OHNE GENEHMIGUNG
DIE FILME VON RENÉ VAUTIER IM KONTEXT VON CINÉMA MILITANT, INTERNATIONALISMUS UND ANTI-KOLONIALEN KÄMPFEN
EINE WERKSCHAU
Der bretonische Filmemacher René Vautier (*1928) hat wie kein Zweiter die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts auf der Seite der Entrechteten begleitet. Seine Filme sind einerseits Dokumente aus dem Inneren von Kämpfen, entstanden zu einer Zeit, als noch nicht entschieden war, welche Interessen sich durchsetzen werden. Sie stehen aber auch für eine ermächtigende Praxis des Filmemachens und Filmezeigens. Die von Madeleine Bernstorff und Sebastian Bodirsky kuratierte Werkschau OHNE GENEHMIGUNG geht dieser partizipativen Kraft von Vautiers Werken nach und verfolgt ihr historisch-politisches Versprechen bis in die Gegenwart hinein – mit der Vorführung von Filmen Vautiers und Filmen aus seinem Umfeld, mit der Präsentation von fünf algerischen Produktionen, die nach der Unabhängigkeit entstanden sind, sowie mit Vorträgen, Gesprächen und nicht zuletzt in Anwesenheit zahlreicher Gäste.
„Man sollte die Geschichtsschreibung nicht den Regierungen überlassen”, zitiert René Vautier den algerischen Schriftsteller Kateb Yacine. Seit seinem ersten Film Afrique 50, dem ersten französischen anti-kolonialen Film, hat Vautiers Schaffen nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Von der Résistance während des Zweiten Weltkriegs und den Arbeitskämpfen in der Bretagne nach Westafrika, vom algerischen Maquis nach Tunesien und wieder an die bretonische Küste zurück, prägt Vautier die Haltung eines Internationalisten und Widerständigen, der mit einem klaren Blick für politische Dringlichkeiten ausgestattet und in andauernde Kämpfe gegen die Zensur verstrickt ist.
Die Werkschau OHNE GENEHMIGUNG wird von der DEFA-Stiftung, Berlin, dem Hauptstadtkulturfonds, Berlin und dem Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart, gefördert und von der Cinémathèque de Bretagne in Brest, der Cinémathèque Algérienne in Algier und dem Goethe-Institut Algerien unterstützt. Ein besonderer Dank geht an Brigitta Kuster, Moira Vautier und René Vautier.
OHNE GENEHMIGUNG
Ohne Genehmigung und sofort!
Cinématon #1559: René Vautier
F 1992,R/K: Gérard Courant, Mitwirkender: René Vautier, 4‘ DVD, stumm
Ohne Genehmigung. Selbstportrait eines engagierten Regisseurs
BRD 1974, P: Norddeutscher Rundfunk, Redaktion: Hans Brecht, Mitwirkender: René Vautier, 38‘ DVD
Le Remords
Gewissensbisse
F 1973, R: René Vautier, Mitwirkende: Micheline Welter, René Vautier, 12‘ Beta SP, OmU
Der Cinématon #1559: René Vautier ist eines der zahlreichen stummen Super8-Portraits, die Gérard Courant seit 1977 realisiert hat. Vautier nutzt diese Bühne aus eine Weise, wie er viele Situationen angegangen ist: Im richtigen Moment die Initiative ergreifen und verständliche, nahe liegende Mittel für die größtmögliche Wirkung verwenden.
Vautier stellt seine Filme in den Dienst der Informationsvermittlung und Überzeugungsarbeit. Das Gespräch mit dem Publikum ist für ihn dabei von zentraler Bedeutung. Über den gesamten Zeitraum seines Schaffens finden sich Aufnahmen, in denen er seine Filme vorstellt und erläutert, wofür und gegen welche Widrigkeiten er sie hergestellt hat. Ein sehr besonderes Dokument dieser Art ist Ohne Genehmigung. Selbstportrait eines engagierten Regisseurs, das Vautier im Rahmen des NDR Film-Clubs mit dem Redakteur Hans Brecht realisiert hat.
