Es hat sich etwas verändert
Texte von
Kindern nach einer Umfrage in den 5. Klassen einer Schule im Stadtbezirk
Prenzlauer Berg
Es hat sich sehr viel geändert. Zum Beispiel dürfen
wir unsere eigene Meinung sagen und kriegen sie nicht aufgebrummt.
Die Lehrer sind auch viel netter geworden. Sie gestalten den Unterricht
auch mehr. Zum Beispiel machen wir in Lite einen Stuhlkreis.
Jetzt dürfen wir unsere Meinung sagen,
z. B. Honecker ist bescheuert. Vorher kam man gleich ins Heim.
Sogar unsere Sportlehrerin hat jetzt coole
Sprüche auf Lager.
Der Unterricht ist nicht mehr so knallhart,
sondern schön locker.
Wir haben die Tische anders gestellt und
Kurzvorträge gemacht über AIDS, Drogen und Behinderung.
Wir machen oft einen Stuhlkreis. Der Direktor hat sich auch geändert.
Wir haben einen neuen Direktor bekommen.
Er erlaubt, daß wir zu einer Demo gehen durften. Er hat
mit uns eine neue Schulordnung entworfen und wir alle haben eine
Wandzeitung mit unseren Meinungen und Problemen gestaltet.
Vor der Wende war der Unterricht straffer.
Es gab die Meldung, die ich nicht sehr originell fand. Wie beim
Militär. Die Lehrer waren viel strenger, ich finde, durch
die Wende hat sich der Unterricht gelockert, als ob sie sich erleichtert
fühlen würden.
Wenn ich früher mit einem Comic gekommen
bin, bekam ich entweder eine "nette" Aufforderung, es
wegzupacken, oder ich hatte wieder eins weniger. Komme ich jetzt
mit der "Bravo" an, habe ich keine Schwierigkeiten mit
den Lehrern. Also kann ich sagen, es ist ungezwungener geworden.
Dafür gibt es noch andere Beispiele. Früher stand man
stramm vor dem Unterricht. Vorne war einer, der uns wie Puppen
behandelte, die man in die gewünschte Form bringen konnte.
Endlich wurde damit aufgehört und sieh, es geht auch so.
Oder noch ein Beispiel: Wir gleichen uns
immer mehr dem Westen an. Z. B. wird fast nur noch aus Büchsen
getrunken, die Lehrer sind wie drüben viel lockerer, und
unsere neueste Errungenschaft: der Lehrerstreik. Doch irgendwie
hatten wir (?) größeren Nutzen an dem Streik. Ein letztes
Beispiel, das auch höchst erfreulich ist: Die früheren
Genossen wie Frau ... werden zum Organisator großer Kundgebungen.
Dieser Sinneswandel um 360° ist natürlich sehr positiv
und auch die Schüler erleben an der eigenen Schule Geschichte.
Meine Gedanken, Wünsche
und Träume zu den Veränderungen in unserem Land
... Ich wünsche mir, daß die
Stasi abgeschafft wird oder Stasi in die Volkswirtschaft.
Meine Eltern reden fast jeden Abend von
40 Jahren Ausbeutung oder daß sie ihre Arbeit verlieren.
In der Schule haben sie Veränderungen
vorgenommen: Keine Hausschuhe mehr und Musik in den Pausen. Es
sollte Fanta, Coca Cola und Sprite oder sowas verkauft werden
und nicht Fruchtkakao und Vollmilch. In unserem Land ist die Wirtschaft
am Boden. Leipzig ist total dreckig. Meine Schwester ist egal
krank. Ich will, daß in den Kindergärten viel Obst
verteilt wird für die Kleinen. Aber am meisten hat mich die
Wahl verärgert. Da flog ein Hubschrauber und warf Flugblätter
herunter. Leipzig ist dreckig genug. Wir werden weitersehen nach
den Wahlen ...
Junge, 11 Jahre, Leipzig
Es fing letztes Jahr im August an, als alle
rüber gingen. Aber ich wollte nicht in den Westen. Hier hatte
ich meine Freunde, mein Zuhause und meine gewohnte Umgebung. Und
dazu kam auch noch, daß Honecker und die anderen gemeine
Hunde waren. Da war ich ganz fertig. Inzwischen war ich schon
dreimal drüben. Ganz schön und gut vom Einkaufen und
der Umgebung, aber hier ist mein Zuhause. Manchmal träume
ich von den alten Zeiten, aber auch da hat es mir nicht gefallen.
Es gibt bei mir Zeiten, da weiß ich selbst nicht, was mir
gefällt und was nicht.
Mädchen, 12 Jahre, Neubrandenburg
Die vielen Veränderungen in unserem
Land haben in meiner Familie viel Streit und Meinungsverschiedenheiten
hervorgerufen. Es ging meist um Politik und darum, welche Partei
man wählt. Das sind sicherlich wichtige Dinge, aber die Probleme,
die uns Kinder betreffen, werden sehr selten oder gar nicht besprochen.
Deshalb bin ich froh, daß jetzt auch mal nach unserer Meinung
zu den Themen, die uns betreffen, gefragt wird. Ich habe ein paar
Vorstellungen dazu, was in der Schule verändert werden könnte.
Man könnte meiner Meinung nach zum Beispiel die Meldung weglassen.
Es wäre besser, wenn der Lehrer in die Klasse kommt, die
Schüler begrüßt und dann gleich mit dem Unterricht
beginnen würde. Auch ein Morgenlied muß nicht sein.
Weiterhin müßten die schriftlichen Hausaufgaben wegfallen.
