin Ausdruck einer breiteren Bewegung, die sich nun lautstark bemerkbar machte. Der Film erzählt stilsicher und mit vielen Verweisen auf das Genre-Kino von der fatalen Liebesbeziehung zwischen zwei türkischstämmigen Selbstmordkandidaten in Hamburg, die eine Scheinehe eingehen. Die Probleme beginnen, als sie sich ihrer wirklichen Empfindungen gewahr werden. „Man sieht dem Film an, dass er viel Kraft gekostet hat, doch dieser Kraftakt ist nicht verpufft, sondern auf der Leinwand präsent. Gegen die Wand ist physisches, direktes Kino, das einen unmittelbar anspringt mit seiner fiebrigen Energie, seiner flackernden Intensität und seiner manchmal rohen Wucht. Fatih Akin hat mit seinem Film eine Tür geöffnet und für kräftigen Durchzug im hiesigen Kino- und Kulturbetrieb gesorgt.“ (Volker Gunske, TIP-Magazin, 6/2004). (cl)
am 18.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Lautlos
D 2004, R: Mennan Yapo, D: Joachim Król, Nadja Uhl, Christian Berkel, Rudolf Martin, Lisa Martinek, 94’ 35 mm
Ein Auftragskiller begeht den entscheidenden Fehler seiner Laufbahn: Er verliebt sich in die Frau eines seiner Opfer. Dass er damit auch eine neue Chance für sein eigenes Leben erhält, realisiert er erst allmählich. Nach einigen Turbulenzen wagt er mit der Liebe seines Lebens einen Neubeginn. Mit Lautlos hat Mennan Yapo, 1966 als Sohn türkischer Eltern in München geboren, einen Spielfilm-Erstling inszeniert, in dem es keinerlei Bezüge zu seiner ethnischen Herkunft gibt. Der als Autodidakt zur Regie gekommene Filmemacher huldigt dem puren Genre-Kino, ohne dabei die Wahrscheinlichkeit der Handlung besonders auf den Prüfstand zu stellen. Sein Stilwillen nimmt deutliche Anleihen beim Film noir und bei den eleganten französischen Thrillern aus den 1960er Jahren. „Zwar wirkt der Film immer wieder ein bisschen zu stilisiert, die düster stimmungsvollen Orte sind spürbar arrangiert, die Dialoge sagen einen Hauch zu viel, und manche kriminalistische Wendung scheint allzu konstruiert. Trotzdem ist Lautlos so faszinierend, dass man immer wieder zurückfindet zu seinen traurigen Helden. Insgesamt ein überzeugender Versuch, ein Genrekonzept auf deutsche Verhältnisse zu übertragen.“ (Anke Sterneborg, epd-Film 5/2004). (cl)
am 19.10.2011 um 20.00 Uhr
am 21.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Ich bin die Tochter meiner Mutter
D 1996, R: Seyhan C. Derin, 88’ 16 mm
Seyhan C. Derin wurde 1969 im türkischen Çaycuma (in der Schwarzmeer-Region) geboren. Als Kind siedelte sie mit ihren Eltern nach Deutschland über. Die als Abschlussfilm an der Münchener Filmhochschule entstandene Dokumentation nimmt eine bewusst subjektive Perspektive ein, konzentriert sich ganz auf die Eltern der Filmemacherin. Ich bin die Tochter meiner Mutter beleuchtet die Motivationen ihres Umzugs vor fast dreißig Jahren sowie die aktuelle Situation der inzwischen betagten Eltern. Während sich ihre Mutter im ständigen Pendeln zwischen zwei Kulturen mehr oder weniger eingerichtet hat, will der Vater nach dem Eintritt ins Rentenalter so schnell wie möglich zurück in die Heimat. Ständig geplagt von Heimweh, hat er deren Verlust nicht wirklich überwunden. Seyhan C. Derin entwickelt großes Verständnis für die Position von Vater und Mutter, macht aber zugleich deutlich, dass sie auf keinen Fall mit zurück in die Türkei gehen wird – ihre Heimat heißt nun Deutschland. Ich bin die Tochter meiner Mutter, der neben den dokumentarischen Passagen auch mit Spielfilmsequenzen arbeitet, feierte auf den Berliner Filmfestspielen 1996 Premiere und wurde auf mehreren anderen Festivals mit Preisen ausgezeichnet. (cl)