„Je n'ai jamais pensé que j'étais un cinéaste (Ich habe mich nie als Filmregisseur verstanden)“, sagte Vautier im Gespräch mit Jean-Luc Godard im Jahr 2002. Was zunächst wie eine Koketterie wirkt, hat einen wahren Kern: Vautiers Filme sind ästhetisch vielfältig und einfallsreich, doch nie dem „großen Kino" verpflichtet. In Le Remords spielt Vautier selbst einen Filmemacher, der Zeuge eines rassistischen Übergriffs geworden ist und irgendwann – sehr viel später – einen großartigen Film aus dieser Erfahrung machen möchte. (sb)
Moderiert von Sebastian Bodirsky und Madeleine Bernstorff
am 5.12.2012 um 19.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Marée noire, colère rouge
Ölpest und rote Wut
F 1978, R: René Vautier, 64’ 16 mm, OmU
Am 16. März 1978 prallte der Öltanker Amoco Cadiz infolge eines Ausfalls der Ruderanlage auf einen Felsen in der Nähe von Portsall, einem kleinen Hafen im Norden des bretonischen Départements Finistère. Eine immense Ölkatastrophe war die Folge. Die Anwohner waren über die Differenz zwischen der öffentlichen Berichterstattung in den Medien und ihrer eigenen Wahrnehmung entsetzt. René Vautier produzierte sehr schnell einen Film über dieses Phänomen. Schon einige Wochen nach der Katastrophe wurde er an den Stränden und in den Dörfern der Bretagne vorgeführt. Marée noire, colère rouge handelt von den Lügenkampagnen und den desaströsen Folgen der Umweltkatastrophe. Vautier und seine Protagonisten prangern die läppischen Maßnahmen der Regierungen an, die finanziellen Interessen, den Ölhandel und die Rolle der Medien als verschleiernde Komplizen der Politik. Für die Fernsehfassung sollten die medienkritischen Szenen herausgeschnitten werden, also lief der Film nie im Fernsehen... Der hartnäckige Kampf der bretonischen Aktivistinnen und Aktivisten und ihr Erfolg vor Gericht gelten als ein Präzedenzfall in der Geschichte weiterer Tankerunfälle. (mb)
am 5.12.2012 um 21.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Flammendes Algerien – Akten, Geheimdienstprotokolle und René Vautier
Vortrag von Madeleine Bernstorff
Um die weitreichende Einflussnahme der französischen Regierung auf die Darstellung des Algerienkriegs zu umgehen, schlug René Vautier 1957 dem DEFA-Dokumentarfilmstudio in der DDR vor, einen Film über die algerischen Befreiungskämpfe zu produzieren. „Ich also dort bei der DEFA, der deutschen Fabrik für Filmkunst und Dokumentarfilm in der Otto-Nuschke-Straße in Berlin, mit einer ganzen Menge 16mm-Kodachrome belichtet im Aurès-Nementchas – und ein kleines Stück eines Ringes ... im Schädelknochen – das kommt von einer Kugel in der Kamera ... Problem für Günther Klein, der Leiter der Dokumentarabteilung: ob er eine Anfrage stellt ans Zentralkomitee der Partei von höchster internationaler Wichtigkeit: soll man bei der Entwicklung und dem Schnitt eines militanten anti-kolonialen Filmes helfen – mit dem Risiko die französische Regierung zu verärgern? Diese Anfrage wird geprüft von Dutzenden von Kommissionen und Unterkommissionen, und es gibt keine Hoffnung, dass sie innerhalb von zwei Monaten beantwortet würde. Wir diskutieren in seinem Büro, ich lege ihm die Vorteile dar, die ich für die DEFA darin sehe, sich technisch an dieser Operation zu beteiligen, ... ‚Ihr bekommt die Vertriebsrechte in allen sozialistischen Ländern, die keine gefilmten Dokumente über Algerien haben.‘ Er kratzt sich den Kopf, perplex [...]“ (aus: René Vautier: Caméra citoyenne, 1998). – im Anschluss an den Vortrag findet eine Vorführung der Filme Flammendes Algerien und La distribution de pain statt.
