|
Die Attraktivität des Spektakulären
Im Vordergrund der Bildberichte stand naturgemäß das Sensationelle,
das spektakuläre Ereignis, der Tumult: der Fenstersturz des Ingenieurs
Watrin durch die aufgebrachten Bergarbeiter von Décazeville 1886, der
Einsatz der Polizei oder gar der aufmarschierten Truppen, die in
kriegsmäßiger Linie aufgereihte Infanterie auf dem Kirchplatz des
nordfranzösischen Textilstädtchens Fourmies (1891), mit Darstellung der
Fusillade und den 20 erschossenen Maidemonstranten (vorwiegend Frauen,
Jugendliche und Kinder), verlassene Hafen- oder Gleisanlagen anlässlich
großer Streiks von Hafenarbeitern oder Eisenbahnern, die Tumulte bei
Kutscher- oder Trambahnstreiks. Da es sich bei den Darstellungen der
achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts vorwiegend um Zeichnungen
oder um Gravuren - oft nach fotografischen Aufnahmen gestaltet - handelte,
konnte der Künstler auch eigene Beobachtungen in die Darstellung mit
einbringen. Viele dieser frühen Bilder enthalten daher im Gegensatz zu
den späteren Fotografien gestalterische Elemente, wie sie bei Koehler
oder Roll bereits Verwendung gefunden hatten: das Steineaufheben oder
Steinewerfen (Kellnerstreik in Paris 1888), die geballte Faust, der
kampfbereite, mit einem Knüppel bewaffnete Arm, die flüchtenden oder
heranlaufenden Personen (Kinder, Polizisten), die blanke Waffe der meist
berittenen Polizei, der umgestürzte Baukarren, die miserabel gekleideten
Frauen und Kinder (Koehler, die Armen von St. Quentin), die stillende Frau
als Ausdruck des Arbeiterelends (Roll).
Derartige Motive, vor allem die in künstlerischer und satirischer
Darstellung meist vorhandenen Knüppel- oder Kampfszenen, finden sich bei
den ab 1900 aufkommenden Streikpostkarten kaum noch wieder. Zum einen
ließen die langen Verschlusszeiten der damaligen Fotoapparate es selten
zu, schnelle Bewegungen (laufende Menge, Steinewerfen, schlagende Polizei)
zu fotografieren. Außerdem blieben derartige Gewaltvorfälle im Zusammenhang
mit Streiks auch in Frankreich äußerst selten. Perrot hat für 1871-1890
konstatiert, dass nur in 3,6 % aller Arbeitskämpfe Gewalt angewandt wurde,
bei 5,6 % kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen
Arbeitern.9
Der Streik als Auslöser für Sozialforschung, Sozialkritik und
dokumentarische Bildberichterstattung
"Der Streik ist ein Ereignis, das spricht und von dem man spricht.
Seinetwegen und in seinem Umfeld vervielfältigen sich die Beobachtungen,
werden die Griffel gespitzt; nicht nur die der Ordnungshüter, auch die
der Chronisten und Erzähler, die der Journalisten, die der Streik in
die Arbeiterquartiere lockt" (Michelle Perrot).10 Trotz der immer wieder
dominierenden Attraktivität
des Spektakulären öffnete sich die französische Bildberichterstattung der
realistischen oder sozialkritischen Darstellung. Die Lebens- und
Arbeitsbedingungen des Proletariats wurden mit fast jedem der großen
Arbeitskämpfe zum Gegenstand ausführlicher Bildberichte. Besonders bekannt
wurden die Darstellungen von Bergarbeitertypen, in ihrer traditionellen
Bekleidung (mit Lampe und Gerät), unter wie über Tage, als Hauer,
Dienstältester, Maschinenführer oder Untertageposten. Auch die über Tage
arbeitenden Kohleverleserinnen wurden auf Postkarten abgebildet, ebenso
wie ihre führende Teilnahme in einem Streikkomitee.11
Ähnlich berichteten Londoner Zeitungen über die Arbeit der Docker
anlässlich des großen Streiks im Londoner Hafen (1889), der zum
Wendepunkt der britischen Arbeiterbewegung wurde.
Anlässlich eines Streiks südfranzösischer Glasbläser, der zur Gründung
einer berühmten Glasbläser-Kooperative führte, wurde eine Bildserie
über diesen Berufszweig veröffentlicht. Auch bei Ausständen von
Eisenbahnern und Bauarbeitern wurden Arbeitsplätze und Großbaustellen
beschrieben oder zum Beispiel Gefährdungen beim Bau des damals
wichtigsten Symbols der Moderne, des Eiffelturms, dargestellt.12
Auf diese Weise unterstützte die bürgerliche Illustriertenpresse die
Forderungen gerade der Berg- und Bauarbeiter nach entscheidender
Verbesserung des Arbeitsschutzes sowie der Unfall- und Rentenversicherung.
