Deutsches
Historisches
Museum
Streikpostkarten in Frankreich und Deutschland
1884-1914
Friedhelm Boll, Seite 1 2 4 5
Die ausführlichen Bildgeschichten einzelner Arbeitskämpfe zeigen viel mehr als das Spektakuläre. Allein rund 30 Streikpostkarten (von angeblich rund 200) über die Arbeitskämpfe der Eisenbahner Nordfrankreichs, ebenso viele über die der Berg- und Stahlarbeiter Lothringens 1910 oder auch die 23 Karten über Streik und Aussperrung der Beschäftigten der Schuhindustrie in Fougères 1906/07 belegen: Der Arbeitskampf ist zunächst ein komplexes Organisationsgebilde mit Vollversammlung, Streikkomitees, Delegation, Aufstellung der Forderungen, Abstimmungen, Geldsammlungen etc. Zu erwähnen sind weiterhin Parlamentsdebatten, Ausschuss-Sitzungen und Besichtigungen durch Pariser Abgeordnete. Immer wieder dokumentiert sind außerdem die besonderen Solidaritätsleistungen der Streikenden: das gemeinsame Mittagessen ("la soupe communiste") und die Verschickung der Kinder in die umliegenden Städte. Da sind die Zehnstundentag-Kämpferinnen aus Crimmitschau, die Schuharbeiterinnen der neugegründeten unabhängigen Arbeitsbörse von Fougères oder die Männer und Frauen vom Streikkomitee der Bergarbeiter aus Douai, die diesen Proletarierstolz im Gesicht tragen. Selbst Niederlagen (wie in Crimmitschau) werden mittels dieser Erinnerungen zu Siegen. Viele solcher Arbeitskämpfe wurden auf Grund ihrer monatelangen Dauer oder wegen der durch sie ausgelösten Reformdiskussionen zu einem die ganze Nation bewegenden historischen Ereignis.

Was bedeutete es für eine Streikteilnehmerin oder einen Streikteilnehmer, eine Postkarte mit dem eigenen Konterfei an Freunde und Verwandte zu schicken: "Herzliche Grüße vom Streik in ..."? Wenn man gar mit einem bekannten Streikführer, einem Bürgermeister (etwa beim Verteilen von Brot an die Streikenden) oder Abgeordneten, gar mit Jean Jaurès oder mit Vincent Auriol, dem späteren Präsidenten der IV. Republik, zusammen abgelichtet worden war?14 Am deutlichsten hatten die Pariser Parkettleger ihren Wunsch (beim Generalstreik der Pariser Bauarbeiter 1898) formuliert, als sie - ohne jegliche eigene Forderung anzumelden - erklärten, sie hätten auf keinen Fall "diese grandioseste Demonstration der Welt" verpassen wollen.15

Oral-history-Studien haben gezeigt, dass "die große Streikzeit" (an der Saar 1889-1893) oder ähnliche Ereignisse noch heute im kollektiven Gedächtnis der Nachkommen lebendig sind.16
Gewiss hat der Streik etwas Demonstratives, Expressives, das die Alltagsroutine unterbricht. Man stellt sich auf wie beim Klassenfoto (etwa die Kinder von Graulhet, oder Wiener Typographen 1914) und schreibt nicht nur Grüße aus dem Streikgebiet, sondern: "Die Kinder von Mazamet-Graulhet sind alle Brüder. Unvergeßliche Streiks". Aber auch das ist anzumerken: Hier wurde die brutale Kehrseite des Arbeitskampfs verdeckt - dass die Hilfsgelder verbraucht und die Streikführer entlassen waren, dass man hungerte und auf Armenunterstützung angewiesen war oder gar die Kinder in hilfsbereite Arbeiterstädte verschicken musste. Schließlich spielte auch Angst eine Rolle: Angst vor Maßregelungen, vor dem Verlassen der angestammten Heimat oder vor den Arbeitgebern, die sich gegen sogenannte "Rädelsführer(innen)" verschworen haben. Nicht weniger drohte das Absinken ins Nomadentum der Hausierer und der Nichtsesshaften. Dies war durchaus ein Motiv, vor dem Schnappschussfotografen das Gesicht zu verbergen. Aber auch hier konnte - wie bei der "soupe communiste", bei dem Auszug der Kinder oder bei ihrer Rückkehr - aus der Not eine Tugend gemacht werden: Man gestaltete das Ereignis als eine Art Triumphzug oder gar als Sieg (zumindest der Solidarität), selbst wenn die Streikziele nicht erreicht wurden.

