|
Die ausführlichen Bildgeschichten einzelner Arbeitskämpfe zeigen viel
mehr als das Spektakuläre. Allein rund 30 Streikpostkarten (von angeblich
rund 200) über die Arbeitskämpfe der Eisenbahner Nordfrankreichs, ebenso
viele über die der Berg- und Stahlarbeiter Lothringens 1910 oder auch die
23 Karten über Streik und Aussperrung der Beschäftigten der Schuhindustrie
in Fougères 1906/07 belegen: Der Arbeitskampf ist zunächst ein komplexes
Organisationsgebilde mit Vollversammlung, Streikkomitees, Delegation,
Aufstellung der Forderungen, Abstimmungen, Geldsammlungen etc. Zu erwähnen
sind weiterhin Parlamentsdebatten, Ausschuss-Sitzungen und Besichtigungen
durch Pariser Abgeordnete. Immer wieder dokumentiert sind außerdem die
besonderen Solidaritätsleistungen der Streikenden: das gemeinsame
Mittagessen ("la soupe communiste") und die Verschickung der Kinder in
die umliegenden Städte. Da sind die Zehnstundentag-Kämpferinnen aus
Crimmitschau, die Schuharbeiterinnen der neugegründeten unabhängigen
Arbeitsbörse von Fougères oder die Männer und Frauen vom Streikkomitee
der Bergarbeiter aus Douai, die diesen Proletarierstolz im Gesicht tragen.
Selbst Niederlagen (wie in Crimmitschau) werden mittels dieser Erinnerungen
zu Siegen. Viele solcher Arbeitskämpfe wurden auf Grund ihrer monatelangen
Dauer oder wegen der durch sie ausgelösten Reformdiskussionen zu einem
die ganze Nation bewegenden historischen Ereignis.
Was bedeutete es für eine Streikteilnehmerin oder einen Streikteilnehmer,
eine Postkarte mit dem eigenen Konterfei an Freunde und Verwandte zu
schicken: "Herzliche Grüße vom Streik in ..."? Wenn man gar mit einem
bekannten Streikführer, einem Bürgermeister (etwa beim Verteilen von Brot
an die Streikenden) oder Abgeordneten, gar mit Jean Jaurès oder mit
Vincent Auriol, dem späteren Präsidenten der IV. Republik, zusammen
abgelichtet worden war?14 Am deutlichsten hatten die Pariser Parkettleger
ihren Wunsch (beim Generalstreik der Pariser Bauarbeiter 1898) formuliert,
als sie - ohne jegliche eigene Forderung anzumelden - erklärten, sie
hätten auf keinen Fall "diese grandioseste Demonstration der Welt"
verpassen wollen.15
Oral-history-Studien haben gezeigt, dass "die große Streikzeit" (an der
Saar 1889-1893) oder ähnliche Ereignisse noch heute im kollektiven
Gedächtnis der Nachkommen lebendig sind.16
Gewiss hat der Streik etwas Demonstratives, Expressives, das die
Alltagsroutine unterbricht. Man stellt sich auf wie beim Klassenfoto
(etwa die Kinder von Graulhet, oder Wiener Typographen 1914) und schreibt
nicht nur Grüße aus dem Streikgebiet, sondern: "Die Kinder von
Mazamet-Graulhet sind alle Brüder. Unvergeßliche Streiks". Aber auch
das ist anzumerken: Hier wurde die brutale Kehrseite des Arbeitskampfs
verdeckt - dass die Hilfsgelder verbraucht und die Streikführer entlassen
waren, dass man hungerte und auf Armenunterstützung angewiesen war oder
gar die Kinder in hilfsbereite Arbeiterstädte verschicken musste.
Schließlich spielte auch Angst eine Rolle: Angst vor Maßregelungen, vor
dem Verlassen der angestammten Heimat oder vor den Arbeitgebern, die sich
gegen sogenannte "Rädelsführer(innen)" verschworen haben. Nicht weniger
drohte das Absinken ins Nomadentum der Hausierer und der Nichtsesshaften.
Dies war durchaus ein Motiv, vor dem Schnappschussfotografen das Gesicht
zu verbergen. Aber auch hier konnte - wie bei der "soupe communiste", bei
dem Auszug der Kinder oder bei ihrer Rückkehr - aus der Not eine Tugend
gemacht werden: Man gestaltete das Ereignis als eine Art Triumphzug oder
gar als Sieg (zumindest der Solidarität), selbst wenn die Streikziele
nicht erreicht wurden.
