Die Bundesrepublik
im Kalten Krieg
(von Wolfgang Benz) |
|
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
Reise in den
Westen |
Im März 1946 reiste ein jüngerer Historiker, Privatdozent für mittlere
und neuere Geschichte an der Universität Leipzig, nach München, um sich an der dortigen
Universität, die ihm ein Angebot gemacht hatte, umzusehen. Der Gelehrte aus der Ostzone
hielt sich zwei Wochen lang in München auf, er sah sich nicht nur in den Hörsälen
gründlich um, er traf sich auch mit Politikern - Amerikanern und Deutschen - und verglich
die Verhältnisse in München und Leipzig.
Nach seiner Rückkehr verfaßte er einen ausführlichen Reisebericht,
dessen Adressaten man freilich nur vermuten kann. Wahrscheinlich war die Ausarbeitung für
Jakob Kaiser bestimmt, den Vorsitzenden der CDU in Berlin und der Sowjetischen
Besatzungszone. Die Denkschrift ist aber auch in den Akten der amerikanischen
Militärregierung für Deutschland in den National Archives in Washington zu finden. Der
Verfasser gehörte seit ihrer Gründung der CDU in Leipzig an, baute dann die dortige
Hochschulgruppe der Partei auf und übernahm etwas später das Hochschulreferat in der
Ostzonen-CDU. Er war also keineswegs Kommunist, er kam aus einer bürgerlichen Theologen-
und Juristenfamilie, war in der Jugendbewegung engagiert gewesen und hatte dem
Nationalsozialismus sehr ablehnend gegenübergestanden.
|
Der Verfasser des Reiseberichts
war über die politische Rückständigkeit, mit der
er sich in München konfrontiert sah, recht bestürzt.
Der CDU-Mann aus Leipzig fand das politische Klima
in München charakterisiert durch ein "fragwürdiges
bürgerliches Selbstbewußtsein", durch die "Neigung
zur Illusion", durch das Nichterkennen der
wesentlichen politischen Fragestellungen der deutschen
"Gesamtsituation". Da sich die Münchner
Verhältnisse keineswegs von der politischen Stimmungslage
in anderen Teilen der US-Zone unterschieden, lohnt
es sich durchaus, bei der Quintessenz der Erfahrungen
des Interzonenreisenden vom März 1946 noch einen
Augenblick zu verweilen:
"Die
erregendste Erfahrung meiner Reise deutete ich anfangs schon einmal an: die Zonen
entwickeln sich mit gefährlicher Schnelligkeit auseinander. Es wird offensichtlich immer
schwieriger, sich von den westlichen Zonen aus ein klares Bild von der Entwicklung der
östlichen zu machen. Und umgekehrt gilt dasselbe. Die Vorstellungen von der russischen
Zone, auf die man jenseits der Zonengrenze trifft, sind oftmals grotesk. Hier macht sich
geltend, daß das Bild weithin bestimmt wird durch die Berichte derer, die als enteignete
Grundbesitzer, von Verhaftung bedrohte Stabsoffiziere oder als sonstige Leidtragende der
sozialen Umwälzung, die sich hier auf kaltem Wege abspielt, emigriert sind und nun in dem
Bestreben, ihre Emigration vor sich und anderen zu rechtfertigen, ihrem sehr
verständlichen Ressentiment freien Lauf lassen. Andererseits macht sich bei vielen, die
mit der Entwicklung der Dinge in der amerikanischen Zone unzufrieden sind, die Neigung
bemerkbar, den Weg der russischen Zone in verklärtem Licht zu sehen. Es wird nicht mehr
lange dauern, bis sich da so eine Art Mythos von der russischen Zone gebildet hat. Dieser
Neigung liegt einmal die in allen Zonen verbreitete und psychologisch so verständliche
Meinung zugrunde, daß die Misere des eigenen Lebens eine Angelegenheit der Zone sei, in
der man lebt, und daß man nur in die andere überwechseln müsse, um sich von ihr zu
befreien - wobei man stillschweigend die jeweilige Besatzungsmacht für Verhältnisse
verantwortlich macht, für die zunächst nicht diese, sondern der unglückliche
Kriegsausgang verantwortlich ist. Zum anderen spielt wohl bei der relativ optimistischen
Beurteilung unserer Zone, wie ich sie gerade bei einsichtigen und politisch modern
denkenden Leuten öfters gefunden habe, das Mißvergnügen an der politischen
Rückständigkeit der Amerikaner mit und das Unbehagen über soviel Illusionismus und
Verschrobenheit, wie sie sich im Schatten dieser Rückständigkeit breitmachen könne. Man
spürt ganz einfach, was sich auch mir während meiner Reise immer wieder bestätigt hat,
daß man in der russischen Zone der Realität unendlich viel näher ist als in Bayern (wo
man ihr allerdings ferner sein mag als in irgendeinem anderen Teil Deutschlands)."
