Deutsches
Historisches
Museum
Streikpostkarten in Frankreich und Deutschland
1884-1914
Friedhelm Boll, Seite 1 2 3 5
Das weit freiere französische Demonstrationsrecht eröffnete naturgemäß den Gefühlen der Streikenden auch größere und spontanere Artikulationsmöglichkeiten. Allen voran sei der demonstrative Streikumzug meist mit improvisierter roter Fahne, manchmal auch mit einem Musikcorps an der Spitze erwähnt. Nicht selten sind es Frauen oder Mädchen, die das proletarische Symbol der roten Fahne tragen, die fast durchweg die republikanische Trikolore verdrängt hatte. Der Streik machte Spaß; man lachte und freute sich, sei es beim Demonstrieren, bei der gemeinsamen Streikmahlzeit, beim Posieren für den Fotografen oder beim Kartoffelschälen mit Streikführer, Bürgermeister und sozialistischem Abgeordneten. Aber auch Soldaten lachten und winkten in die Kamera. In Indret spielte eine gewerkschaftliche Musikgruppe die "Internationale" vor dem Schloss des Fabrikanten.

Für deutsche Arbeitskämpfe sind derartig festliche Begleitumstände ebenfalls überliefert, ohne dass wir jedoch Bildmaterial besitzen. So wanderten Mühlhausener Textilarbeiterinnen 1890 regelmäßig ins Grüne und kamen erst abends "blumenbekränzt" wieder zurück.20 Auch Ruhrbergarbeiter gestalteten solche Streikumzüge, die - wie schon in Mühlhausen - vielfach dazu genutzt wurden, andere Fabrikbelegschaften zur Teilnahme am Streik aufzufordern. Bis 1918 folgte derartigen Manifestationen allerdings regelmäßig die militärische oder polizeiliche Repression.21
Naturgemäß war den Fotografen die öffentliche Seite der Arbeitskämpfe leichter zugänglich als das Innere der Betriebe. Daher gibt es nur wenig betriebsinterne Aufnahmen. Aber auch dort, wo sich die Betriebstore (meist wegen der zur Hilfe gerufenen Ordnungsmacht) öffneten, fehlte der Aspekt des Lustigen nicht, etwa bei einer Postkartenserie über den nordfranzösischen Eisenbahnerstreik von 1910).

Der dokumentarische Charakter der Streikpostkarten konnte auch denunziatorische Funktionen annehmen: Da wurde das Elend der "exmittierten Steinarbeiter" aus Strehlen (Schlesien) unter Beweis gestellt, die sich mit ihrem gesamten Hausrat auf freiem Feld wiederfanden, da wurde des Maschinenmeisters und Tarifobmanns Johann Solinger aus Tetschen gedacht, der "durch den Streikbrecher-Agenten Paul Keiling" erschossen worden sei, oder es wurde in vielfältigen Abwandlungen die Polizei - in Frankreich häufig auch die Armee - als Hilfsorgan der Unternehmermacht bloßgestellt.
Das repressive Vereins-, Demonstrations- und Streikrecht und die im Wilhelminischen Reich übliche schikanöse Rechtsprechung gegen das Streikpostenstehen, gegen öffentliche Streikversammlungen und Streikumzüge dürften wichtige Ursachen für den Mangel an dokumentarischer Bildberichterstattung über deutsche Arbeitskämpfe sein. So wurde die deutsche Arbeiterbewegung weit stärker als die französische in die stille Organisationsarbeit im Verein, hinter die verschlossenen Türen der Versammlungssäle und in die sozialistischen Kulturorganisationen gedrängt. Der Arbeitskampf wurde schnell zur Vereins-, ja zur Verbandssache: (typisch dafür ist etwa eine allegorische Streikpostkarte aus Wien, auf der mitgeteilt wurde, der Streik hätte "mit einem Sieg der Organisation", also der Gewerkschaft geendet). In Frankreich hielten sich demgegenüber bis 1914 die spontaneren Formen der Streikorganisation: die Vollversammlung der Streikenden, das ad hoc gewählte Streikkomitee und das öffentliche Sammeln von Streikunterstützung, obwohl auch hier wie in Deutschland über drei Viertel aller Streiks von Gewerkschaftsseite geführt wurden.

