Gudrun Leidecker
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Kinder und Jugendliche erleben die "Wende"
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Katalog

Vorwort
Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


Aufsätze

Gudrun Leidecker


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Fragt man heute, im November 1992, sechzehn- bis siebzehnjährige Mädchen und Jungen der ehemaligen DDR nach dem, was sie zuversichtlich stimmt, wenn sie ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben betrachten, so sind es vor allem
- die Möglichkeiten des Reisens in andere Länder
- daß ich auch in der Schule offen meine Meinung sagen kann
- das Ende der SED-Herrschaft
- die neuen Konsum-Möglichkeiten
- die neuen Möglichkeiten, mich auszuleben und auszuprobieren.

Nach ihren Zukunftsängsten und Sorgen befragt, sind dies folgende:
- die Zerstörung der Umwelt
- die Arbeitslosigkeit der Eltern und Geschwister
- Gewalt auf den Straßen und Plätzen
- die Möglichkeit, nach der Schule keine Lehrstelle/keinen Studienplatz zu finden.

Verglichen mit den Untersuchungen in den Altbundesländern sind dies die Entwicklungschancen und -probleme, die die Aufwachsbedingungen der Jugendlichen in allen modernen Industriegesellschaften bestimmen. Doch für die damals zwölf- bis dreizehnjährigen Kinder in der DDR waren sie vor der Wende kein Thema. Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel waren nicht vorhanden, erstgenannte Möglichkeiten durften offiziell nicht gedacht, geschweige denn öffentlich diskutiert werden.

Die Biographien und damit die Lebensperspektiven der Mädchen und Jungen schienen bis zur Langeweile geregelt - verregelt - verplant: von den Vorschuleinrichtungen, der Einheitsschule, der Pionierorganisation, dem sozialistischen Jugendverband und in den meisten Fällen auch durch die Familien.

Lebensweise, Lebensziele und Erziehung ähnelten einander, es sei denn, familiäre Werte, Normen und Denkweisen durchbrachen die Konformität - dann aber zumeist auf Kosten der Entwicklungsmöglichkeiten der Heranwachsenden. In der Regel durchlebten die Mädchen und Jungen eine institutionalisierte, abgeschirmte, auf feste Bindungen orientierte Kindheit. Für dieses Bindungs- und Sicherheitsgefühl wurde, wenn es sein mußte, die Wirklichkeit verschönt, organisiert, initiiert: "durch die pädagogische Führung der Kollektive, das einsatzbereite Klassenelternaktiv die fleißigen Mitglieder der Patenbrigade, die Leitungen der Pionierorganisation und des Jugendverbandes, den Staat." Sie alle wurden zur Kinder- und Jugendhilfe im Sinne der "Ideologie und Moral der Arbeiterklasse und der Politik ihrer Partei" verpflichtet und waren bemüht, diese Pflicht auf eine aus ihrer Sicht für die Kinder eindrucksvolle und vielfältige Weise zu realisieren. "Grundwert des Sozialismus - ein Leben in Geborgenheit ..." und "... es gibt nur eine privilegierte Schicht in der DDR, das sind die Kinder ...", so lautete die offizielle Lesart.

 

Das Lebenskonzept war damit klar: Schulische Ausbildung, vielleicht das Abitur - wenn man den richtigen Leistungsdurchschnitt oder die richtige Herkunftsfamilie (Arbeiter) oder einen bevorzugten Berufswunsch (z. B. Armee, Lehrer) hatte; Berufsausbildung oder Studium; heiraten vielleicht; Kinder auf jeden Fall; Berufstätigkeit, möglichst lange im selben Betrieb; bescheidener Wohlstand, im Sommer eine FDGB-Reise, Trabi oder Wartburg ...

Gleiche Normalbiographie für alle - Durchschnitt, Mittelmaß. So jedenfalls empfanden es all die, die für sich eigene Lebensstile, Freiräume, Individualität nicht nur im Privaten, sondern in den offiziell bestimmten Lebensräumen suchten.

Allzu häufig wurden sie diszipliniert ("... das Kollektiv hat immer recht ..."), manchmal isoliert oder aus Institutionen verwiesen. Vielen, die Kinder in ihrer Entwicklung führten, begleiteten, fehlte es an Einsicht in den eigenständigen Wert von Kindheit, in die Unumgänglichkeit von Konflikten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Toleranz, personale Solidarität, Selbstbestimmung wurden im besten Falle vermittelt, nicht gelebt. Widersprüche, Infragestellungen, Widerspruch im Umgang mit der Gesellschaft ließ die herrschende Ideologie nicht zu. Heute - 1992 - sind beide, Erwachsene wie Heranwachsende, überfordert von den Umbrüchen, Konflikten, vom Wandel der sozialen Werte. Die Älteren versuchen zurechtzukommen, sich einzurichten, die Jungen umzugehen mit der neuen Freiheit, mit den Ängsten, wenn sich alles auf dramatische Weise ändert. Beide sind Suchende.