Flammendes Algerien
ALG/DDR 1958, P: René Vautier, FLN, DEFA / Willi Müller, R: René Vautier, 23‘ 35 mm
La distribution de pain (ex: Réfugiés algériens en Tunisie)
Brotverteilung (ex: Algerische Flüchtlinge in Tunesien)
ALG/F 1957/2011, P: Hedy Ben Khalifat, R: Cécile Decugis, Schnitt und Text (2011): Cécile Decugis, 14‘ OmU
Anfang 1957 wurde auf Weisung des französischen Armeeministers entlang der algerisch-tunesischen Grenze ein elektrifizierter Grenzzaun mit Verminung errichtet, die sogenannte „Ligne Morice“ – eine verbotene Zone. Im Juni 1957 drehte die spätere Nouvelle-Vague-Cutterin Cécile Decugis mit Unterstützung des tunesischen Roten Halbmonds eine genaue Reportage über die Lage der Flüchtlinge. Der Ton ging verloren, Decugis hat 2011 eine neue Textfassung erstellt.
am 6.12.2012 um 17.30 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
DDR – Algerien: Internationalismus im Kalten Krieg
Die Frage
DDR 1962, P: HFF Potsdam-Babelsberg, R: Mohand Ali Yahia, Mitwirkender: Henri Alleg, 16' Beta SP
Allons enfants… pour l’Algérie
DDR 1961, R: Karl Gass, Regie-Assistenz: Winfried Junge, 38’ 16 mm
Der ehemalige algerische Maquisard Mohand Ali Yahia studierte Anfang der 1960er Jahre an der Filmhochschule in Babelsberg und drehte dort Die Frage nach dem gleichnamigen berühmten Buch von Henri Alleg, eine erste Aufzeichnung über Folter im algerischen Befreiungskrieg. Henri Alleg selbst ist in dem Film zu sehen.
„Dass im Algerienkrieg tausende Westdeutsche auf französischer Seite kämpften, verblüfft aus heutiger Sicht, war aber über mehrere Jahre hinweg Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten. Karl Gass' Allons enfants... pour L'Algérie stellt anhand der Anwerbung von Söldnern für den Algerienkrieg die Verbindung zwischen einem scheinbar weit entfernten Konflikt und der deutschen Gegenwart der 1960er Jahre her. Dabei überrascht auch der Ton, den der Film anschlägt: Während die meisten Agitationsfilme zum Algerienkrieg den bewaffneten Kampf der FLN, der Nationalen Befreiungsfront, in heroisierender Weise zeigen, kombiniert Gass das Thema der deutschen Söldner mit dem Porträt einer Frau aus den Reihen der FLN und zeigt deren alltäglichen Kampf.“ (Fabian Tietke). Karl Gass, Mitbegründer des Dokumentarfilmfestivals Leipzig, und René Vautier verband eine langjährige Freundschaft. Vautier unterstützte Gass bei seinen Dreharbeiten mit Kontakten in Algerien. Zudem verhalf er einigen algerischen Produktionen zur Vorführung auf dem Filmfestival in Leipzig.
Einführung: Fabian Tietke
am 6.12.2012 um 19.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Avoir 20 ans dans les Aurès
Mit 20 Jahren in den Aures
To Be Twenty in the Aures
TUN/F 1972, P: Unité de Production Cinématographique de Bretagne, R: René Vautier, K: Pierre Clement, Daniel Turban, Mitwirkende: Alexandre Arcady, Hamid Djellouli, Pierre Vautier, Alain Vautier, 90‘ 35 mm, OmeU
Nachdem René Vautier aus Algerien nach Frankreich zurückgekehrt war, trieb ihn die Frage um, wie es dem Militär gelingt, aus jungen Männern Kriegsverbrecher zu machen. Er sprach in Zügen Männer an und befragte sie sehr beharrlich zu ihren Erfahrungen während des Krieges. Diese oft von mehreren Personen bezeugten Aussagen verwendete Vautier als Basis für Avoir 20 ans dans les Aurès.