An manchen Stellen gelangte trotzdem die Misere des Proletarierelends
auf die Platte des Fotografen: die Armen von St. Quentin, die auf die
Suppe warten oder die über Tage arbeitenden Kohleverleserinnen, die
(aus Scham oder aus Angst vor Entlassung?) ihre Gesichter abwenden17, schließlich die in der ersten
Reihe des Demonstrationszugs marschierenden Knopfarbeiterinnen aus Méru.18
Für Deutschland besitzen wir zumindest eine kleine Serie von
dokumentarischen Postkarten, die die große, reichsweite
Bauarbeiteraussperrung von 1910 zum Inhalt hat. Wir sehen das Streikbüro
bei der Entgegennahme der Kontrollmeldungen von den Baustellen und bei
der Auszahlung der Streikunterstützungen. Drei weitere Fotos zeigen
verschiedene Kontrollstellen auf freier Landstraße bzw. an Feldwegen,
wobei die Melder offenbar Fahrräder benutzten. Angesichts vor allem
preußischer und sächsischer Polizeipraxis und entsprechender Rechtsprechung,
durch die das Streikpostenstehen mit großer Willkür als "Verkehrshindernis"
(selbst wenn es kaum Verkehr gab), als "Belästigung" und "Verhöhnung"
der Arbeitswilligen, schließlich auch als "Terrorismus" der Gewerkschaften
oder "Beleidigung" von Arbeitgebern kriminalisiert werden konnte, stellen
diese Fotos eine ausgesprochene Rarität dar.19 Sie konnten allzu
leicht als Anzeigegrund verwendet werden.
Herausgegeben wurden die Postkarten vermutlich von der Zahlstelle des
Deutschen Maurerverbandes, denn auf der Rückseite ist vermerkt "Zur
Erinnerung an den Kampf im Baugewerbe. Zittau 1910". Bei diesem
Arbeitskampf waren reichsweit 190 000 Bauarbeiter ausgesperrt worden, weil
die Arbeitgeberseite mit aller Gewalt einen reichsweit gültigen Tarifvertrag
durchsetzen wollte, mit dessen Hilfe jegliche Art lokaler Lohn- und
Arbeitszeitverbesserung unterbunden und die Gewerkschaften finanziell in
die Knie gezwungen werden sollten. Der Kampf hatte die Gewerkschaften 8,8
Millionen Mark gekostet. Die Botschaft der Zittauer Postkarten ebenso
wie die vieler anderer dokumentarischer Streikpostkarten ist eindeutig:
Der Streik ist kein Tumult, sondern eine wohlgeordnete, kompetent
organisierte Angelegenheit. Damit wurde vielen der im Stil der
Historienmalerei gehaltenen Holzstiche und Ölbilder (von Koehler, Roll
u. a.) direkt widersprochen.
Den geordneten, ruhigen Ablauf unterstreicht auch eine große Zahl von
Darstellungen aus dem Ausland, die immer wieder die vielköpfige Menge
der Wartenden oder Marschierenden zeigen. Einen ähnlichen Eindruck von
Ruhe und Ordnung vermittelt auch der "Gruß aus dem Mansfelder
Streikgebiet", die "Erinnerung an den Bergarbeiter-Streik im
Ruhrgebiet 1905" und "Streikposten als 'Verkehrshindernis'".
Letzteres Bild sollte die bereits erwähnte Praxis deutscher,
antigewerkschaftlicher Rechtsprechung bloßstellen, durch die das
Streikpostenstehen als "Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung"
kriminalisiert wurde. Die Karikatur vom Paragraphenreiten persifliert
die entsprechende Polizei- und Gerichtspraxis, hinter der sich Arbeitgeber
mit ihren Interessen verschanzen konnten.
Das Bild der Wohlgeordnetheit wird auf diesen wie auf vielen anderen
Streikpostkarten auch durch den Umstand unterstrichen, dass Streikende -
1905 an der Ruhr, 1910 im Mansfeldischen, bei den Wiener Schneidern 1903,
bei den dortigen Typographen 1914, beim Generalstreik in Zürich 1912, in
Holland 1903, bei der "soupe communiste" in Gouraincourt, Graulhet (1906)
oder Fougères (1907) - sich bewusst in Ausgeh- oder Sonntagskleidung, mit
Hut, Krawatte, feinen Kleidern oder frischgebügelten, weißen Schürzen
zeigten. Mag bei den gestellten Gruppenbildern die natürliche Eitelkeit
eine Rolle gespielt haben, so unterstreicht dieser Umstand doch auch
die Tatsache, dass Streiken und Feiern zwei Seiten der selben Medaille
waren.
|
|
Feldwache
streikender Bauarbeiter in Zittau. [größeres Bild]
Feldwache
streikender Bauarbeiter in Zittau. [größeres Bild]
Generalstreik in
Mailand. [größeres Bild]
Generalstreik in
Zürich am 12. Juli 1912. [größeres Bild]
"Gruß aus
dem Mansfelder Streikgebiet". [größeres Bild]
Streikposten
als - "Verkehrshindernis". [größeres Bild]
Streikpostkarte aus
Mansfeld. [größeres Bild]
Paragraphenreiterei. [größeres Bild]
|