Das Lebenskonzept war damit klar: Schulische
Ausbildung, vielleicht das Abitur - wenn man den richtigen Leistungsdurchschnitt
oder die richtige Herkunftsfamilie (Arbeiter) oder einen bevorzugten
Berufswunsch (z. B. Armee, Lehrer) hatte; Berufsausbildung oder
Studium; heiraten vielleicht; Kinder auf jeden Fall; Berufstätigkeit,
möglichst lange im selben Betrieb; bescheidener Wohlstand,
im Sommer eine FDGB-Reise, Trabi oder Wartburg ...
Gleiche Normalbiographie für alle -
Durchschnitt, Mittelmaß. So jedenfalls empfanden es all
die, die für sich eigene Lebensstile, Freiräume, Individualität
nicht nur im Privaten, sondern in den offiziell bestimmten Lebensräumen
suchten.
Allzu häufig wurden sie diszipliniert
("... das Kollektiv hat immer recht ..."), manchmal
isoliert oder aus Institutionen verwiesen. Vielen, die Kinder
in ihrer Entwicklung führten, begleiteten, fehlte es an Einsicht
in den eigenständigen Wert von Kindheit, in die Unumgänglichkeit
von Konflikten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
Toleranz, personale Solidarität, Selbstbestimmung wurden
im besten Falle vermittelt, nicht gelebt. Widersprüche, Infragestellungen,
Widerspruch im Umgang mit der Gesellschaft ließ die herrschende
Ideologie nicht zu. Heute - 1992 - sind beide, Erwachsene wie
Heranwachsende, überfordert von den Umbrüchen, Konflikten,
vom Wandel der sozialen Werte. Die Älteren versuchen zurechtzukommen,
sich einzurichten, die Jungen umzugehen mit der neuen Freiheit,
mit den Ängsten, wenn sich alles auf dramatische Weise ändert.
Beide sind Suchende.
All das hatten wir Ende 1989 - Anfang 1990,
als wir Aufsätze, Wandzeitungen, Plakate, Losungen von Kindern
als Belege ihrer Reaktionen auf die friedliche Revolution zu sammeln
begannen, so differenziert nicht im Blick. Bewußt war uns,
daß wir es mit einem einmaligen biographischen Hintergrund
zu tun haben, von dem die Heranwachsenden in ganz besonderer Weise
betroffen sind. Auch wußten wir aus dem Beispiel anderer
Untersuchungen, daß die Nichtbewältigung der Probleme
zu Brüchen, ja Deformierungen in der Entwicklung führen
kann. Deshalb war es ein Ziel, ein Anliegen der kleinen Sammlung,
die wir zusammengetragen haben, Verständnis zu wecken für
die Situation der Kinder, ihre Hoffnungen und Erwartungen an die
Zukunft.
Zunächst aber waren auch wir beeindruckt
von der Aufbruchsstimmung, den Phantasien, Zukunftserwartungen
und den Hoffnungen des Novembers 1989. Von Beginn der Demonstrationen
an waren die Kinder mit dabei, mit hoher Bereitschaft, Vorschläge
zu machen, Ideen zu entwickeln, zu verändern:
"Wir wollen mitbestimmen, was aus unserer Schule wird, und
es nicht den Erwachsenen allein überlassen," schrieb
ein Mädchen (zwölf Jahre) an die Redaktion der Pionierzeitung
"Trommel". In der Schülerzeitung forderten andere:
"Gesellschaftskunde statt Staatsbürgerkunde, vor der
Stunde keine Meldungen, keinen Fahnenappell, besseres Schulessen,
Umweltstunde bzw. Wandzeitungen für Schülermeinungen".
Vielerorts bildeten sich Schülerräte, Kinderräte
oder andere Formen der Mitbestimmung wie Kiezzeitungen, Flugblätter,
Wandzeitungen Es entstand so etwas wie eine eigene politische
Kultur der Kinder, nahe an der der Erwachsenen, aber mit eigenen
Sprüchen, Losungen und Forderungen.
In diese aus heutiger Sicht geradezu euphorische
Stimmung mischte sich bereits erste Besorgnis über den Realitätssinn
der Ideen, über die mögliche Leere und Enttäuschung
nach soviel Hoffnung und Erwartungshaltung. In dem Maße,
wie die Veränderungen in der DDR weniger Angelegenheit der
demokratischen Bewegung als die der Parteien wurden, wurden die
Mädchen und Jungen an den Rand des Geschehens gedrängt,
auf ihre Fragen nicht geantwortet, ihre Stimme nicht gehört.
Bereits im Verlaufe des ersten Halbjahres 1990 wurden die Ängste
und Sorgen der Kinder deutlich: um die Arbeitsgemeinschaften in
den Schulen, die Freizeiteinrichtungen und Ferienlager, um die
zukünftige Lehrstelle.
Von diesen Prozessen fühlten sich die
Mädchen stärker belastet als die Jungen. Sie fürchteten
die Zunahme von Egoismus in den Beziehungen, die "Ellenbogengesellschaft",
Aggressivität und Gewalt, Arbeitslosigkeit, sie sahen pessimistischer
in die Zukunft. Alles, was die Sicherheit, das "Geborgensein"
im Alltag der Heranwachsenden ausmachte, wollten diese nur verbessern,
flexibler, offener gestalten - nicht aufheben, auflösen.
"Das geht den Bach runter", wurde zu einer immer häufiger
gebrauchten Redewendung des Jahres 1990. Hoffnung und Euphorie
wichen der Enttäuschung und Orientierungslosigkeit.
Genau dieser
Logik folgt auch die Dokumentation, dem Zeitverlauf, dem Wechselbad
der Gefühle, das die Mädchen und Jungen, wenig unterstützt
durch die Erwachsenen, durchliefen. Ihre Berichte sind nur eine
unzureichende Einsicht in die Vielfalt der Situationen, der Fragen
und Probleme, denen sie sich stellen mußten, auf die sie
nicht vorbereitet waren, in die sie hineingestellt wurden und
nicht hineingewachsen sind. Systematisiert man die Problemfelder,
so sind es verglichen mit der Situation in der DDR zumindest diese:
- Pluralisierung der Lebenslagen contra Konformität und Annäherung
der Klassen und Schichten;
- Individualisierung der Lebenssituation contra Kollektivismus
und gesellschaftlich bestimmte Normalbiographie, in der selbstverantwortete
Entscheidungen und Ziele durch vermittelte Werte und Ideale, durch
vorgegebene Beziehungen und ständige pädagogische Einflußnahme
und Handlungsorientierungen ersetzt wurden;
- eine geschlechtsspezifisch gespaltene Lebens- und Arbeitswelt
contra staatlich verordnete Gleichheit der Geschlechter, bei der
die Zugehörigkeit zu einer Partei oder Massenorganisation
bedeutsamer war als die Geschlechtszugehörigkeit. Wobei anzumerken
bleibt, daß der sogenannte "heimliche Lehrplan",
die männlichen "Qualitäten" als Maß
aller Dinge, in der DDR ebenso wirkte wie in der BRD. Diese Kritik
mögen Leser/innen nicht der Autorin anlasten, sondern dies
belegen inzwischen Untersuchungen des Deutschen Jugendinstitutes
und andere.