Der Film zeigt eine Gruppe junger, antimilitaristisch gesinnter Soldaten, die vor die Wahl gestellt werden, auf verschiedene Einheiten verteilt zu werden oder gemeinsam mit einem ehrgeizigen Offizier eine Kundschaftermission im Aurès-Gebirge zu übernehmen. Sie entscheiden sich, zusammen zu bleiben und müssen schnell einsehen, dass sie dem Druck der Umstände wenig entgegenzusetzen haben. Nach der Parteinahme der Soldaten beim gescheiterten Putsch der Generäle sieht der letzte Kampfverweigerer der Gruppe als einzigen Ausweg die Desertion in die Berge.
Trotz langer Bemühungen erhielt Vautier für die Produktion lediglich ein Fünftel des notwendigen Budgets und statt der veranschlagten sechs standen schließlich nur zwei Drehwochen zur Verfügung. Vautier passte insbesondere die Schauspielführung an diese Bedingungen an. Er bezeichnet die Produktion als "Dreh-Happening", eine Situation, in der die Darsteller auf Basis der Zeugenaussagen spontan agieren konnten. (sb)
am 6.12.2012 um 21.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
René Vautier, Algier und die anti-imperialistische Konstellation
Olivier Hadouchi, Paris im Dialog mit Marion von Osten, Berlin
Afrique 50
Afrika 1950
F 1950, R: René Vautier, Musik: Keita Fodeba, 18‘ 16 mm, OmU
Monangambée
ALG 1969, R: Sarah Maldoror, 15' 16 mm, OmU
Le Glas
Die Totenglocke
ALG 1969, R: Ferid Dendeni a.k.a. René Vautier, K: Ali Marok, Sprecher: Djibril Diop Mambety, Malerei: Sesoto, 6‘ Beta SP, OmU
Kathleen und Eldridge Cleaver
BRD 1970, R/K/T: Claudia von Alemann, 22‘ DigiBeta, engl. OF
In einem dialogischen Vortrag entwickeln Olivier Hadouchi und Marion von Osten ein Bild von Algier als Produktionsort einer anti-kolonialen, panafrikanischen Ästhetik.
1950 drehte René Vautier heimlich Afrique 50, eine scharfe Argumentation gegen das Kolonialsystem und die Ausbeutung à la française in Westafrika. Im Anschluss an Flammendes Algerien (1958) bildete er eine erste Filmemacher- und Filmtechnikergeneration in Algerien aus. René Vautier zögerte nicht, für die Unabhängigkeitsbewegungen Partei zu ergreifen – auf Seite derer, die das koloniale Joch hinter sich lassen wollten. Mit Filmen wie Le Glas (unter dem Pseudonym Ferid Dendeni) protestierte er gegen die Hinrichtung von Aufständischen durch das Regime Ian Smith im damaligen Rhodesien.