Das politisch offenere, parlamentarische System Frankreichs bot den
Arbeiterparteien größere Möglichkeiten der gesetzgeberischen Gestaltung
als das halbabsolutistische Regierungssystem des Deutschen Kaiserreichs.
Ähnliche Bildberichte über Lebens- und Arbeitsverhältnisse lassen sich
in den beiden führenden Illustrierten des Kaiserreichs, der Hamburger
und der Leipziger Illustrirten Zeitung nicht nachweisen.
Die Information der L'lllustration ging sogar noch weiter.
Anlässlich der großen Arbeitskämpfe vor und nach 1890 und im Zusammenhang
mit der von der "Großen Depression" ausgelösten Arbeitslosigkeit brachte
die Zeitung ausführliche Bildberichte über das Elend der Pariser
Armenviertel. Ähnliche sozialkritische Serien kennen wir in Deutschland
allenfalls in der bildenden Kunst, so von Käthe Kollwitz oder Heinrich
Zille, der für seine Zeichnungen ebenfalls fotografische Vorlagen benutzte.
Dennoch fällt auf, dass der enge Zusammenhang von Streik und
sozialdokumentarischer bzw. sozialkritischer Bildberichterstattung in
den Printmedien Deutschlands bis 1914 kaum nachvollzogen wurde.13
Die Selbstdarstellung
Wollte man dem verzerrten, tumulthaften Image des Streiks entgegenwirken,
so blieb nur der Weg über andere Bilder, d. h. über eine dokumentarische
Darstellung. Dies macht den großen Wert der Streikpostkartensammlungen
aus. Naturgemäß waren auch diese Fotos geprägt vom Blick des Fotografen
(bürgerlicher Herkunft), der das Ereignis des Streiks zum Anlass seiner
Bildberichte nahm. Die von ihm oder einem lokalen Verlag produzierten
Postkarten dienten jedoch weniger der überregionalen Sensationspresse
als dem lokalen Markt, dem Käufer. Dies konnte sowohl der einfache
Soldat sein, der Grüße von seinem außergewöhnlichen Einsatz nach Hause
sandte, wie auch der Konsument, der über chaotische Verkehrsverhältnisse
anlässlich eines Trambahnstreiks erregt oder belustigt war. Vielfach aber
nutzten Streikende, Streikführungen und auch Politiker das neue
Postkartenmedium zur Selbstdarstellung. Somit bot sich auf Grund der
stetig verbesserten Reproduzierbarkeit der Fotografie ab etwa 1900 eine
neue Dimension: Die Streikenden konnten der bildnerischen Fremdbestimmung
durch die Medien entgehen und zumindest teilweise die eigene Sicht der
Dinge aufzeigen und propagieren. Die Bildpostkarte wurde - wie
beispielsweise in Fougères oder Mazamet - zu einem wichtigen Dokument
für die eigene Sache und die eigenen Forderungen: Mit diesen Bildern,
selbst mit den schrecklichsten - z. B. von der größten Bergwerkskatastrophe
der Zeit in Courrières mit 1100 Toten -, konnte man Werbung machen. Die
hier beispielhaft herausgegriffene Serie der Streikpostkarten von Fougères
wurden im ganzen Land vertrieben, vor allem in Paris, um
Streikunterstützungen zu sammeln. Die Bildserie verdeutlicht: Der
Arbeitskampf zog sich 98 Tage hin, der Ausschuss für Arbeit und
Nationalversammlung besuchte die Schuhstadt, die Stadtverwaltung ließ
Brot an die Streikenden verteilen, die katholischen Schulen ernährten
die nicht aufs Land oder nach Rennes verbrachten Kinder. Eine enorme
Solidaritätswelle ergriff ganz Frankreich (und Teile der ausländischen
Arbeiterbewegung). In Paris wurden Benefiz-Konzerte abgehalten, unter
anderem von der Comédie Française, von der Oper und von einer berühmten
Schauspielerin im Theater am Montmartre (ebenfalls als Werbepostkarte
verbreitet). Die Rückkehr der Kinder aus Rennes wurde festlich begangen
und von den Bürgern Jaurès und Benezech begleitet.
|
|
Streikkomitee
in Donai, 1906. [größeres Bild]
Streik in Fougères,
1906. [größeres Bild]
Streik in Fougères,
1906. [größeres Bild]
Die Kinder der Streikenden von Graulet,
1908/09. [größeres Bild]
Buchdruckerstreik in
Wien, 1914. [größeres Bild]
Streik der Knopfarbeiterinnen in Méru, 1909. [größeres Bild]
Streik der
Bauarbeiter in Zittau [größeres Bild]
Auszahlung
der Unterstützung für streikende Bauarbeiter in Zittau. [größeres Bild]
Feldwache
streikender Bauarbeiter in Zittau. [größeres Bild]
|