UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR
Wie bilden sich gesellschaftliche Umbrüche im Kino ab? Wie wird kollektiv Erlebtes zu Film? Wann greifen Filme in Geschichtsverläufe ein? Anhand markanter Beispiele untersucht die Reihe UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR die Wechselwirkungen zwischen Kino und Zeitgeschichte. Sie lädt ein zur Revision einschneidender Momente, in denen Film und Realität sich überlagert haben, und wird in wechselnden Abständen fortgesetzt. Am 28., 29. und 30. August widmet sich das Programm Filmen, die unmittelbar vor revolutionären Veränderungen entstanden. Meus Amigos (Meine Freunde, António da Cunha Telles, Portugal 1973), Winter Adé (Helke Misselwitz, DDR 1988) und Hawi (The Juggler, Ibrahim El Batout, Ägypten 2010) handeln von denkbar unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und gleichen sich doch darin, dass sie nachträglich als Vorboten radikaler Umbrüche gesehen wurden. Das Faszinierende ist heute, dass ihre zeitgeschichtliche Bedeutung nicht erstarrt ist, sondern dass sie weitergelebt haben: wenn man sie wiedersieht, erscheinen sie nicht so sehr als historische Relikte, sondern erzählen von einer Sehnsucht, deren Erfüllung noch immer in der Zukunft liegt. UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR wird kuratiert von Tobias Hering und entsteht in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut e.V.
UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR
Meus Amigos Meine Freunde
P 1974, R: António da Cunha Telles, K: Acâcio de Almeida, D: Manuel Madeira, Teresa Mota, Antonio Modesto Navarro, J. Vaz Pereira, Maria Otilia, Lia Gama, 135’ 35 mm, OmU
Meus Amigos erzählt von einem Freundeskreis in Lissabon, bürgerliche Intellektuelle, drei Frauen, drei Männer. Mittdreißiger mit einer rebellischen Vergangenheit und einer mehr oder weniger angepassten Gegenwart. Die Zeit ist prägnant: 1973, also drei Jahre nach dem Tod des Diktators Salazar und im Jahr vor der „Nelkenrevolution“. Zehn Jahre zuvor hatten die Freunde den ersten Universitätsstreik Portugals organisiert. Danach liefen ihre Leben auseinander: zurück aufs Land, in die Psychiatrie, hinein ins System, ins Exil. „Was ist aus ihnen geworden, was ist aus uns geworden?", darum gehe es, so António da Cunha Telles über seinen Film, der am 11. März 1974, gut einen Monat vor der Revolution uraufgeführt wurde. „Was hat das faschistische Regime aus uns gemacht?" Meus Amigos ist ein selten gezeigtes Meisterwerk des portugiesischen Kinos dieser Zwischenperiode, das an die besten Filme der Nouvelle Vague erinnert. Aufgeladen, gestenreich, dialoglastig, getragen von einem großartigen Schauspielerensemble. Alles ist politisch, und gleichzeitig ist alles persönlich. Die letzte Szene des Films reißt ein Fenster auf, durch das wir den Schrei hören, der auch heute noch jeder Revolution vorangeht. (th)
Einführung: Tobias Hering
am 28.8.2013 um 20.00 Uhr
UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR
Hawi The Juggler
ET 2010, R/B: Ibrahim El Batout, K: Ibrahim El Batout, D: Mohamed El Sayed, Sherif El Desouky, Rina Aref, Hanan Youssef, 112‘ DigiBeta, OmeU
Aus mehreren Einzelgeschichten setzt sich in Hawi das Kaleidoskop einer Gesellschaft zusammen. Zwei Männer kommen nach langer Abwesenheit in die Stadt zurück, aber etwas aus der Vergangenheit hindert sie daran, ihr früheres Leben wieder aufzunehmen. Ein Straßenhändler und sein Pferd ziehen einen leeren Karren durch die einsame Stadt. Eine Nachtklubtänzerin hält die Scheinheiligkeit und Brutalität nicht mehr aus, der sie täglich ausgesetzt ist. Eine Rockband ist in Lethargie erstarrt, weil etwas fehlt – ein Text, eine Inspiration, ein Bild? Nach und nach werden die Fäden sichtbar, die diese Menschen miteinander verbinden, aber es gibt unsichtbare Mauern zwischen ihnen. Ibrahim El Batout hat diesen Film 2009 in Alexandria gedreht, weil es ihm dort noch eher möglich war, den städtischen Raum zu nutzen, als in Kairo. Dennoch sind die Räume dieses Films beschnitten. Etwas verstellt den Blick oder bleibt im Off. Eine lange, schlängelnde Fahrt in einer leeren Straßenbahn wird zum Sinnbild einer Welt, die die Luft anhält. Hawi zählt zu den Pionierfilmen einer neuen Generation ägyptischer Filmemacher, die sich von der mächtigen staatlichen Filmindustrie unabhängig machen wollen. (th)
Einführung: Tobias Hering
Nach der Vorführung findet ein Filmgespräch statt, zu Gast: Irit Neidhardt.
am 29.8.2013 um 20.00 Uhr
UMBRÜCHE: FILM ALS ZEITGENÖSSISCHER AKTEUR
Winter Adé
DDR 1989, R: Helke Misselwitz, B: Thomas Plenert, Helke Misselwitz, K: Thomas Plenert, 116‘ 35 mm
In Winter Adé zeichnet Helke Misselwitz ein Portrait der DDR gut ein Jahr vor ihrem Zusammenbruch aus der Sicht von Frauen in den verschiedensten Lebenssituationen. Die Dramaturgie folgt einer fiktiven Bahnfahrt von Zwickau an die Ostsee, zeigt Landschaften und Architekturen eines Landes, das hier viel älter erscheint als seine Menschen. Einige der Begegnungen waren geplante Besuche, andere ergaben sich spontan. Die Offenheit, mit der die Protagonistinnen über ihr Leben erzählen und das allgemeine Gefühl einer Erschöpfung des Gesellschaftsmodells DDR artikulieren, galt als Sensation, als der Film im November 1988 auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche Premiere hatte. Mit der Meisterschaft, zu der es der DDR-Dokumentarfilm gebracht hatte, hielt Winter Adé der Gesellschaft einen Spiegel vor und was darin zu sehen war, ließ sich nicht mehr vergessen. Was zeigt uns dieser Spiegel heute? Im Jahr 2009 lieh Winter Adé seinen Namen dem Jubiläums-Programm Vorboten der Wende. Zweifellos sind die Frauen dieses Films Vorbotinnen gewesen. Aber von welcher Wende sprachen sie damals eigentlich? (th)
Einführung: Tobias Hering
Nach der Vorführung findet ein Filmgespräch statt, zu Gast: Helke Misselwitz.
am 30.8.2013 um 19.30 Uhr
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