In den 1960er Jahren hatte die Stadt Algier eine ganz besondere Bedeutung. Sie empfing Anführer und Repräsentanten der Befreiungsbewegungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika: Algier, „das Mekka der Revolutionäre“. Sarah Maldoror drehte 1969 dort Monagambée, eine Allegorie über das koloniale Missverständnis. Kathleen und Eldridge Cleaver von Claudia von Alemann, 1970 in Algier entstanden, gibt den beiden Black Panther-Aktivisten eine Plattform. Auf pointierte und erfinderische Weise wird eine verspottete Identität von diesen Filmen neu angeeignet, dynamisiert von einer Ästhetik – oft nah am Agit-prop –, in der die menschliche Stimme ihre Bedeutung wiedererlangt und gegen koloniale Unterdrückung Anklage erhebt. (oh)
Zu Gast: Sarah Maldoror und Claudia von Alemann
am 7.12.2012 um 18.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Les Ajoncs
Stechginster
F 1970, R: René Vautier, Mitwirkender: Mohamed Zinet, 10' 35 mm, OmU
Tahia ya Didou
Lang lebe mein Freund
ALG 1971, R: Mohamed Zinet, K: Ali Marok, Pierre Clément , Bruno Muel u.a., M: M'Hamed El Anka, Malerei: M'hamed Issiakhem, Mitwirkende: Momo (Himoud Brahimi), Mohamed Zinet, Sarah Maldoror, George Arnaud, 77‘ 35 mm, Omfr+dtU
Mohamed Zinet wirkte vor allem als Schauspieler, unter anderem in Filmen von René Vautier, Sarah Maldoror und Alexandre Arcady. Nur ein einziges Mal bot sich ihm die Gelegenheit, selbst Regie führen zu können: die Kommunalversammlung von Algier beauftragte ihn mit einem Stadtportrait. Zinet schuf mit Tahia ya Didou einen poetisch radikalen Film über das Algier jener Zeit – eine turbulente Stadt voller Stolz auf die Unabhängigkeit, doch auch voller unterschiedlicher Interessen und traumatisiert von einem brutalen Krieg. Tahia ya Didou gleicht einem Streunen durch die Stadt, folgt einem Touristenpaar, einer Kinderhorde aus der Casbah und einem Schweizer ohne Visum. Die Straßen werden zur Bühne für kleine burleske Szenen, in denen ein enormer Aufbruchsgeist, der Auszug der Pieds-Noirs und die Aufgeblasenheit des neuen Regimes aufscheinen. Dieses Treiben betrachtet vom Hafen aus Momo, ein Dichter der Casbah. Seine Gedichte sperren sich gegen den lockeren Ton des Films und bereiten die abschließende Szene vor: der französische Tourist erkennt einen Restaurantgast (gespielt von Mohamed Zinet) als sein Folter-Opfer wieder.
Im Vorfilm Les Ajoncs sehen wir Mohamed Zinet, der sein Schauspiel unter anderem am Berliner Ensemble entwickelte, in der Rolle eines einfallsreichen Einwanderers, der trotz aller Widrigkeiten ein gutes Geschäft macht. (sb)
am 7.12.2012 um 21.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
La Folle de Toujane ou comment on devient un ennemi de l’interieur
Die Irre von Toujane oder wie man ein Feind im Innern wird,
TUN/F 1974, P: Unité de Production Cinématographique de Bretagne, R: René Vautier, Nicole Le Garrec, K: Pierre Clément, Yann Le Masson, René Vautier, Mitwirkende: Gilles Servat, Micheline Welter, 142’ OmU
La Folle de Toujane ist Vautiers zweiter und letzter langer Spielfilm. Er erzählt die Geschichte von Roger (gespielt von dem bretonischen Sänger Gilles Servat), der die Bretagne verlässt, um als Lehrer nach Tunesien zu gehen. So trennt sich sein Weg von dem seiner Jugendfreundin Gwen, die in Paris eine Karriere beim Radio verfolgt. Gwen bleibt als gelangweilte Stimme aus der Metropole weiter präsent, doch Rogers Erfahrungen mit den (post)kolonialen Strukturen schieben sich zwischen die beiden. Der Krieg in Algerien wird auch in Tunesien spürbar. Roger versucht, einer traumatisierten, irre gewordenen Frau zu helfen und scheitert furchtbar. Er gesteht sich ein, dass er nur leben, kämpfen, etwas verändern kann – chez soi, das heißt dort, wo er sich zuhause fühlt. In der Bretagne soll ein Truppenübungsplatz eingerichtet werden. Der Rückkehrer Roger findet sich in einem Kampf gegen die Resignation der Dorfgemeinschaft wieder.