Einführung: Madeleine Bernstorff
Gast: Seyhan C. Derin
am 20.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Auf der anderen Seite
D/TR/I 2007, R: Fatih Akin, D: Baki Davrak, Nursel Köse, Hanna Schygulla, Tunçel Kurtiz, Nurgül Yesilçay, Patrycia Ziolkowska, 120’ 35 mm
Nach dem Überraschungserfolg von Gegen die Wand war Fatih Akin plötzlich ein gefragter Regisseur, der jeden Stoff hätte verfilmen können. Er kündigte an, den Berlinale-Sieger als Ausgangspunkt für eine Trilogie unter dem Motto „Liebe, Tod und Teufel“ auszubauen. Auf der anderen Seite wurde als zweiter Teil dieser Trilogie konzipiert. Erzählt werden darin sechs, zwischen Deutschland und der Türkei kunstvoll verwobene Schicksale, die erst zuletzt ihre genauen Zusammenhänge offenbaren. Ein türkischer Rentner nimmt gegen Geld die Prostituierte Yeter zu sich. Sein Sohn, ein Germanistikprofessor, lehnt diese späte Leidenschaft ab, begibt sich aber nach dem plötzlichen Tod Yeters nach Istanbul, um dort nach der Tochter der Frau zu suchen. Diese lebt als illegale Einwanderin in Deutschland, wo sich die 20-jährige Charlotte in sie verliebt hat. Charlottes Mutter ist von dieser Beziehung nicht begeistert, reist aber wenig später selbst nach Istanbul. „Akins Film handelt vom Suchen und Aneinandervorbeilaufen, vom Nicht-Erkennen in vielen Facetten.“ (Harald Jähner, Berliner Zeitung, 26.9.2007). Stilistisch hat Fatih Akin eine auffällige Kehrtwende vollzogen: An die Stelle der direkten Konfrontation und der Genre-Anleihen von Gegen die Wand lebt sein Nachfolgefilm von kreisenden Bewegungen und Spiegelungen, steht damit eher in der Tradition des europäischen Autorenkinos. (cl)
am 21.10.2011 um 18.30 Uhr
am 22.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Aus der Ferne
D 2006, R: Thomas Arslan, 89’ 35 mm
„Man sollte sich davor hüten, alles zu erklären, denn Figuren brauchen Freiräume, damit sie ein Eigenleben entwickeln können. In meinen Filmen sollen verschiedene Weisen, den Alltag zu erfahren, nicht gegeneinander ausgespielt werden.“ (Thomas Arslan, die tageszeitung, 25.3.2006). Ebenso wie in seinen Spielfilmen geht Arslan auch in seinem Reisefilm Aus der Ferne von einer offenen Struktur aus: Das Wirklichkeitsmaterial dient ihm nicht zur Illustration von Thesen, sondern erzeugt einen Fluss des Erzählens und Beobachtens, der sich aus sich selbst entwickelt. Arslan wurde in Wuppertal geboren, ging in Ankara zur Schule und studierte an der dffb Filmregie. Mit diesem Film kehrte er in seine türkische Teilheimat zurück, durchstreifte sie mit der Kamera zwei Monate lang von Westen nach Osten. Bilder, Begegnungen und Töne wurden auf dieser Reise nicht gesucht und dann thesenhaft kombiniert – sie entfalten sich als eigendynamische Collage, einzig geprägt von der Neugierde des Blicks und dem Wissen darüber, dass die Behauptung eines allwissenden Autorenstandpunkts lächerlich wäre. Indem Arslan auf jede perspektivische Anmaßung verzichtet, macht er weitaus mehr sichtbar als dies eine konventionelle Reportage je könnte. (cl)
Gast am 22.10.: Thomas Arslan (angefragt)
am 22.10.2011 um 19.00 Uhr
am 23.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Import–Export
D 2006, R: Eren Önsöz, 90’ DigiBeta
