In Nietzsches
Gedanken über den "Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben" wogen die Nachteile schwerer. Die Historie
berge immer die Gefahr, das Neue, die Umschaffung der Verhältnisse
aufzuhalten. Wer zu sehr im Vergangenen lebe, wer nicht vergessen
könne, der - so Nietzsches mit Pathos vorgetragene Einsicht
- verpasse das Leben.
Nietzsches Kommentar
zum Historismus seiner Zeit ist gesprochen aus dem sicheren Hort
eines bürgerlichen Lebens, das in seinen "privaten"
Ordnungen noch nicht von einer sich selbst überholenden Geschichte
umgewälzt wurde. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts formten
sich dann, in einer rapide mobilisierten Gesellschaft, zahlreiche
neue Konventionen, Ritualisierungen, Bräuche und Feierlichkeiten
aus, die bis in die jüngere Vergangenheit, ja Gegenwart hinein
das Leben nach festgefügten Mustern in deutlich geschiedene
Sequenzen unterteilen.
Aber in einer
Zeit beschleunigten Wandels haben nicht einmal die Eckpfeiler
und tragenden Säulen des Lebens, die allen gemeinsamen Einschnitte
und Stationen historischen Bestand. Die Menschen in den neuen
Bundesländern müssen dies abrupt erfahren, jene im alten
Bundesgebiet erleben es eher schleichend. Heute ist das Neue dermaßen
dominant, daß es schwer gelingen will, pathetisch den Willen
zum veränderten Leben zu verkünden.
Dieser Wandel
der Definition und Bewältigung von Lebensstationen ist das
Thema der Ausstellung. Gezeigt werden die Lebenskonzepte und Verbindlichkeiten
beim Übergang von einer Lebensphase in die andere, deren
Anfang und Ende markiert sind durch die Extreme Geburt und Tod.
Vier Zeiträume dieses Jahrhunderts wurden dazu ausgewählt:
Um 1900 wurden jene Lebensstationen samt ihren Ritualisierungen
verbindlich, die auch nach dem Ersten Weltkrieg, in den zwanziger
Jahren und weit darüber hinaus Geltung besaßen. In
der Zeit des Nationalsozialismus wurden neue Lebensentwürfe
propagiert und Rituale eingeführt, die insbesondere Mütter,
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in neue Lebensmuster
einspannten. Nach 1945 trennten sich die Wege in der Nation. Die
Lebensstationen wurden andere.
An ihrem historisch
spezifischen Ort, im Zeughaus Unter den Linden im Ostteil Berlins,
will die Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland"
die beiden deutschen Nachkriegs-Staaten in eben diesen unterschiedlichen
Lebensstationen, den dabei ausgeformten Ritualisierungen und Vergegenständlichungen
zeigen. So lassen sich aus den gemeinsamen Wurzeln die Verzweigungen
rekonstruieren, die sich nun wieder aufeinanderzubewegen. Die
Ausstellung versteht sich damit auch als Kommentar zum aktuellen
Zeitgeschehen. Sie wird wohl kaum dazu beitragen können,
die "Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen", haben
doch die Umwälzungen der Zeit die Handhabung der Lebensstationen
ungewiß gemacht. Doch mag der "Nutzen" der Ausstellung
für das "Leben" darin liegen, das Verlorene aus
der Distanz - und das heißt immer mit unaufgeregter Nüchternheit
- zu betrachten.
Februar
1993
Christoph Stölzl