La Folle de Toujane ist ein renitenter Film, in den Le Garrec und Vautier älteres dokumentarisches Material von Vautier und den kompletten Kurzfilm Le Remords integriert haben. Er wurde produziert von der Unité de Production Cinématographique de Bretagne – Vautiers zehn Jahre währender Initiative für ein „Anderes Kino" in der Bretagne. (sb)
am 8.12.2012 um 18.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Umkämpfte Geschichte
Techniquement si simple
Technisch ganz einfach
F 1971, R: René Vautier, K: Bruno Muel, 15' OmU
À propos de… l'autre détail
Und übrigens … noch ein Detail
F/ALG 1985, R: René Vautier, 45' Beta SP, OmU
Déstruction des Archives au fort du Conquet
Die Zerstörung der Archive im Fort Conquet
F 1985, R: René Vautier, K: Yann Le Masson, 10‘ DVD, stumm
In Techniquement si simple erzählt ein junger Franzose von seiner Begegnung mit einem algerischen Kollegen bei einer Erdölfirma nach der Unabhängigkeit Algeriens. Bei Wein und Datteln berichtet er sehr unbefangen von seiner Rolle im Krieg und wie sein algerischer Kollege darauf reagierte. Vautier wollte mit diesem Film eine Debatte über die Straffreiheit der französischen Kriegsverbrechen in Algerien anstoßen.
In diesem Zusammenhang hatte 1985 auch ein französisches Gericht im Zuge einer Diffamierungsklage des rechten Politikers Jean-Marie Le Pen gegen die Satirezeitschrift Le Canard enchaîné zu entscheiden. Das Blatt hatte die persönliche Beteiligung Le Pens an Folterungen und Hinrichtungen während des Algerienkriegs behauptet. Während des Prozesses wurden vom Gericht Aufzeichnungen von René Vautier herangezogen, in denen Folteropfer Zeugnis gegen Le Pen ablegen. À propos de… l'autre detail ist die Filmfassung dieser Aussagen. Das Gericht stellte die Verjährung der Handlungen Le Pens fest und verurteilte Le Canard enchaîné zu einer milden Geldstrafe. 10 Tage nach Prozessende verwüsteten Unbekannte das Filmarchiv René Vautiers. Déstruction des Archives au fort du Conquet zeigt Vautier bei einer Begehung des Tatorts, knietief in verlorenen Filmstreifen. (sb)
am 8.12.2012 um 21.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Jenseits des Miserabilismus - sie, wir & die Harraga
Brigitta Kuster im Dialog mit Helmut Dietrich
De sable et de sang
Vom Sand und vom Blut
F/MRE 2012, R: Michel Le Thomas, K: Alain und Michel Le Thomas, Hamid, Mitwirkender: René Vautier, 27' Beta SP, OmU
El Berrani
Der Fremde
ALG 2010, R: Aboubakar Hamzi, 25’ BetaSP, OmeU
Les trois cousins
Die drei Cousins
F 1970, R: René Vautier, 20' 35 mm, OmU
In einem Gespräch mit Filmen und Filmausschnitten greifen Helmut Dietrich und Brigitta Kuster das Motiv der Mittelmeerüberquerungen auf und beleuchten dabei Aspekte wie transnationale Netzwerke und post-internationalistische soziale Bewegungen (Counter-Surveillance und die Ansätze des aktivistischen Projekts Boats 4 People auf dem westlichen Mittelmeer (http://boats4people.org)), sowie das populäre Repertoire und kulturelle Archive der Harraga (so die arabische Bezeichnung für jene, die die Überfahrt wagen).