Die 1972 in der mitteltürkischen Industriestadt Kayseri geborene Regisseurin begibt sich in ihrem Film Import – Export auf eine Reise von ihrer neuen in die alte Heimat. Zwischen Berlin und dem Bosporus sucht sie nach Spuren deutsch-türkischer Vergangenheit jenseits gängiger Klischees und Vorurteile. Ihr dokumentarisches Road Movie fördert Erstaunliches zutage, lebt dabei sowohl von sorgfältiger Recherche als auch von Improvisation (einige Passagen wurden auf Super-8 gedreht). Der Film ruft die enge Zusammenarbeit zwischen dem Osmanischen und dem Deutschen Kaiserreich ebenso in Erinnerung wie die Tatsache, dass zahlreiche deutsche Oppositionelle während des Nationalsozialismus in der Türkei Asyl fanden. Auch dass der bayrische Märchenkönig Ludwig II. ausgesprochen „turkophil“ war, dürfte bisher kaum bekannt gewesen sein. Zu den Interviewpartnern der Regisseurin gehören der Historiker Götz Aly (Nachkomme eines „Kammertürken“, der im 17. Jahrhundert zwangsweise nach Preußen gebracht wurde) oder Edzard Reuter, dessen Vater als sozialdemokratischer Funktionär zwischen 1935 und 1945 in Ankara Zuflucht fand. „Ich wollte beweisen, dass der kulturelle Import-Export seit Jahrhunderten existiert und eine Bereicherung für beide Länder darstellt.“ (Eren Önsöz). (cl)
Einführung: Fabian Tietke
Gast: Eren Önsöz
am 23.10.2011 um 19.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
En Garde
D 2004, R: Ayşe Polat, D: Maria Kwiatkowsky, Pinar Erincin, Luk Piyes, Antje Westermann, Geno Lechner 94’ 35 mm
In einem katholischen Mädcheninternat entspinnt sich zwischen der hypersensiblen Alice und der von Abschiebung bedrohten Kurdin Berivan eine intensive, doch zerbrechliche Freundschaft. Als sich die Kurdin in einen Pizzaboten verliebt und für Alice damit die Beziehung zur Disposition steht, kommt es zur Katastrophe. Ayşe Polats Spielfilm lebt vor allem von der Tondramaturgie, originellen Regieeinfällen sowie den beiden jungen Hauptdarstellerinnen. Als Alice brilliert in fast beängstigender Intensität die Anfang Juli 2011 plötzlich verstorbene Maria Kwiatkowsky, die für ihre Leistung 2004 auf dem Filmfestival in Locarno mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde. Der Film selbst gewann dort den „Silbernen Leoparden“. Ayşe Polat hat bereits als 16-jährige mit der Super-8-Kamera experimentiert und jahrelang in der Filmbranche gearbeitet, bis sie mit Ein Fest für Beyhan (1994) vernehmlich auf sich aufmerksam machte. Inzwischen inszenierte sich auch für die Theaterbühne und es „ist klar, dass die in Hamburg lebende Kurdin zu den Hoffnungsträgern des jungen deutschen Kinos gehört.“ (Bettina Musall, Kulturspiegel 12/2004). (cl)
am 25.10.2011 um 20.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Im Schatten
D 2010, R: Thomas Arslan, D: Mišel Matičević, Karoline Eichhorn, Uwe Bohm, Rainer Bock, Hanns Zischler, 86’ 35 mm
Thomas Arslans Film war eine Überraschung auf der Berlinale 2010: Der neben Angela Schanelec und Christian Petzold als Mitbegründer der informellen „Berliner Schule“ geltende Regisseur lieferte einen packenden Gangsterfilm mit Verfolgungsfahrten, Überfällen und Schusswechseln. Arslan selbst beschreibt den Wechsel als weniger dramatisch: „Prinzipiell sehe ich da keinen Unterschied zwischen Genre und Nicht-Genre. Filme abseits des Genres sind für mich nicht per se authentischer oder näher an der Wahrheit dran. Daher war der Schritt für mich gar nicht so groß.“ (Thomas Arslan, TIP-Magazin, 4/2010). Sein präzis inszenierter, bisweilen an Jean-Pierre Melville erinnernder Film beschreibt die Wege des gerade aus der Haft entlassenen Trojan (mit starker physischer Präsenz von Mišel Matičević gespielt), der so schnell wie möglich seine kriminellen Aktivitäten wieder aufnehmen möchte. Er gerät dabei in ein Labyrinth von alten Seilschaften, korrupten Polizisten und zwiespältigen Anwälten. Reinhold Vorschneiders Kamera erschließt dafür tief gestaffelte, verspiegelte Räume. Berlin-Mitte und Kreuzberg erscheinen als perfekte Kulissen dieser unterkühlten, auf ihre dunkle Zweckdienlichkeit hin reduzierten Konstellationen. (cl)
