Die stille Revolution und
die Veränderung der Lebensformen
Die Vereinigten Staaten, Westeuropa und
damit auch die Bundesrepublik haben in den letzten zwanzig Jahren
einen Wandel von Werten und Lebensformen erlebt, der die aus den
fünfziger Jahren herrührenden Lebensmuster und -entwürfe
von Jugendlichen, Männern und Frauen in Frage gestellt und
teilweise tiefgreifend verändert hat. Die Fakten sind bekannt.
So ist das durchschnittliche Heiratsalter von 1975 bis 1987 bei
Männern von 25,3 auf fast 28 Jahre und bei Frauen von 22,7
auf über 25 Jahre angestiegen. Dabei verdecken diese Durchschnittsangaben,
daß in bestimmten Gruppen, etwa bei den Höhergebildeten,
das Heiratsalter inzwischen bei dreißig Jahren und höher
liegt. Die Geburtenrate liegt in der Bundesrepublik bei circa
zehn Geburten auf tausend Einwohner, und der Anteil derjenigen,
die auf Dauer ledig bleiben wollen, hat sich in allen Altersgruppen
drastisch erhöht. Steigende Scheidungsziffern und zunehmend
kleinere Familien runden dieses Bild des Rückzugs der Familie
als Lebensform ab. Zwar wird über die Ursachen dieser Veränderungen
heftig gestritten, doch gibt es bestimmte Fakten, die sich eindeutig
als mitverursachend identifizieren lassen.
Die Bildungsreform der siebziger Jahre hat
dazu geführt, daß ein stetig steigender Prozentsatz
von jungen Frauen und Männern hochqualifizierte Ausbildungsgänge
durchläuft. Dies erfordert eine Entscheidung, entweder diese
langen Ausbildungsgänge abzuschließen und anschließend
einen Berufseinstieg anzustreben oder aber auf Kosten von Ausbildung
und Beruf zu einem früheren Zeitpunkt eine Familie zu gründen.
Lange Ausbildungszeiten und frühe Familiengründung schließen
einander aus. Die zunehmende außerhäusliche Erwerbstätigkeit
von Frauen, gerade in qualifizierten Berufen, stellt heute auch
diejenigen, die eine Familie gründen und Kinder aufziehen
wollen, vor das Problem, Beruf und Familie miteinander vereinbaren
zu müssen.
Während diese Tendenzen in der Bundesrepublik
in der Regel als Ausdruck eines steigenden Bedürfnisses junger
hochqualifizierter Menschen nach Selbstverwirklichung im Beruf
interpretiert werden, haben amerikanische Sozialwissenschaftler,
insbesondere Robert N. Bellah und James Coleman, eine Debatte
darüber begonnen, ob diese tiefgreifenden Veränderungen,
die sich in ähnlicher Weise auch in den Vereinigten Staaten
abgespielt haben, nicht Folge von zunehmender Urbanisierung sein
könnten. Insbesondere die qualifizierten Dienstleistungsberufe
sind fast ausschließlich in den urbanen Zentren zu finden.
Familie, so die These von Robert N. Bellah, kann eigentlich nur
dann angemessen funktionieren, wenn sie in ein intaktes Verwandtschafts-
und Nachbarschaftssystem eingebettet ist, in dem familiale Werte
hochgehalten werden und Solidarleistungen zwischen Verwandten,
Nachbarn und Familienmitgliedern jene Bedingungen erzeugen, die
es ermöglichen, nicht nur Familie zu leben, sondern auch
Kinder aufwachsen zu lassen.
Solche Solidarleistungen sind in großen
urbanen Zentren mit ihren heterogenen Strukturen, ihrer hohen
Mobilität und den Koordinationsschwierigkeiten zwischen Arbeitsstelle,
Wohnung, Versorgung und Pflege sozialer Beziehungen kaum vorstellbar,
weil sie stets ein hohes Maß an Vertrautheit und wechselseitiger
Abhängigkeit zwischen denjenigen, die die Leistungen erbringen,
und denjenigen, die sie empfangen, voraussetzen.
Betrachtet man die geographische Verteilung
der Single- bzw. Einpersonenhaushalte in der gesamten Bundesrepublik,
so wird die These von Robert N. Bellah für die alten Bundesländer
bestätigt. In allen urbanen Zentren, seien es München,
Hamburg, Berlin, Frankfurt oder Düsseldorf, erreichen die
Anteile an Einpersonenhaushalten durchweg knapp 50 Prozent oder
sogar noch mehr. Dementsprechend sind Familienhaushalte, also
Haushalte mit vier und mehr Personen, zur Ausnahme geworden. So
gibt es in München, Hamburg, Düsseldorf oder Berlin
nur jeweils knapp zehn Prozent Haushalte mit vier und mehr Personen.
Im krassen Gegensatz dazu stehen viele ländliche
Regionen der Bundesrepublik. Insbesondere im katholischen Süden,
aber auch im katholischen Westen liegen die Anteile der Einpersonenhaushalte
zwischen 16 Prozent und 20 Prozent, während dort die Haushalte
mit vier und mehr Personen die 40-Prozent-Marke zum Teil weit
überschreiten.
Ähnlich drastische Variationen lassen
sich auch zwischen der Geburtenrate, den Scheidungsziffern, dem
Bildungsniveau und der Frauenerwerbstätigkeit nachweisen.
Auch für die Bundesrepublik kann angenommen werden, daß
die urbanen Zentren die wesentlichen Träger jener Veränderungen
der Lebensformen sind, die gegenwärtig breit diskutiert werden.
Die fünf neuen Bundesländer weisen
demgegenüber keine solch drastischen Variationen in den Lebensformen
auf, sondern sind in vielen Punkten noch sehr viel homogener.
Zwar gibt es auch hier deutliche Stadt-Land-Differenzen, und natürlich
leben auch in Berlin-Ost mehr Singles als etwa in Mecklenburg-Vorpommern
oder den ländlichen Regionen Brandenburgs, aber die Variation
ist nicht so groß wie in den Altländern. Will man also
Lebensformen in den alten und neuen Bundesländern im Bereich
von Ehe und Familie miteinander vergleichen, tut man gut daran,
jene fortgeschrittenen urbanen Dienstleistungszentren in den alten
Bundesländern mit jenen städtischen Regionen in den
neuen Bundesländern zu vergleichen, die sich von ihrer Struktur
her am ehesten in eine Richtung entwickeln werden, anstatt generelle
Ost-West-Vergleiche durchzuführen.
Auf der Basis einer empirischen Erhebung
von insgesamt 12.000 Befragen zwischen 18 und 55 Jahren wurden
circa tausend Befragte aus den Großstädten Stuttgart,
München, Berlin, Frankfurt, Nürnberg und Augsburg ausgewählt,
die dann mit tausend Befragten aus Leipzig verglichen werden konnten.