Das Programm beginnt mit einer Geschichte des Scheiterns. In mehrfacher Hinsicht handelt De sable et de sang vom Wunsch nach Egalität, nach Begegnungen auf Augenhöhe, aber auch von unterbrochenen Kontakten. „Hier, so kommt es mir vor, habe ich meine Überzeugungen, die auf dem Dialog zwischen den Leuten gründen, mit denen man im Kontakt war, ein bisschen verraten“, so René Vautier im Film. Im Rahmen eines Austauschprojektes zwischen den Städten Akjoujt und Sevran sind Vautier und der Kameramann Le Thomas vor mehr als zwanzig Jahren von Frankreich nach Mauretanien gereist. Hamid, den sie dort kennengelernt haben, hat das Leben in Akjoujt über die folgenden Jahre mit einer Kamera aufgenommen, die Vautier ihm bei der Abreise zurückgelassen hat. Hamid schickte die Filmrollen nach Frankreich, wo sie lange Zeit ungesehen geblieben sind. Erst als die Kamera, in die Vautiers Namen eingraviert war, in einem aufblasbaren Sack von der spanischen Grenzpolizei aufgefunden worden ist, werden Hamids Filmrollen entwickelt.
El Berrani portraitiert Freunde des Filmemachers in Oran: Künstler, Rapper und Anwärter von Harraga. Sie geben dem Prozess, fremd zu werden, Ausdruck – bereit werden, sich auf und davon zu machen.
Les trois cousins entstand aus langen Diskussionen mit migrantischen Arbeitern und Arbeiterinnen unter der Prämisse: „Es kommt nicht in Frage, das Elend zu zeigen, um zu vermitteln, wie wir leben. Wir brauchen kein Mitleid." Am Ende dieser Fabel über den Lebensalltag im Frankreich der 1960er Jahre steht der Tod, am Beginn des Films jedoch der Aufbruch: Vor ihrer Abreise aus Algerien lassen sich Mohamed (gespielt von Mohamed Zinet), Farouk und Hamid fotografieren. (bk)
am 9.12.2012 um 18.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Arbeit, Gemeinschaft, Eigentum
Une place au soleil
Ein Platz an der Sonne
F 1980, R: René Vautier, 20' OmU
in arbeit
Teil 2: Coordination des Intermittents et Précaires
F/D 2012, R: Cinéma copains (Minze Tummescheit, Arne Hector), Mitwirkende: Nicolas Rey, Stefano Canapa, Nathalie Nambot, Catherine Bot, Serafina Moncada, 53' DVCAM, OmU
„Das erste Ziel ist es, die Franzosen zu den Eigentümern Frankreichs zu machen. Nein, nicht kollektive Eigentümer mittels noch mehr Bürokratie […], sondern individuelle Eigentümer Frankreichs." Mit diesen Worten erscheint der französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing in Une place au soleil. Vautier diskutiert entlang dieses und weiterer Aussprüche Giscards die Verdrängung der Arbeitercampingplätze von den Küsten zugunsten luxuriöser Ferienressorts. Der Tourismus ist zur Präsidialsache erklärt worden, erläutert Vautier aus dem Off, und dieser Film habe keine Chance, je im Fernsehen gesehen zu werden. In einer bissigen Montage steht die Selbstdarstellung des Präsidenten neben bretonischen Liedermachern und Imagefilme der Ressorts stehen neben Aufnahmen von Menschen, die in Badehosen ihren Widerstand organisieren.