am 28.10.2011 um 21.00 Uhr
am 29.10.2011 um 19.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Chiko
D 2008, R: Özgus Yildirim, D: Denis Moschitto, Volkan Özcan, Moritz Bleibtreu, Fahri Ogün Yardim, Philipp Baltus, Hans Löw, 92’ 35 mm
Eine Karriere im Drogenmilieu erscheint dem jugendlichen Chico als erstrebenswerte Laufbahn. Gemeinsam mit seinem besten Kumpel Tibet setzt er alles daran, endlich eine ernsthafte Aufgabe in der Szene zu bekommen, die über die bisherigen Handlanger-Jobs hinausgeht. Von der Energie des aufstrebenden Duos beeindruckt, nimmt sich der Großdealer Brownie (Moritz Bleibtreu) der Beiden an. Als Gesellenstück soll Chiko zehn Kilo Gras innerhalb von zehn Tagen verkaufen. Trotz gewisser Anfangserfolge lassen die Probleme nicht lange auf sich warten. Denn Tibet arbeitet auf eigene Rechnung und Brownie spielt gekonnt die beiden Freunde gegeneinander aus. „Der Regisseur ist im Spiel mit Zitaten so stilsicher, dass Chiko zuallererst ein Film ist, den man gerne anschaut. Zudem gelingt es mit teils unverbrauchten, teils originell gegen den Strich besetzten, durchweg guten Darstellerinnen und Darstellern, dass die Handlung trotz aller zelebrierten Plattitüden nahe geht.“ (Jörg Gerle, film-dienst, 8/2008). Das mit sichtlicher Freude am Genre des Gangsterfilms und entsprechenden US-amerikanischen Vorbildern inszenierte Spielfilmdebüt wurde von Fatih Akin produziert. Als Schauplatz dient wie bei dessen frühen Filmen Hamburg, wo Özgus Yildirim 1979 geboren wurde. (cl)
am 29.10.2011 um 21.00 Uhr
am 30.10.2011 um 21.00 Uhr
DEUTSCH-TÜRKISCHES KINO
Almanya – Willkommen in Deutschland
D 2011, R: Yasemin Samdereli, D: Vedat Erincin, Fahri Yardim, Lilay Huser, Demet Gül, Rafael Koussouris, Axel Milberg, 95’ 35 mm
Almanya - Willkommen in Deutschland ist der Film zur deutsch-türkischen Integration und den sich daraus ergebenden Problemverschiebungen – pünktlich zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens. Ausgehend von der Frage eines Enkels an den Opa, ob man nun eigentlich deutsch oder türkisch sei, entwirft die Regisseurin einen über drei Generationen erstreckenden Bilderbogen einer Familie aus Anatolien. Um die Wurzeln der Familie aufzufrischen, wird eine gemeinsame Reise in die alte Heimat organisiert. Die sich daraus ergebenden aktuellen Verwicklungen werden durch Rückblenden und surreale Einsprengsel gebrochen. Yasemin Samdereli und ihre Drehbuchautorin und Schwester Nesrin Samdereli, geboren 1973 und 1979 in Dortmund, zeichnen diesen Reigen mit viel Witz und Selbstironie, sie „blasen sämtliche Klischees, die es zum Thema Deutschtürken gibt, wie Seifenblasen auf, um diese dann lustvoll platzen zu lassen. Hat sich der lustige Krach dann gelegt, kriegt der Zuschauer Einblicke in die komplexe Patchworkidentität, die sich deutsch-türkische Sippschaften so über drei Generationen zugelegt haben.“ (Christian Buß, Der Spiegel, 12.2.2011). Abgesehen davon ist Almanya auch überaus erfolgreich: Wenige Wochen nach seinem Kinostart war er bereits von mehr als einer Million Menschen gesehen worden. (cl)
am 30.10.2011 um 19.00 Uhr
|