(Wortlaut des Berichts bei Hermann Graml - Zur Frage der
Demokratiebereitschaft des deutschen Bürgertums nach dem Ende der NS-Herrschaft. Hermann
Maus Bericht über eine Reise nach München im März 1946 in: Miscellanea. Festschrift
für Helmut Krausnick, hg. von Wolfgang Benz u. a., Stuttgart 1980, S. 162f)
|
Die Münchner Eindrücke
bestärkten den Reisenden in der Gewißheit, in der
Sowjetischen Besatzungszone in dem Teil Deutschlands
zu leben, der den anderen Zonen in der demokratischen
Entwicklung um einig Schritte voraus war. Er sah
die heimischen Zustände als Fegefeuer, das den anderen
noch bevorstehe; an ein dauerhafte Trennung der
Zonen glaubte er noch nicht.
"Es ist mir auf meiner Reise seltsam ergangen:
ich fuhr ab, mißmutig, pessimistisch hinsichtlich meiner Existenzmöglichkeiten in dieser
Zone, verärgert übe soviel deprimierende Erfahrungen im Täglichen und voller Hoffnung,
in der anderen Zone andere Perspektiven zu finden. Was ich fand, war in mancher Hinsicht
lockend: ein Leben, das soviel bunter, entspannter und bürgerlicher ist, als wir es hier
in Leipzig haben, wo das Leben allerdings schon immer sehr viel grauer war als
anderwärts; eine öffentliche Meinung die von Menschen meiner Art zu denken und zu
sprechen bestimmt wird, und ein öffentliches Leben, in dem sich die Minderwertigkeit
nicht so aufdringlich bemerkbar macht wie hierzulande. Und doch schier mir, im Vergleich
zu meinem ersten Besuch vor fünf Monaten, über vieles, was mir damals als
hoffnungserweckende Triebe zu einem neuen Leben erschien, der Frost gekommen und die
allgemeine Stimmung sehr viel gedrückter."
|
Der Verfasser des Berichts, er hieß Hermann Mau, hatte sich
damals entschlossen, in der Ostzone zu bleiben.
(Hermann Mau, 1912-1952, Privatdozent für Geschichte
in Leipzig, war Hochschulreferent in der CDU-Leitung
der sowjetischen Besatzungszone gewesen, ab Januar
1948 Privatdozent in München und vom 1. Februar
1951 bis Oktober 1952 Generalsekretär des "Instituts
für Zeitgeschichte" in München). Er hoffte
auf eine Synthese östlicher und westlicher Ordnungsvorstellungen,
auf die Verbindung der bürgerlichen Errungenschaften
des Rechts- und Verfassungsstaates mit einer notwendigen
Sozialreform, eine, partiellen Sozialisierung, wie
sie gleichzeitig ja auch in der rheinischen CDU
im Zeichen des christlicher Sozialismus vertreten
wurde. Hermann Maus Biographie zeigte bald, daß
die Illusion einer solchen Synthese, daß der Mittelweg
zwischen einer Diktatur des Proletariats und einem
klassen- und privilegienloser demokratischen Rechtsstaat
den Realitäten nicht stand hielt. Mau, der im Frühjahr
1946 noch bewußt auf eine Option für das in den
Westzonen sich etablierende Demokratiesystem verzichtet
hatte, wurde im Herbst 1947 vom NKWD verhaftet.
Am Jahresende wurde er wieder freigelassen, freilich
unter der Bedingung, künftig Spitzeldienste für
den sowjetischen Apparat zu leisten. Daraufhin übersiedelte
er im Januar 1948 nach München.
|
2/7
|
|
|