Ich würde mir auch wünschen, daß alle drei Fremdsprachen
freiwillig sind, aber eine muß gemacht werden. Die Lehrer
sollten nicht so schnell Einträge geben. Erst wenn dreimal
in demselben Fach etwas vergessen wurde, dann müßte
es einen Eintrag geben. Weiterhin würde ich mir wünschen,
daß sich alle Lehrer bemühen, den Unterricht so interessant
wie möglich zu gestalten. Es wäre auch schön, wenn
alle Räume in der Schulzeit offen sind. So kann man sich
länger vorbereiten. Ich wäre auch froh, wenn das Verhalten
zwischen Lehrern und Schülern etwas entspannter wäre.
So sehen meine persönlichen Wünsche und Gedanken aus.
Ich würde mich freuen, wenn diese verwirklicht würden.
Junge, 12 Jahre
Ich fühle mich oft allein gelassen.
Ich bin der Meinung, unsere Interessen werden zu wenig vertreten,
oder sagen wir, wir merken nicht viel davon. Ich habe Angst um
meinen Job. Ich will Lehrer werden für die Unterstufe, bisher
war alles klar, 10. Klasse Abschluß und dann aufs Institut
für Lehrerbildung. Aber jetzt heißt das, eventuell
Erweiterte Oberschule oder so. Ich habe Angst, daß sie mich
mit meiner "Allgemeinbildung" nicht annehmen. Oder zu
Hause! Meine Eltern zanken sich oft wegen der Wende. Wie man so
sagt: "Zwei Unverbesserliche!" Zwei verschiedene Meinungen,
die da aneinanderprallen, und keiner gibt nach. Meine Schwester
und ich haben manchmal Angst, daß sich meine Eltern scheiden
lassen. Das klingt vielleicht absurd, aber es ist so: Durch die
Wende haben wir viele Probleme gekriegt, sowohl zu Hause, als
auch in der Schule, und mit keinem kann man sich aussprechen.
Mädchen, 14 Jahre, Greifswald
Die Wende, ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Deutschen;
für mich, bis jetzt in meinem Leben, das größte
gesellschaftliche Ereignis. Noch vor einem Jahr hätte ich
mir nicht vorstellen könne, daß es bei uns eine Revolution
geben wird, daß die deutsche Wiedervereinigung zum Brennpunkt
des Geschehens in Europa und in der Welt wird. Natürlich
gab es Gedanken um das Leben in unserem Land. Man hatte so seine
Vorstellungen, wie unserer Gesellschaft aussehen müßte.
Dabei stellte ich aber eigentlich nie den Sozialismus als Gesellschaftsordnung
in Frage. Deshalb kann ich mich jetzt auch nur schwer mir dem
Gedanken auseinandersetzen, daß viele Leute in unserem Land
den Sozialismus ablehnen. Vielleicht liegt es daran, daß
ich im Sozialismus aufgewachsen bin, einfach nichts anderes kenne.
Es gab zu wenig Möglichkeiten, andere Systeme kennenzulernen.
Dann im Herbst `89 gab es die Revolution, und für mich stand
die Welt auf einmal auf dem Kopf. Alles, was bisher als richtig
betrachtet wurde, geriet jetzt in Zweifel und damit auch mir anerzogene
oder eigene Ansichten. Sicher, ich war froh, daß man jetzt
endlich die Freiheit besaß, alles, was man dachte und fühlte,
zu sagen. Aber diese Ungewißheit und das Durcheinander,
das einem jeden Tag begegnete, machte es mir nicht leicht, mich
in dieser neuen Situation zurechtzufinden. Schließlich war
man bisher an einen "geraden" Lebensweg gewöhnt.
Mädchen, 17 Jahre, Demmin
Natürlich bin ich für den Frieden,
aber "Immer bereit" stand für die Pionierorganisation.
Oder etwa nicht? Denn die Pionierorganisation war doch nicht für
Meinungsfreiheit. Durften wir denn unsere Meinung sagen?! Waren
wir nicht in der Pionierorganisation, so wurde man öfter
benachteiligt. Oder etwa nicht?! Warum lassen unsere Lehrer dieses
"Immer bereit" jetzt weg! Ich bin "Immer bereit"
für den Frieden, und meine Meinung will ich auch sagen. Aber
nicht "immer bereit" für die Pionierorganisation
...
Mädchen, 11 Jahre
... meine christliche Freundin war bei allen
Veranstaltungen gern gesehen. Sie braucht aber ihre Weltanschauung
nicht verändern, meine ist ganz schön ins Wanken geraten
...
Mädchen, 12 Jahre
Ich möchte
mich nun mit einem Problem an Euch wenden und erbitte mir Antwort.
Ich möchte Euch mein Problem schildern. Unsere Pionierleiterin
ließ uns über unsere Klassenlehrerin ohne jede Begründung
mitteilen, daß sich jeder entscheiden sollte, ob er in der
Pionierorganisation bleiben will oder nicht. Alle aus meiner Klasse
sind ausgetreten, einfach so, ohne jeden Grund. Nur ich nicht
und unser Gruppenratsvorsitzender. Aber er weiß noch nichts
von dem, denn er ist zur Zeit in der Pionierrepublik. Ich habe
mit unserer Klassenleiterin gesprochen und sie gefragt, warum
wir jetzt so plötzlich gefragt wurden und was wäre,
wenn wir ausgetreten sind, ob es noch andere Organisationen geben
wird. Sie konnte mir keine klare Antwort geben. Aber sie riet
mir auszutreten. Sie sagte nur: "Sicher wird es andere Organisationen
geben. Das wird natürlich noch dauern. Aber spätestens
in der FDJ hättest Du bemerkt, daß es nicht das Gelbe
vom Ei ist." Ich war sehr enttäuscht.
Mädchen, 12 Jahre
© Gudrun Leidecker, 1993