Um das Verhältnis von Selbstorganisation, Arbeit und der Rolle des Staats in der Kulturproduktion geht es auch in dem Film in arbeit. Minze Tummescheit und Arne Hector untersuchen die Möglichkeiten der Arbeit in kooperativen Strukturen in Form einer Interviewkette: Die Gesprächspartner führen und begleiten die Filmemacher jeweils zum nächsten Gespräch. In diesem zweiten von fünf Teilen reflektieren Mitglieder der Coordination des Intermittents et Précaires, Angehörige einer speziellen Arbeitslosenversicherung für Film- und Theaterschaffende, ihren Kampf gegen die soziale Spaltung der Kulturarbeiter. In eindrucksvollen Bildern werden Planung und Verlauf ihrer Fernseh- und Bühnenbesetzungen nachvollziehbar. (sb)
Zu Gast: Cinéma copains
am 9.12.2012 um 21.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
Lettre à ma sœur
Brief an meine Schwester
ALG 2006, R: Habiba Djahnine, 68' Beta SP, OmeU
Elles
Sie
ALG 1966, R: Ahmed Lallem, Regie-Assitenz: Sarah Maldoror, 22’ 35 mm, Omarab+frzU
„Nabila Djahnine, meine Schwester, ist am 15. Februar 1995 in Tizi-Ouzou, einer wichtigen Stadt in der Kabylei, ermordet worden. Nabila war die Präsidentin der dortigen Assoziation für die Verteidigung der Rechte der Frauen „Thighri N’tmettouth“ (Aufschrei der Frauen).“ Die Regisseurin Habiba Djahnine antwortet mit ihrem Film Lettre à ma sœur auf einen Brief ihrer Schwester, in dem diese 1994 von der Eskalation der Gewalt, der Repression der bleiernen Jahre berichtet. Sie untersucht im gemeinsamen Gespräch mit Mitstreiterinnen und Freundinnen, was in den zehn Jahren seit dem Ereignis geschehen ist und wie jene mit der politischen Situation in ihrem Alltag umgehen. Warum, so fragt sie, war ein Dialog unmöglich? Nabila Djahnine ist in Aufnahmen des Regisseurs Ahmed Lallem zu sehen.
175 junge Mädchen hatten sich 1964 allein in der Hauptstadt Algier aus Protest gegen Zwangsverheiratung umgebracht. Eine Debatte entstand. Der Regisseur Ahmed Lallem und seine Assistentin Sarah Maldoror drehten mit Elles einen Dokumentarfilm in einer Mädchenschule im Viertel El-Harrach. Elles versucht, auf die Spur der vielgestaltigen condition feminine im Algerien nach der Unabhängigkeit zu kommen. (mb)
am 10.12.2012 um 19.00 Uhr
OHNE GENEHMIGUNG
J'ai huit ans
Ich bin acht Jahre alt
F/ALG 1961, R: Yann LeMasson, Olga Baïda-Poliakoff, 12‘ 16 mm, OmU
Frontale Portraits von algerischen Kindern und deren Zeichnungen, mit Buntstiften, Tusche, Filzstiften und einigen Buntpapier-Collagen. Die Bilder, die J’ai huit ans präsentiert, zeugen von ihren Erlebnissen im Befreiungskrieg. Dazu hört man Gewehrsalven und ihre stolpernden Berichte: „Ich möchte nichts mehr fürchten.“ Die Zeichnungen entstanden in einem Waisenhaus am Rande von Tunis, wo Frantz Fanon nach seiner Ausweisung aus Algerien arbeitete. Der Film wurde in Frankreich 17 Mal beschlagnahmt und bekam erst 1974 die offizielle Visa-Freigabe.
Jacques Charby (1929-2006) – Regisseur, Schauspieler, Schriftsteller und Aktivist –gehörte zur anti-kolonialen Widerstandsgruppe des Réseau Jeanson. In Algerien gründete er zusammen mit Frantz Fanon ein Kinderheim für Kriegswaisen und veröffentlichte deren Zeichnungen und Erzählungen vom Krieg in Form eines Buches (erschienen 1962 unter dem Titel Les Enfants d'Algérie bei Maspéro, ebenfalls verboten in Frankreich). Sein Film Une si jeune paix ist der erste Spielfilm des unabhängigen Algerien. Im Vorspann steht ein Satz von Frantz Fanon: „Es gibt Abertausende von Kindern, die man zum Lachen bringen muss!“ Die Kinder im Film spielen sich selbst wie sie Frieden und Krieg, OAS und FLN spielen. Der Film inszeniert ein weitreichendes „traumatisches Spiel“ der Kinder. Ein Betreuer sagt dazu: „Kinder machen vieles ernsthaft – auch die Spiele.“ In der Hauptrolle ist Charby’s Adoptivsohn Mustapha Belaïd zu sehen. (mb)
am 10.12.2012 um 21.00 Uhr |