Die Ausgrenzung aus der Wilhelminischen Gesellschaft bedeutete für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, sich in der Subkultur der sozialistischen Arbeiterkulturvereine einzurichten, die in den Manifestationen und den allegorischen Feldpostkarten, aber auch in der satirischen Presse ihren bildhaften Ausdruck fand. Die dadurch vermittelten Inhalte thematisierten u. a. die Hoffnung auf die eigene Kraft (z. B. der ruhende Riese) und den sozialistischen Zukunftsstaat. "Feierliche Erhebung" und "künstlerische Erziehung" des Proletariats waren die pädagogischen Absichten dieser Darstellungen. Da auf Grund von Zensurmaßnahmen oder repressiver Rechtsprechung keine echten Menschen oder konkreten Aktionen als Vorbilder dargestellt werden konnten, musste man auf Symbole und Allegorien zurückgreifen. Ihr Sinn zielte auf die organisierte Arbeiterbewegung und wurde meist auch erst durch diese verstanden. Aber auch darin kommt an vielen Beispielen das zum Ausdruck, was in Frankreich die dokumentarischen oder sozialkritischen Streikpostkarten zeigten: der Stolz derjenigen, die mit ihren eigenen Händen die Werte dieser Welt erschaffen haben.
Gerade karikaturistische Streikdarstellungen thematisierten diesen Stolz, indem Streikbrecher oder auch Polizisten als unfähige oder unbrauchbare Arbeitskräfte dargestellt wurden, etwa in den Postkartenserien "Heiteres aus dem Streikgebiet", "Das letzte Aufgebot für den Pütt" oder bei der Darstellung eines tölpelhaften Berliners als Schauermann im Hamburger Hafen anlässlich des großen Hafenarbeiterstreiks 1897 in der Hamburger Illustrirten Zeitung. Dieser "Produzentenstolz" brach naturgemäß besonders im Streik auf, so dass es von speziellem Reiz war, die Arbeitgeber (Zimmerer, Bäcker) selbst Hand anlegen zu sehen. Ein Streikführer aus Mühlhausen im Elsaß brachte diesen originären Proletarierstolz auf die pathetische Formel: "Schaut rings um Euch; was von Menschenhand geschaffen ist, vom Kleinsten bis zum Größten, es ist von Arbeiterhänden geschaffen, und unser Arbeiterschweiß ist es, wovon die Herren leben".22
Stolz entstand auch aus der Erfahrung, dass das Hände-in-den-Schoß-Legen beim Streik alles andere als Nichtstun bedeutete. Denn aus dem kollektiven Sichverweigern entstand neues soziales Leben: das Leben der Organisation, das Zusammenwirken für die eigene Sache, das Überwinden der Isolation und der Monotonie der Arbeit, das Miteinander in der Demonstration, beim Streikessen (in Fougères wurden täglich 3500 Mahlzeiten zubereitet) und in der Versammlung. Von hier war es nicht weit bis zum Mythos des Generalstreiks, bei dem endlich einmal die organisatorische Zerrissenheit des Proletariats in einer gemeinsamen direkten Aktion aufgehoben werden sollte und die Arbeiterschaft, dieser ruhende Riese (eine in vielen Sprachen verbreitete Darstellung), ihre wahre Kraft entfalten würde.
 
Streik im Kohlebecken von Longwy,
                1906
Streik im Kohlebecken von Longwy, 1906.
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Streik im Kohlebecken von Longwy,
                1906

Streik im Kohlebecken von Longwy, 1906.
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Streik in Graulhet, 1908/09

Streik in Graulhet, 1908/09.
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Exmittierte Steinarbeiter in Strehlen, 1907

Exmittierte Steinarbeiter in Strehlen, 1907.
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Streik in den Bergmannswerken in
                Bodenbach

Streik in den Bergmannswerken in Bodenbach.
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Ein Soldat beim Zustellen von Briefen, 1903

Ein Soldat beim Zustellen von Briefen, 1903
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Zur Erinnerung an den Streik der Weber in Brünn,
                1899

Zur Erinnerung an den Streik der Weber in Brünn, 1899.
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1.-Mai-Postkarte

1.-Mai-Postkarte.
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