Vorwort
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
   
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In Nietzsches Gedanken über den "Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" wogen die Nachteile schwerer. Die Historie berge immer die Gefahr, das Neue, die Umschaffung der Verhältnisse aufzuhalten. Wer zu sehr im Vergangenen lebe, wer nicht vergessen könne, der - so Nietzsches mit Pathos vorgetragene Einsicht - verpasse das Leben.

Nietzsches Kommentar zum Historismus seiner Zeit ist gesprochen aus dem sicheren Hort eines bürgerlichen Lebens, das in seinen "privaten" Ordnungen noch nicht von einer sich selbst überholenden Geschichte umgewälzt wurde. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts formten sich dann, in einer rapide mobilisierten Gesellschaft, zahlreiche neue Konventionen, Ritualisierungen, Bräuche und Feierlichkeiten aus, die bis in die jüngere Vergangenheit, ja Gegenwart hinein das Leben nach festgefügten Mustern in deutlich geschiedene Sequenzen unterteilen.

Aber in einer Zeit beschleunigten Wandels haben nicht einmal die Eckpfeiler und tragenden Säulen des Lebens, die allen gemeinsamen Einschnitte und Stationen historischen Bestand. Die Menschen in den neuen Bundesländern müssen dies abrupt erfahren, jene im alten Bundesgebiet erleben es eher schleichend. Heute ist das Neue dermaßen dominant, daß es schwer gelingen will, pathetisch den Willen zum veränderten Leben zu verkünden.

Dieser Wandel der Definition und Bewältigung von Lebensstationen ist das Thema der Ausstellung. Gezeigt werden die Lebenskonzepte und Verbindlichkeiten beim Übergang von einer Lebensphase in die andere, deren Anfang und Ende markiert sind durch die Extreme Geburt und Tod. Vier Zeiträume dieses Jahrhunderts wurden dazu ausgewählt: Um 1900 wurden jene Lebensstationen samt ihren Ritualisierungen verbindlich, die auch nach dem Ersten Weltkrieg, in den zwanziger Jahren und weit darüber hinaus Geltung besaßen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden neue Lebensentwürfe propagiert und Rituale eingeführt, die insbesondere Mütter, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in neue Lebensmuster einspannten. Nach 1945 trennten sich die Wege in der Nation. Die Lebensstationen wurden andere.

An ihrem historisch spezifischen Ort, im Zeughaus Unter den Linden im Ostteil Berlins, will die Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland" die beiden deutschen Nachkriegs-Staaten in eben diesen unterschiedlichen Lebensstationen, den dabei ausgeformten Ritualisierungen und Vergegenständlichungen zeigen. So lassen sich aus den gemeinsamen Wurzeln die Verzweigungen rekonstruieren, die sich nun wieder aufeinanderzubewegen. Die Ausstellung versteht sich damit auch als Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen. Sie wird wohl kaum dazu beitragen können, die "Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen", haben doch die Umwälzungen der Zeit die Handhabung der Lebensstationen ungewiß gemacht. Doch mag der "Nutzen" der Ausstellung für das "Leben" darin liegen, das Verlorene aus der Distanz - und das heißt immer mit unaufgeregter Nüchternheit - zu betrachten.

Februar 1993

Christoph Stölzl


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