All das hatten wir Ende 1989 - Anfang 1990, als wir Aufsätze, Wandzeitungen, Plakate, Losungen von Kindern als Belege ihrer Reaktionen auf die friedliche Revolution zu sammeln begannen, so differenziert nicht im Blick. Bewußt war uns, daß wir es mit einem einmaligen biographischen Hintergrund zu tun haben, von dem die Heranwachsenden in ganz besonderer Weise betroffen sind. Auch wußten wir aus dem Beispiel anderer Untersuchungen, daß die Nichtbewältigung der Probleme zu Brüchen, ja Deformierungen in der Entwicklung führen kann. Deshalb war es ein Ziel, ein Anliegen der kleinen Sammlung, die wir zusammengetragen haben, Verständnis zu wecken für die Situation der Kinder, ihre Hoffnungen und Erwartungen an die Zukunft.

Zunächst aber waren auch wir beeindruckt von der Aufbruchsstimmung, den Phantasien, Zukunftserwartungen und den Hoffnungen des Novembers 1989. Von Beginn der Demonstrationen an waren die Kinder mit dabei, mit hoher Bereitschaft, Vorschläge zu machen, Ideen zu entwickeln, zu verändern:
"Wir wollen mitbestimmen, was aus unserer Schule wird, und es nicht den Erwachsenen allein überlassen," schrieb ein Mädchen (zwölf Jahre) an die Redaktion der Pionierzeitung "Trommel". In der Schülerzeitung forderten andere: "Gesellschaftskunde statt Staatsbürgerkunde, vor der Stunde keine Meldungen, keinen Fahnenappell, besseres Schulessen, Umweltstunde bzw. Wandzeitungen für Schülermeinungen". Vielerorts bildeten sich Schülerräte, Kinderräte oder andere Formen der Mitbestimmung wie Kiezzeitungen, Flugblätter, Wandzeitungen Es entstand so etwas wie eine eigene politische Kultur der Kinder, nahe an der der Erwachsenen, aber mit eigenen Sprüchen, Losungen und Forderungen.

In diese aus heutiger Sicht geradezu euphorische Stimmung mischte sich bereits erste Besorgnis über den Realitätssinn der Ideen, über die mögliche Leere und Enttäuschung nach soviel Hoffnung und Erwartungshaltung. In dem Maße, wie die Veränderungen in der DDR weniger Angelegenheit der demokratischen Bewegung als die der Parteien wurden, wurden die Mädchen und Jungen an den Rand des Geschehens gedrängt, auf ihre Fragen nicht geantwortet, ihre Stimme nicht gehört. Bereits im Verlaufe des ersten Halbjahres 1990 wurden die Ängste und Sorgen der Kinder deutlich: um die Arbeitsgemeinschaften in den Schulen, die Freizeiteinrichtungen und Ferienlager, um die zukünftige Lehrstelle.

Von diesen Prozessen fühlten sich die Mädchen stärker belastet als die Jungen. Sie fürchteten die Zunahme von Egoismus in den Beziehungen, die "Ellenbogengesellschaft", Aggressivität und Gewalt, Arbeitslosigkeit, sie sahen pessimistischer in die Zukunft. Alles, was die Sicherheit, das "Geborgensein" im Alltag der Heranwachsenden ausmachte, wollten diese nur verbessern, flexibler, offener gestalten - nicht aufheben, auflösen. "Das geht den Bach runter", wurde zu einer immer häufiger gebrauchten Redewendung des Jahres 1990. Hoffnung und Euphorie wichen der Enttäuschung und Orientierungslosigkeit.

Genau dieser Logik folgt auch die Dokumentation, dem Zeitverlauf, dem Wechselbad der Gefühle, das die Mädchen und Jungen, wenig unterstützt durch die Erwachsenen, durchliefen. Ihre Berichte sind nur eine unzureichende Einsicht in die Vielfalt der Situationen, der Fragen und Probleme, denen sie sich stellen mußten, auf die sie nicht vorbereitet waren, in die sie hineingestellt wurden und nicht hineingewachsen sind. Systematisiert man die Problemfelder, so sind es verglichen mit der Situation in der DDR zumindest diese:
- Pluralisierung der Lebenslagen contra Konformität und Annäherung der Klassen und Schichten;
- Individualisierung der Lebenssituation contra Kollektivismus und gesellschaftlich bestimmte Normalbiographie, in der selbstverantwortete Entscheidungen und Ziele durch vermittelte Werte und Ideale, durch vorgegebene Beziehungen und ständige pädagogische Einflußnahme und Handlungsorientierungen ersetzt wurden;
- eine geschlechtsspezifisch gespaltene Lebens- und Arbeitswelt contra staatlich verordnete Gleichheit der Geschlechter, bei der die Zugehörigkeit zu einer Partei oder Massenorganisation bedeutsamer war als die Geschlechtszugehörigkeit. Wobei anzumerken bleibt, daß der sogenannte "heimliche Lehrplan", die männlichen "Qualitäten" als Maß aller Dinge, in der DDR ebenso wirkte wie in der BRD. Diese Kritik mögen Leser/innen nicht der Autorin anlasten, sondern dies belegen inzwischen Untersuchungen des Deutschen Jugendinstitutes und andere.

 
           
 
 
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