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Das weit freiere französische Demonstrationsrecht eröffnete naturgemäß
den Gefühlen der Streikenden auch größere und spontanere
Artikulationsmöglichkeiten. Allen voran sei der demonstrative Streikumzug
meist mit improvisierter roter Fahne, manchmal auch mit einem Musikcorps
an der Spitze erwähnt. Nicht selten sind es Frauen oder Mädchen, die
das proletarische Symbol der roten Fahne tragen, die fast durchweg
die republikanische Trikolore verdrängt hatte. Der Streik machte Spaß;
man lachte und freute sich, sei es beim Demonstrieren, bei der gemeinsamen
Streikmahlzeit, beim Posieren für den Fotografen oder beim Kartoffelschälen
mit Streikführer, Bürgermeister und sozialistischem Abgeordneten. Aber auch
Soldaten lachten und winkten in die Kamera. In Indret spielte eine
gewerkschaftliche Musikgruppe die "Internationale" vor dem Schloss des
Fabrikanten.
Für deutsche Arbeitskämpfe sind derartig festliche Begleitumstände ebenfalls
überliefert, ohne dass wir jedoch Bildmaterial besitzen. So wanderten
Mühlhausener Textilarbeiterinnen 1890 regelmäßig ins Grüne und kamen erst
abends "blumenbekränzt" wieder zurück.20 Auch Ruhrbergarbeiter gestalteten solche Streikumzüge, die
- wie schon in Mühlhausen - vielfach dazu genutzt wurden, andere
Fabrikbelegschaften zur Teilnahme am Streik aufzufordern. Bis 1918 folgte
derartigen Manifestationen allerdings regelmäßig die militärische oder
polizeiliche Repression.21
Naturgemäß war den Fotografen die öffentliche Seite der Arbeitskämpfe
leichter zugänglich als das Innere der Betriebe. Daher gibt es nur wenig
betriebsinterne Aufnahmen. Aber auch dort, wo sich die Betriebstore (meist
wegen der zur Hilfe gerufenen Ordnungsmacht) öffneten, fehlte der Aspekt
des Lustigen nicht, etwa bei einer Postkartenserie über den
nordfranzösischen Eisenbahnerstreik von 1910).
Der dokumentarische Charakter der Streikpostkarten konnte auch
denunziatorische Funktionen annehmen: Da wurde das Elend der "exmittierten
Steinarbeiter" aus Strehlen (Schlesien) unter Beweis gestellt, die sich
mit ihrem gesamten Hausrat auf freiem Feld wiederfanden, da wurde des
Maschinenmeisters und Tarifobmanns Johann Solinger aus Tetschen gedacht,
der "durch den Streikbrecher-Agenten Paul Keiling" erschossen
worden sei, oder es wurde in vielfältigen Abwandlungen die Polizei - in
Frankreich häufig auch die Armee - als Hilfsorgan der Unternehmermacht
bloßgestellt.
Das repressive Vereins-, Demonstrations- und Streikrecht und die im
Wilhelminischen Reich übliche schikanöse Rechtsprechung gegen das
Streikpostenstehen, gegen öffentliche Streikversammlungen und Streikumzüge
dürften wichtige Ursachen für den Mangel an dokumentarischer
Bildberichterstattung über deutsche Arbeitskämpfe sein. So wurde die
deutsche Arbeiterbewegung weit stärker als die französische in die stille
Organisationsarbeit im Verein, hinter die verschlossenen Türen der
Versammlungssäle und in die sozialistischen Kulturorganisationen gedrängt.
Der Arbeitskampf wurde schnell zur Vereins-, ja zur Verbandssache: (typisch
dafür ist etwa eine allegorische Streikpostkarte aus Wien, auf der
mitgeteilt wurde, der Streik hätte "mit einem Sieg der Organisation",
also der Gewerkschaft geendet). In Frankreich hielten sich demgegenüber bis
1914 die spontaneren Formen der Streikorganisation: die Vollversammlung
der Streikenden, das ad hoc gewählte Streikkomitee und das öffentliche
Sammeln von Streikunterstützung, obwohl auch hier wie in Deutschland
über drei Viertel aller Streiks von Gewerkschaftsseite geführt wurden.