An manchen Stellen gelangte trotzdem die Misere des Proletarierelends auf die Platte des Fotografen: die Armen von St. Quentin, die auf die Suppe warten oder die über Tage arbeitenden Kohleverleserinnen, die (aus Scham oder aus Angst vor Entlassung?) ihre Gesichter abwenden17, schließlich die in der ersten Reihe des Demonstrationszugs marschierenden Knopfarbeiterinnen aus Méru.18

Für Deutschland besitzen wir zumindest eine kleine Serie von dokumentarischen Postkarten, die die große, reichsweite Bauarbeiteraussperrung von 1910 zum Inhalt hat. Wir sehen das Streikbüro bei der Entgegennahme der Kontrollmeldungen von den Baustellen und bei der Auszahlung der Streikunterstützungen. Drei weitere Fotos zeigen verschiedene Kontrollstellen auf freier Landstraße bzw. an Feldwegen, wobei die Melder offenbar Fahrräder benutzten. Angesichts vor allem preußischer und sächsischer Polizeipraxis und entsprechender Rechtsprechung, durch die das Streikpostenstehen mit großer Willkür als "Verkehrshindernis" (selbst wenn es kaum Verkehr gab), als "Belästigung" und "Verhöhnung" der Arbeitswilligen, schließlich auch als "Terrorismus" der Gewerkschaften oder "Beleidigung" von Arbeitgebern kriminalisiert werden konnte, stellen diese Fotos eine ausgesprochene Rarität dar.19 Sie konnten allzu leicht als Anzeigegrund verwendet werden.
Herausgegeben wurden die Postkarten vermutlich von der Zahlstelle des Deutschen Maurerverbandes, denn auf der Rückseite ist vermerkt "Zur Erinnerung an den Kampf im Baugewerbe. Zittau 1910". Bei diesem Arbeitskampf waren reichsweit 190 000 Bauarbeiter ausgesperrt worden, weil die Arbeitgeberseite mit aller Gewalt einen reichsweit gültigen Tarifvertrag durchsetzen wollte, mit dessen Hilfe jegliche Art lokaler Lohn- und Arbeitszeitverbesserung unterbunden und die Gewerkschaften finanziell in die Knie gezwungen werden sollten. Der Kampf hatte die Gewerkschaften 8,8 Millionen Mark gekostet. Die Botschaft der Zittauer Postkarten ebenso wie die vieler anderer dokumentarischer Streikpostkarten ist eindeutig: Der Streik ist kein Tumult, sondern eine wohlgeordnete, kompetent organisierte Angelegenheit. Damit wurde vielen der im Stil der Historienmalerei gehaltenen Holzstiche und Ölbilder (von Koehler, Roll u. a.) direkt widersprochen.

Den geordneten, ruhigen Ablauf unterstreicht auch eine große Zahl von Darstellungen aus dem Ausland, die immer wieder die vielköpfige Menge der Wartenden oder Marschierenden zeigen. Einen ähnlichen Eindruck von Ruhe und Ordnung vermittelt auch der "Gruß aus dem Mansfelder Streikgebiet", die "Erinnerung an den Bergarbeiter-Streik im Ruhrgebiet 1905" und "Streikposten als 'Verkehrshindernis'". Letzteres Bild sollte die bereits erwähnte Praxis deutscher, antigewerkschaftlicher Rechtsprechung bloßstellen, durch die das Streikpostenstehen als "Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" kriminalisiert wurde. Die Karikatur vom Paragraphenreiten persifliert die entsprechende Polizei- und Gerichtspraxis, hinter der sich Arbeitgeber mit ihren Interessen verschanzen konnten.
Das Bild der Wohlgeordnetheit wird auf diesen wie auf vielen anderen Streikpostkarten auch durch den Umstand unterstrichen, dass Streikende - 1905 an der Ruhr, 1910 im Mansfeldischen, bei den Wiener Schneidern 1903, bei den dortigen Typographen 1914, beim Generalstreik in Zürich 1912, in Holland 1903, bei der "soupe communiste" in Gouraincourt, Graulhet (1906) oder Fougères (1907) - sich bewusst in Ausgeh- oder Sonntagskleidung, mit Hut, Krawatte, feinen Kleidern oder frischgebügelten, weißen Schürzen zeigten. Mag bei den gestellten Gruppenbildern die natürliche Eitelkeit eine Rolle gespielt haben, so unterstreicht dieser Umstand doch auch die Tatsache, dass Streiken und Feiern zwei Seiten der selben Medaille waren.
 
Feldwache streikender Bauarbeiter
Feldwache streikender Bauarbeiter in Zittau.
[größeres Bild]




Feldwache streikender Bauarbeiter

Feldwache streikender Bauarbeiter in Zittau.
[größeres Bild]




Generalstreik in Mailand

Generalstreik in Mailand.
[größeres Bild]




Generalstreik in Zürich, 1912.

Generalstreik in Zürich am 12. Juli 1912.
[größeres Bild]




'Gruß aus dem Mansfelder Streikgebiet'

"Gruß aus dem Mansfelder Streikgebiet".
[größeres Bild]




Streikposten als - 'Verkehrshindernis'

Streikposten als - "Verkehrshindernis".
[größeres Bild]




Streikpostkarte aus Mansfeld

Streikpostkarte aus Mansfeld.
[größeres Bild]




Paragraphenreiterei

Paragraphenreiterei.
[größeres Bild]
Link: zurück Link: weiter
zurück zur nächsten Seite dieses Beitrags