Die Ausgrenzung aus der Wilhelminischen Gesellschaft bedeutete für
die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, sich in der Subkultur der
sozialistischen Arbeiterkulturvereine einzurichten, die in den
Manifestationen und den allegorischen Feldpostkarten, aber auch in der
satirischen Presse ihren bildhaften Ausdruck fand. Die dadurch vermittelten
Inhalte thematisierten u. a. die Hoffnung auf die eigene Kraft (z. B. der
ruhende Riese) und den sozialistischen Zukunftsstaat. "Feierliche Erhebung"
und "künstlerische Erziehung" des Proletariats waren die pädagogischen
Absichten dieser Darstellungen. Da auf Grund von Zensurmaßnahmen oder
repressiver Rechtsprechung keine echten Menschen oder konkreten Aktionen
als Vorbilder dargestellt werden konnten, musste man auf Symbole und
Allegorien zurückgreifen. Ihr Sinn zielte auf die organisierte
Arbeiterbewegung und wurde meist auch erst durch diese verstanden. Aber
auch darin kommt an vielen Beispielen das zum Ausdruck, was in Frankreich
die dokumentarischen oder sozialkritischen Streikpostkarten zeigten: der
Stolz derjenigen, die mit ihren eigenen Händen die Werte dieser Welt
erschaffen haben.
Gerade karikaturistische Streikdarstellungen thematisierten diesen Stolz,
indem Streikbrecher oder auch Polizisten als unfähige oder unbrauchbare
Arbeitskräfte dargestellt wurden, etwa in den Postkartenserien "Heiteres
aus dem Streikgebiet", "Das letzte Aufgebot für den Pütt" oder bei der
Darstellung eines tölpelhaften Berliners als Schauermann im Hamburger
Hafen anlässlich des großen Hafenarbeiterstreiks 1897 in der Hamburger
Illustrirten Zeitung. Dieser "Produzentenstolz" brach naturgemäß
besonders im Streik auf, so dass es von speziellem Reiz war, die
Arbeitgeber (Zimmerer, Bäcker) selbst Hand anlegen zu sehen. Ein
Streikführer aus Mühlhausen im Elsaß brachte diesen originären
Proletarierstolz auf die pathetische Formel: "Schaut rings um Euch;
was von Menschenhand geschaffen ist, vom Kleinsten bis zum Größten, es
ist von Arbeiterhänden geschaffen, und unser Arbeiterschweiß ist es,
wovon die Herren leben".22
Stolz entstand auch aus der Erfahrung, dass das Hände-in-den-Schoß-Legen
beim Streik alles andere als Nichtstun bedeutete. Denn aus dem kollektiven
Sichverweigern entstand neues soziales Leben: das Leben der Organisation,
das Zusammenwirken für die eigene Sache, das Überwinden der Isolation und
der Monotonie der Arbeit, das Miteinander in der Demonstration, beim
Streikessen (in Fougères wurden täglich 3500 Mahlzeiten zubereitet) und
in der Versammlung. Von hier war es nicht weit bis zum Mythos des
Generalstreiks, bei dem endlich einmal die organisatorische Zerrissenheit
des Proletariats in einer gemeinsamen direkten Aktion aufgehoben werden
sollte und die Arbeiterschaft, dieser ruhende Riese (eine in vielen
Sprachen verbreitete Darstellung), ihre wahre Kraft entfalten würde.
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Streik im Kohlebecken von Longwy, 1906. [größeres Bild]
Streik im Kohlebecken von Longwy, 1906. [größeres Bild]
Streik in Graulhet,
1908/09. [größeres Bild]
Exmittierte
Steinarbeiter in Strehlen, 1907. [größeres Bild]
Streik in den Bergmannswerken in Bodenbach. [größeres Bild]
Ein
Soldat beim Zustellen von Briefen, 1903 [größeres Bild]
Zur Erinnerung an den Streik der Weber in Brünn, 1899. [größeres Bild]
1.-Mai-Postkarte. [größeres Bild]
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